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Im Blickpunkt

DEM ALTERN AUF DER SPUR
... eine Therapiehypothese auf dem Prüfstand

Reaktionsfreudige Radikale lassen Fette ranzig werden. Sie sollen dazu beitragen, daß wir altern,1 und bei über hundert Erkrankungen des Menschen – einschließlich ALZHEIMER, PARKINSON und Krebs – eine Rolle spielen.2

Freie Radikale, also Atome oder Moleküle, die ein oder mehrere ungepaarte Elektronen enthalten, entstehen bei zahlreichen natürlichen Prozessen – durch Einwirkung von Sauerstoff, Licht, Strahlung und bei enzymatischen Reaktionen. Das freie Elektron macht die Verbindung reaktionsfreudig. Zahlreiche toxische Reaktionen verlaufen über Radikale, so etwa Leberzellnekrosen durch Tetrachlorkohlenstoff oder Leberschäden nach Überdosen von Parazetamol (BENURON u.a.; a-t 12 [1984], 100).

Die besonders aggressiven Hydroxylradikale (OH·) reagieren gleich am Bildungsort weiter und lösen eine Radikal-Kettenreaktion aus. Superoxid, Sauerstoff mit freiem Elektron (O2·-), reagiert hingegen träger. Es entsteht im Körper zum Teil "gezielt", beispielsweise in Phagozyten zur Abtötung fremder Organismen. Bei chronischen Entzündungen kann sich dieser Schutzmechanismus in das Gegenteil verkehren, wenn die Bildung reaktiver Sauerstoff-Metaboliten aus dem Gleichgewicht gerät.

Der Körper besitzt verschiedene Abwehrmechanismen, die einen gewissen Schutz vor Schadwirkungen freier Radikale bieten. Hierzu gehören Enzyme wie die Superoxiddismutase, die Superoxid in Wasserstoffperoxid umwandelt. Peroxidasen wie die Selen-haltige Glutathionperoxidase machen das entstehende Wasserstoffperoxid unschädlich. Reparaturenzyme reparieren geschädigte DNA???-Tokopherol (Vitamin E) fängt intermediär entstehende Peroxidradikale ab und blockiert so toxische Reaktionen wie die Lipidperoxidation.1

Die körpereigene antioxidative Abwehr kann überfordert sein, vor allem wenn die Bildung freier Radikale krankheitsbedingt – etwa als Folge von Infektionen, Ischämien, Strahlung, Toxinen u.a. – oder mit dem Alter zunimmt und gleichzeitig Abwehr- und Reparaturmechanismen geschwächt sind.1 Die Zunahme freier Radikale im Organismus ("oxidativer Streß") soll Folgeschäden auslösen. Der Versuch, Krankheitsprozesse medikamentös durch Antioxidantien bzw. Radikalfänger aufzuhalten oder zu steuern, erscheint zwar plausibel, war aber bisher klinisch ohne Nutzen. Die Werbung versucht indes, Hypothesen als Tatsachen zu verkaufen ("Schachmatt für freie Radikale" [ANTOXID], "Schutzschild für die Zellen" [VIVAVIT E]).

Ein klinischer Nutzen der aus Rinderleber gewonnenen Superoxiddismutase (Orgotein, PEROXINORM) bei entzündlichen rheumatischen Erkrankungen oder multipler Sklerose läßt sich nicht hinreichend belegen. Wegen tödlicher Fremdeiweißreaktionen kam das Enzym vom Markt (a-t 2 [1994], 23).

In der Chirurgie findet die "Radikalfängerei" eine praktische Nutzanwendung – etwa um mit der Reperfusion von Transplantaten verbundene Gewebeschäden aufzuhalten: Das Ergebnis von Organverpflanzungen läßt sich verbessern, wenn das Organ in Antioxidantien-haltigen Lösungen aufbewahrt wird.8 Mit dem Xanthinoxidasehemmstoff Allopurinol "konservierte" Nierentransplantate haben beim Empfänger eine bessere Nierenleistung im Vergleich zu anderen Frischhaltelösungen.

Was bringen Antioxidantien in der Nahrung?2

Vitamin E (gilt als wichtiges Antioxidans)
Tokopherol; hemmt Lipidperoxidation, soll vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützen.

Vitamin C (gilt allgemein als wichtiges Antioxidans)
Askorbinsäure; essentiell für verschiedene Stoffwechselfunktionen. Hemmt im Magen die Nitrosamin-Kanzerogenität durch Reduktion dieser Verbindungen. Unterstützt wahrscheinlich Tokopherol bei Hemmung der Lipidperoxidation. Soll in Atemwegen zur Entgiftung oxidierender Luftschadstoffe wie Ozon und freie Radikale aus Zigarettenrauch beitragen. Kann in Hochdosen beim Tier niedrigere Glutathion-Spiegel teilweise kompensieren. Mischung mit Eisen oder Kupfer kann indes in vitro oxidative Schädigung beschleunigen. Vitamin-C-Mangel gilt es zu vermeiden. Megadosen sind jedoch vor allem für Kranke und alte Menschen mit ihren bisweilen hohen Eisenspeichern nicht zu empfehlen.

β-Karotin, andere Karotinoide und verwandte Pflanzenfarbstoffe (wahrscheinlich von Bedeutung, jedoch nicht unbedingt als Antioxidantien)
Fragliche Hinweise auf verringertes Risiko von Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, vor allem bei Rauchern. Die klinische Relevanz der für zahlreiche Karotinoide in vitro festgestellten antioxidativen Effekte bleibt zu klären.

