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BEHANDLUNG DES KLEINWUCHSES –
WACHSTUMSHORMON HEUTE

Krankenkassen übernehmen zur Zeit die Kosten für die Behandlung mit Wachstumshormonen (HUMATROPE, SAIZEN u.a.) bei hypothalamo-hypophysärem Kleinwuchs aufgrund eines Wachstumshormonmangels und bei ULLRICH-TURNER-Syndrom. Voraussetzung ist ein nachgewiesener Mangel an Wachstumshormon (WH) unter 10 ng/ml* in mindestens zwei Provokationstests (Insulin-induzierte Hypoglykämie, Arginin- Belastung, L-Dopa-, Clonidintest), Wachstumsgeschwindigkeit unterhalb der 25. Perzentile der Altersnorm und retardiertes Knochenalter. Der Nachweis eines erniedrigten IGF-I und des IGF-Bindungsproteins 3 als Mediatoren des Wachstumshormons scheint sich als weiteres Diagnosekriterium zu etablieren. Vor Behandlungsbeginn ist computertomografisch ein Hypophysentumor auszuschließen. Beim ULLRICH-TURNER-Syndrom ist die Diagnose durch Chromosomenanalyse zu sichern. Patienten mit Mosaikform und Y-Chromosom müssen vor Therapiebeginn gonadektomiert werden. Es wird versucht, den relativ kleinen Bedarf für Wachstumshormone auf andere Indikationsgebiete (konstitutionelle Wachstumsverzögerung [KEV], Zustand nach Medulloblastomentfernung, Nierenversagen) auszudehnen.1

*

Wegen unterschiedlicher Methoden der Wachstumshormonbestimmung werden auch abweichende Werte angegeben.


WIRKUNG: Rekombinant hergestelltes Somatotropin steigert die Protein- und Nukleinsäuresynthese und damit das IGF-I und schließlich das Wachstum der knorpeligen Wachstumszonen der Röhrenknochen bei hypophysärem Minderwuchs. Aufgrund des fehlenden X-Chromosoms unterbleibt beim ULLRICH-TURNER-Syndrom der Östrogenanstieg während der Pubertät und dadurch die Stimulation des Wachstumshormons.

KLINISCHE STUDIEN: In einer deutschen Multicenterstudie an 77 Kindern mit nachgewiesenem WH-Mangel wurde unter der Behandlung mit rekombinantem Wachstumshormon eine Verdreifachung der Wachstumsgeschwindigkeit beobachtet (von 3,4 auf 10,4 cm/Jahr).4 In internationalen Untersuchungen erhielten 194 Kinder rekombinantes WH. Pubertäre Kinder sprechen vermutlich aufgrund der niedrigeren Wachstumspotenz schlechter auf die Behandlung an als präpubertäre. Außerdem bestand eine direkte Korrelation der Wachstumsgeschwindigkeit zur Wochendosis und zur Anzahl der wöchentlichen Applikationen.5

Angestrebt wird eine Zielgröße, die sich an der Körpergröße der Eltern orientiert. Durch Therapie mit WH können die Kinder nicht größer als ihre genetisch vorbestimmte Körpergröße werden. Allerdings gibt es Therapieversager, ohne daß sich voraussagen ließe, wer anspricht und wer nicht. Ebenso kann eine geringere Endgröße als ohne WH-Therapie erreicht werden.

In verschiedenen Studien an Mädchen mit ULLRICH-TURNER-Syndrom vergrößerte rekombinantes WH die Wachstumsgeschwindigkeit mit einer höheren Endgröße (152 cm zu 143 cm).6 Beim jetzigen Kenntnisstand gilt die Therapie als experimentell,9 da kontrollierte prospektive Studien zu Nutzen und Risiken fehlen.

