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Korrespondenz

ASS ZUR PRIMÄRPRÄVENTION BEI ALLEN DIABETIKERN?

In Leitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft wird Azetylsalizylsäure (ASPIRIN, Generika) zur Primärprophylaxe kardiovaskulärer Ereignisse bei Diabetikern empfohlen. Diabetes mellitus wird als KHK-Äquivalent gewertet. Gibt es aktuellere Evidenz zu diesem Thema und muss jeder Diabetiker ASS erhalten?

S. ERBACH (Arzt)
D-67549 Worms
Interessenkonflikt: keiner

Die Empfehlung, Diabetiker nach einem ischämischen Ereignis zur Sekundärprophylaxe mit Thrombozytenaggregationshemmern zu behandeln, ist unumstritten. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft weist darüber hinaus in der aktuellen Leitlinie zu medikamentösen Therapieprinzipien bei Diabetes mellitus recht unpräzise auf Angaben der "American Diabetes Association" hin, nach denen Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) auch "als Prävention für Patienten mit Diabetes mellitus primär einzusetzen" sei.1 Die zitierte US-amerikanische Leitlinie empfiehlt täglich 75 mg bis 162 mg ASS bei Diabetikern mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko.2,3 Hierzu gehören bereits ein Alter über 40 Jahre oder Risikofaktoren wie Rauchen, arterielle Hypertonie und familiäre Belastung.

Zur Begründung dienen u.a. epidemiologische Daten, nach denen das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bei Diabetes mellitus um das Zwei- bis Vierfache erhöht ist und somit etwa der Situation von Nichtdiabetikern nach einem ischämischen Ereignis entspricht.4 Zu dem hohen Risiko bei Diabetes mellitus soll unter anderem eine gestörte Plättchenfunktion beitragen. So werden Thromboxan A2 vermehrt, Prostazyklin und Stickstoffmonoxid (NO) in verringertem Maße gebildet.5

Daten aus Studien zur Primärprophylaxe beruhten bislang nur auf Subgruppenanalysen oder sekundären Auswertungen und stützen die Empfehlungen nicht: Von den 22.000 männlichen Ärzten, die in der Physicians' Health Study6 jeden zweiten Tag 325 mg ASS oder Plazebo einnehmen, sind nur 533 (2,4%) an Diabetes mellitus erkrankt. Die für diese Subgruppe errechnete und in Leitlinien1-3 hervorgehobene 60%ige Reduktion des Herzinfarktrisikos innerhalb von fünf Jahren wird ohne statistische Kalkulation angegeben. Ein besonderer Nutzen für Diabetiker wird in der offen durchgeführten Primary-Prevention-Project (PPP)-Studie7 nicht bestätigt. In ihr nehmen 4.500 Probanden mit einem oder mehreren kardiovaskulären Risikofaktoren täglich 100 mg ASS ein oder bleiben unbehandelt. Die Rate der kardiovaskulären Ereignisse wird bei den an Diabetes Erkrankten (23%) durch ASS nicht signifikant gesenkt (3,9% versus 4,3%). Die Studie hat jedoch keine ausreichende Power, da sie vorzeitig abgebrochen wurde und weniger Ereignisse auftraten als erwartet. Auch in der ETDR*-Studie8 führt die tägliche Einnahme von 650 mg ASS oder Plazebo bei 3.711 Diabetikern mit Zeichen einer frühen Retinopathie nicht zu einer signifikanten Senkung der Herzinfarkte (9,1% vs. 12,3%) oder kardiovaskulären Todesfälle (9,3% vs. 11,2%). Die Studie war jedoch primär auf den Verlauf der Retinopathie ausgerichtet.

Zwei aktuell veröffentlichte Studien untersuchen nun erstmals gezielt den Nutzen von ASS zur Primärprophylaxe bei Diabetes: In der offen durchgeführten randomisierten JPAD*-Studie9 nehmen 2.539 Patienten mit Typ-2-Diabetes ohne manifeste atherosklerotische Erkrankungen entweder ASS (täglich 81 mg oder 100 mg) ein oder bleiben unbehandelt. Nach einer medianen Beobachtungszeit von 4,4 Jahren zeigt sich kein signifikanter Einfluss auf den primären Endpunkt, eine Kombination aus allen atherosklerotischen Ereignissen** (5,4% versus 6,7%; Hazard Risiko [HR] 0,8; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,58-1,10). Unter den sekundär erfassten Endpunkten ist die Rate koronarer oder zerebrovaskulärer Todesfälle unter ASS zwar signifikant niedriger (0,1% vs. 0,8%), was jedoch bei der Vielzahl der prädefinierten sekundären Ereignisse zufällig bedingt sein kann. Gastrointestinale Blutungen nehmen zahlenmäßig unter ASS zu (12 vs. 4 Ereignisse). Die Studie gibt zwar keinen Hinweis auf einen primär prophylaktischen Nutzen von ASS bei Diabetikern, hat allerdings deutliche Einschränkungen: Nur etwa ein Drittel der ursprünglich erwarteten kardiovaskulären Ereignisse tritt im Studienverlauf auf, sodass die Power deutlich niedriger ist als ursprünglich geplant. Die in die Studie eingeschlossenen Patienten haben zudem möglicherweise ein geringeres Risiko als Typ-2-Diabetiker in Deutschland: Die bei Studienbeginn im Durchschnitt 65 Jahre alten japanischen Probanden weisen nach siebenjähriger Krankheitsdauer einen HbA1c von 7 auf, sind normgewichtig (durchschnittlicher Body Mass Index 24) und nehmen zum überwiegenden Teil nur ein Antidiabetikum ein.