Flavonoide und andere pflanzliche Phenole (möglicherweise von Bedeutung)
Viele Phenolverbindungen pflanzlichen Ursprungs wie Flavonoide hemmen in vitro Lipidperoxidation und Lipoxygenase. Wie für Askorbinsäure sind in Verbindung mit Eisenionen in vitro pro-oxidative Effekte beschrieben. Ausmaß von Absorption und antioxidativen Effekten in vivo ist unbekannt. Flavonoide wirken auffällig häufig immunogen (a-t 8 [1986], 72).

Im Versuch am Katzendarm lassen sich postischämische Schäden mindern, wenn vor der Reperfusion Superoxiddismutase zugeführt wird. Übertragen auf andere Anwendungen bleibt der erwartete Erfolg aus: Rekombinante Superoxiddismutase verbessert bei akutem Myokardinfarkt nicht die Kammerfunktion bei Personen nach Koronarangioplastie. Offensichtlich ist hier das therapeutische Fenster zu klein – die Schädigung durch die Ischämie zu groß und der durch Antioxidantien beeinflußbare Anteil des Schadens bei der Reperfusion zu gering. Bei zerebraler Ischämie sind die Voraussetzungen möglicherweise besser.8

Tirilazad (vorgesehenes Warenzeichen in den USA: FREEDOX), ein fettlöslicher Wirkstoff, der die Bluthirnschranke überwindet und als Radikalfänger angesehen wird, fördert im präklinischen Test das Überleben von Hirnzellen bei durchblutungsgeschädigten Ratten. In einer großen Multicenter-Studie an Patienten mit Subarachnoidalblutung soll das Mittel in der stärksten geprüften Dosis von täglich 6 mg/kg Körpergewicht die Mortalität senken und die Genesung fördern. In einer zweiten Studie bleiben diese Endpunkte indes unbeeinflußt. Nur bei Auswertung einer Subgruppe von Männern mit schwerer Schädigung läßt sich ein positiver Effekt auf die Sterblichkeit ableiten, doch gilt für die Beurteilung solcher nachträglichen Analysen von Subgruppen Zurückhaltung. Die bisherigen Daten reichen nach Ansicht der US- amerikanischen Arzneimittelbehörde im Sinne der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht aus.9 Wenig Aussicht auf Erfolg bietet die Anwendung von Tirilazad in der Akutphase der Behandlung von Schädelhirntraumen. Der Radikalfänger soll hier analog zu den Ergebnissen von Tierversuchen dem vasospastisch bedingten Hirnödem entgegenwirken.

Die Erkenntnisse zum Einfluß von Radikalen auf den Lipidstoffwechsel erscheinen ebenfalls vorläufig: Oxidative Veränderungen von Lipoproteinen sollen zur Entwicklung der Arteriosklerose beitragen ("Oxidations-Hypothese").4 Rotwein, der natürliche Antioxidantien enthält, gilt als eine Erklärung für das französische Paradox (fettreiche Ernährung und geringe Häufigkeit koronarer Herzerkrankungen) und zwischenzeitlich – in Maßen genossen – als "Geheimtip" zum Altwerden. Regelmäßiger Genuß senkt die LDL- Oxidation.7

Auch das antioxidativ wirkende Vitamin E hemmt in vitro die Oxidation von LDL. Es wird nicht nur als Mittel gegen Arteriosklerose erprobt, sondern auch zur Krebsprävention. Epidemiologische Studien deuten eine verringerte Sterblichkeit an Krebs von Lunge und Darm durch Vitamin E und ß-Karotin an.5 Eine generelle Empfehlung erscheint nicht begründbar: In einer großen finnischen Interventionsstudie verringert Vitamin E nicht das Risiko von primärem Lungenkrebs bei Rauchern. Gesamtmortalität und Risiko blutiger Hirninfarkte nehmen sogar zu.6

Der Ratschlag, sich "antioxidantienreich" mit Früchten, Gemüse und Vollkornprodukten zu ernähren, erscheint zwar plausibel und unbedenklich, um Auswirkungen kumulierender schädlicher Effekte von Radikalen zu verringern,2,4 beinhaltet derzeit jedoch mehr Hoffnungen als Fakten. Möglicherweise kommt dem Gleichgewicht verschiedener Antioxidantien Bedeutung zu.5

FAZIT: Freie Radikale sollen an Alterungsprozessen, der Entwicklung von Krebs, Herz-Kreislauf-, neurodegenerativen und chronisch-entzündlichen Erkrankungen beteiligt sein, ohne daß sich daraus Kausalketten und Interventionsstrategien ableiten lassen. Antioxidantien/Radikalfänger, die mit einer Mischkost einschließlich Gemüse, Getreideprodukten und Früchten aufgenommen werden, unterstützen möglicherweise die endogene antioxidative Abwehr.

Der Nutzen der vor allem in der Laienpresse propagierten Einnahme einzelner Antioxidantien wie Vitamin E bleibt zweifelhaft. Für bestimmte Nischenindikationen wie ischämischer Hirninfarkt oder zur Aufbewahrung von Transplantaten zeichnet sich in der klinischen Forschung nach vorläufigen Ergebnissen ein Nutzen für antioxidativ wirkende Stoffe verschiedener Herkunft ab. Wirksame und unbedenkliche Handelspräparate stehen für die Behandlung derzeit nicht zur Verfügung.


© 1994 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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