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Im Blickpunkt

VORSICHT: TRYPTOPHAN (KALMA U.A.)
PER GERICHTSBESCHLUSS WIEDER IM HANDEL

Vor sieben Jahren erkrankten in den USA über 1.500 und in der Bundesrepublik Deutschland etwa 500 Personen an heftigen Muskelschmerzen mit Anstieg der eosinophilen weißen Blutkörperchen, dem sonst seltenen Eosinophilie-Myalgie-Syndrom (EMS; a-t 12 [1989], 116; 8 [1990], 75; 5 [1991], 47). Oft folgten sklerodermieartige Hautveränderungen und fortschreitende entzündliche Schäden des Muskel- und Nervensystems. Praktisch jedes Organ kann befallen sein. Als Auslöser des innerhalb weniger Monate1 potentiell tödlich verlaufenden EMS erwies sich das als Schlafmittel und Antidepressivum rezeptfrei angebotene L-Tryptophan (KALMA u.a.).2 Tryptophan ist eine essentielle Aminosäure, von der wir üblicherweise täglich etwa 0,5 bis 2 g mit der Nahrung aufnehmen. Ursächlich wurden Verunreinigungen des vom japanischen Hersteller Showa Denko gelieferten Rohmaterials angeschuldigt,3 eine Erklärung, die dem epidemieartigen Ausbruch der Erkrankung entgegenkommt. Unter dutzenden Verunreinigungen fallen zwei Verbindungen besonders auf: ein Tryptophan-Doppelmolekül ("Peak E"), das in der Zellkultur die Kollagensynthese stimuliert,4 sowie ein Anilinabkömmling ("UV-Peak 5"), der eine Verbindung zur Massenvergiftung mit ähnlichem Krankheitsbild durch anilinvergälltes Rapsöl 1981 in Spanien ("Giftöl-Syndrom") andeutete.5 Der Vertrieb L-Tryptophan-haltiger Arzneimittel wurde 1989/1990 gestoppt.

Pharmazeutische Unternehmen in Deutschland klagten gegen das Verbot, weil auch Produkte betroffen waren, die angeblich nicht mit Rohstoff von Showa Denko hergestellt waren. Diese Argumentation bleibt fragwürdig:

  • Bereits Jahre bevor Showa Denko auf ein neues gentechnisches Produktionsverfahren umgestellt hat, erkrankten L-Tryptophan-Verwender an EMS.6,7 Anfänglich lautete die Diagnose oft "eosinophile Fasziitis".6
  • Bis zu 5% der Betroffenen hatten keine Tabletten mit dem als verunreinigt geltenden Rohstoff eingenommen.5,9
  • Im Tierversuch lassen sich EMS-artige Symptome auch mit nicht verunreinigtem Tryptophan auslösen.8
  • Eosinophilie bzw. EMS treten auch in Verbindung mit Abkömmlingen von L-Tryptophan wie 5-Hydroxytryptophan (LEVOTHYM; a-t 2 [1992], 23) auf, das aus pflanzlichem Rohstoff gewonnen wird (a-t 1 [1990], 8).9-12 Eine sklerodermieartige Erkrankung wurde für Hydroxytryptophan bereits 1980 beschrieben.13

Ein EMS entsteht somit nicht nur durch das beanstandete Showa-Denko-Tryptophan. Dennoch folgt das Berliner Verwaltungsgericht der Verunreinigungshypothese der pharmazeutischen Unternehmen und sieht "keine ernstzunehmenden Indizien für einen Kausalzusammenhang" zwischen "Peak-E-freiem" L-Tryptophan und EMS.14 Dank des gerichtlichen "Persilscheins" darf die Aminosäure wieder auf den Markt (a-t 3 [1993], 26). Seit einigen Wochen bieten Firmen wie Ardeypharm und Fresenius L-Tryptophan (ARDEYTROPIN, KALMA) rezeptfrei zur Behandlung von Depressionen bzw. Schlafstörungen an (Werbung: "KALMA fördert physiologisch die Schlafqualität").15 In den neuen Beipackzetteln fehlt jeglicher Hinweis auf EMS. Die Wirksamkeit von L-Tryptophan zur Behandlung von Schlafstörungen oder Depressionen ist bis heute nicht durch aussagekräftige kontrollierte Studien belegt.

Die Berliner Verwaltungsgerichte kehrten bereits wiederholt den Grundtenor des CONTERGAN-Einstellungsbeschlusses* zu Lasten der Patienten um, eine Urteilspraxis, die im Falle des angeblichen Knorpelschutzmittels ARTEPARON zwei Patienten das Leben kostete (a-t 3 [1993], 26).16 Auch für den Knorpelknochenmarkextrakt ARUMALON setzten die Berliner Verwaltungsgerichte die Verbotsverfügung des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes (BGA) aus,17,18 obwohl das "Chondroprotektivum" zweifelsfrei immunogen wirkt (Dermatomyositis, Alveolitis, nephrotisches Syndrom u.a.; a-t 5 [1992], 48; 6 [1992], 59) und durch die Aufbereitungskommission des BGA negativ beurteilt wurde.

FAZIT: Die Welle von Eosinophilie-Myalgie-Erkrankungen (EMS) in Verbindung mit der Einnahme von Tryptophan vor sieben Jahren läßt sich nur bei oberflächlicher Betrachtung allein mit der Verunreinigungshypothese erklären. Deshalb bedeutet die gerichtlich durchgesetzte Wiederzulassung von Tryptophan eine Gefährdung des Verbrauchers, die nicht durch einen besonderen Nutzen der jetzt wieder rezeptfrei** gegen Depression und Schlafstörungen angebotenen Aminosäure (ARDEYTROPIN, KALMA) aufgewogen wird.

*

Weil die Gesundheit des Verbrauchers Vorrang vor dem Vermarktungsinteresse des Herstellers hat, erfordert bereits der begründete Verdacht Maßnahmen zur Risikoabwehr.

**

Voraussichtlich ab Januar 1997 zur Therapie von Depressionen verschreibungspflichtig.


© 1996 arznei-telegramm

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