Kein Nutzen ergibt sich auch in der POPADAD*-Studie10 (siehe auch Seite 123), an der 1.276 Diabetiker mit asymptomatischer peripherer arterieller Verschlusskrankheit teilnehmen. In dieser Arbeit werden in einem faktoriellen Design (siehe Titelseite) täglich 100 mg ASS sowie eine Mischung verschiedener Antioxidanzien mit Plazebo verglichen. Nach im Median 6,7 Jahren beeinflusst die Einnahme von ASS weder den primären Kombinationsendpunkt (Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Beinamputationen; 18,2% vs. 18,3%) noch die Rate der Todesfälle wegen Herzerkrankung oder Schlaganfall (zweiter primärer Endpunkt, 6,7% vs. 5,5%) signifikant. Auch Gesamtsterblichkeit (14,7% vs. 15,8%) und weitere sekundäre Endpunkte unterscheiden sich nicht.

Die derzeit vorliegende Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien kann daher eine generelle Primärprophylaxe mit ASS bei Diabetes mellitus nicht begründen. Die Behandlung ist zudem nicht risikofrei: Nach Daten aus Metaanalysen11,12 nehmen Blutungskomplikationen unter kontinuierlicher Einnahme von ASS dosisabhängig zu. Das Risiko für extrakranielle Blutungen steigt um das 1,6fache (Odds Ratio 1,6; 95% CI 1,4-1,8) und das Risiko für Hirnblutungen um das 1,2fache (RR 1,22; 95% CI 1,03-1,44,11 keine gesonderte Auswertung von Patienten mit Diabetes mellitus). Das Risiko steigt bei Tagesdosierungen über 100 mg.12

Aktuelle Leitlinien empfehlen die frühzeitige Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern bei Diabetes mellitus auch ohne Vorliegen manifester Gefäßerkrankungen.

Zur Begründung für dieses Vorgehen werden epidemiologische Daten aufgeführt.

Ergebnisse aus zwei aktuellen Studien mit Diabetikern ohne symptomatische Atherosklerose lassen keinen Nutzen der primärprophylakischen Einnahme von ASS erkennen. Eine generelle Empfehlung lässt sich daher nicht begründen. Bestehende Leitlinien müssen angesichts der neuen Datenlage überprüft werden.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
 1TSCHÖPE, D. et al.: Diagnostik und Therapie von Herzerkrankungen bei Diabetes mellitus; Stand Mai 2006; zu finden unter:
http://www.leitlinien.net –> Bestehende aktuelle Leitlinien –> Diabetes –> Herzerkrankungen bei Diabetes mellitus
 2American Diabetes Association: Diabetes Care 2005; 28: Suppl. 1: S17
 3American Diabetes Association: Diabetes Care 2008; 31: Suppl. 1: S27-8
 4HOVENS, M.M.C. et al.: Acetylsalicylic acid (Aspirin) for primary prevention of cardiovascular disease in type 2 diabetes mellitus (Protocol). The Cochrane Database of Systematic Rev. 2008, Issue 4, Stand Mai 2005
 5COLWELL, J.A., NESTO, R.W.: Diabetes Care 2003; 26: 2181-8
R6Physicans' Health Study Research Group: N. Engl. J. Med. 1989; 321: 129-35
R7SACCO, M. et al.: Diabetes Care 2003; 26: 3264-72
R8ETDRS Investigators: JAMA 1992; 268: 1292-1300
R9OGAWA, H. et al.: JAMA 2008; 300: 2134-41
R10BELCH, J. et al.: BMJ 2008; 337: a1840 (online first)
M11Antithrombotic Trialists' Collaboration: BMJ 2002; 324: 71-86
M12SEREBRUANY, V.L. et al.: Am. J. Cardiol 2005; 95: 1218-22

 *ETDRS = Early Treatment Diabetic Retinopathy Study
JPAD = Japanese Prevention for Atherosclerosis With Aspirin for Diabetes Trial
POPADAD = Prevention of Progression of Arterial Disease and Diabetes
 **Primärer Endpunkt = plötzlicher Todesfall, Tod wegen koronarer, zerebrovaskulärer oder aortaler Ursache, Herzinfarkt, instabile Angina pectoris, Insult, TIA, nicht tödliche Gefäßereignisse wie Aortendissektion, Arteriosclerosis obliterans

© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 1. Dezember 2008

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