Kinder ohne Wachstumshormonmangel wachsen nach heutiger Kenntnis durch WH schneller. Ob sie jedoch auch die gewünschte Endgröße erreichen, ist fraglich. Plazebokontrollierte Untersuchungen an kleinwüchsigen Kindern ohne klassischen Wachstumshormonmangel (TURNER-Syndrom, Minderwuchs) wie die der NIH (National Institutes of Health)-Studie in den USA stehen in der Kritik: Die belastenden Faktoren in der Plazebogruppe (Röntgenaufnahmen, Plazeboinjektionen, regelmäßige körperliche Untersuchungen, psychische Komponente, als "zu klein" angesehen zu werden) können Streß auslösen, der wiederum ein Wachstumsstimulator ist und die Aussagefähigkeit der Studie einschränkt.7 Die Studie wird jetzt jedoch fortgesetzt.8

BEHANDLUNGSDAUER: Die kontinuierliche Behandlung von Diagnosestellung bis zum Schluß der Epiphysenfugen hat sich bewährt. Je früher begonnen wird, desto besser ist die Endgröße. Für das ULLRICH-TURNER-Syndrom gibt es Hinweise auf Gegenteiliges: Je später der Behandlungsbeginn, desto besser scheint die Prognose zu sein. Eine Unterbrechung der Behandlung kann vorschnelles Wachstum mit vorzeitigem Wachstumsstopp fördern.

DOSIERUNG: Wachstumshormon wird per "Pen" täglich subkutan injiziert, bei Kleinwuchs 0,5 bis 0,7 IE/kg Körpergewicht (KG)/Woche, beim ULLRICH-TURNER-Syndrom 1,0 IE/kg KG/Woche.

KONTRAINDIKATIONEN: Wachstumshormonmangel kann frühes Anzeichen eines Hirntumors sein. Besteht eine Tumorerkrankung oder liegen Anzeichen einer Tumoraktivität vor, verbietet sich die Behandlung mit Wachstumshormonen aufgrund des möglichen positiven Effekts auf das Tumorwachstum (vgl. a-t 9 [1992], 94). Diabetes mellitus erfordert wegen der erhöhten Hypoglykämieneigung engmaschige Überwachung.

NEBENWIRKUNGEN: Lokale Irritationen wie Hautrötung, Schmerzen, Jucken, Fettgewebsschwund und Ödeme werden angegeben, die nach Ende der Behandlung wieder rückläufig sind. Therapiemißerfolge werden mit Antikörperbildung in Verbindung gebracht. Durch den antagonistischen Effekt des Wachstumshormons auf Schilddrüsen- und Nebennierenrindenhormone und zum Insulin können Interferenzen auftreten. Das Risiko eines Typ-II-Diabetes wird erhöht. Aufgrund des in Zellkulturen nachgewiesenen fördernden Effekts auf das Zellwachstum und auf leukämische Blasten im Knochenmark wird ein erhöhtes Risiko für eine Leukämieentwicklung diskutiert (vgl. a-t 2 [1988], 23, 5 [1988], 47, 1 [1990], 7).

CREUTZFELDT-JAKOB-Erkrankungen unter einer Wachstumshormontherapie gehen auf Behandlungen mit dem nicht mehr erhältlichen Wachstumshormon aus Leichenhypophysen zurück (vgl. a-t 8 [1989], 75).2,3

FAZIT: Rekombinantes Wachstumshormon (HUMATROPE, SAIZEN u.a.) wirkt dem Minderwuchs bei nachgewiesenem Wachstumshormonmangel und beim ULLRICH-TURNER-Syndrom entgegen. Das Hormon wird täglich bis zum Schluß der Epiphysenfugen subkutan injiziert. Umstritten ist, ob durch die extrem teure Therapie (Kosten pro Patient und Jahr ca. 30.000 DM) nur soziale Normwerte erfüllt werden ("kleine Menschen sind weniger erfolgreich") oder ob tatsächlich eine Krankheit behandelt wird. Versuche der Indikationsausweitung bedürfen zur Rechtfertigung sorgfältige klinische Studien und Nutzen-Risiko-Kosten-Abwägungen.


© 1993 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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