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Neu auf dem Markt

QLAIRA - EINE PILLE OHNE CHEMIE1?

Seit Mitte Mai ist mit QLAIRA erstmals ein orales Kontrazeptivum erhältlich, das als Östrogen anstelle von Ethinylestradiol Estradiolvalerat enthält, die veresterte Form des körpereigenen Estradiols. Weiterer Bestandteil ist Dienogest (in VALETTE), ein erst seit Beginn der 1990er Jahre vermarktetes synthetisches Gestagen. In den Medien wird die Neuerung fälschlicherweise als "erste Antibabypille mit natürlichen Hormonen"2 oder gar als "erste Pille komplett ohne Chemie"1 und "Alternative zur hormonellen Verhütung"1 gefeiert. Hersteller Bayer Schering, der sich Jahresumsätze bis zu 500 Mio. € erhofft,3 macht im Internet recht unverhohlen Werbung für eine "Pille mit Q".4

Frühere Bemühungen, ein orales Kontrazeptivum mit Estradiol zu entwickeln, waren daran gescheitert, dass es aufgrund einer unzureichenden Zykluskontrolle vermehrt zu Zwischen- und Durchbruchblutungen kam. Bei QLAIRA dagegen soll die Kombination mit Dienogest, das eine ausgeprägte gestagene Aktivität am Endometrium aufweisen soll, sowie ein „einzigartiges dynamisches Dosierungsschema” mit vier verschiedenen Phasen (plus einer fünften wirkstofffreien Phase) einen st abilen Zyklus gewährleisten. 5

EIGENSCHAFTEN: Estradiolvalerat ist ein Ester des natürlich beim Menschen vorkommenden 17(-Estradiols. Nach Einnahme per os wird es vollständig absorbiert und in der Darmschleimhaut oder im Verlauf der ersten Leberpassage zu Estradiol und Valeriansäure aufgespalten.6 Im Unterschied zu Estradiol trägt das üblicherweise in oralen Kontrazeptiva verwendete Ethinylestradiol eine Ethinylgruppe in der 17-(-Position, die den First-pass-Effekt des Hormons in der Leber verringert und dessen Bioverfügbarkeit erhöht. Estradiol und Estradiolvalerat dienen seit Jahrzehnten zur Hormontherapie in und nach den Wechseljahren, auch in Kombination mit Dienogest (CLIMODIEN u.a.). Dieses ist in QLAIRA mit 2 mg bzw. 3 mg pro Tablette (mittlere Tagesdosis über vier Wochen 2,2 mg) im Durchschnitt höher dosiert als im Verhütungsmittel VALETTE (2 mg/ Tbl. für 21 Tage, mittlere Tagesdosis/vier Wochen 1,5 mg) oder dem gegen Wechseljahresbeschwerden angebotenen CLIMODIEN (2 mg/Tbl. für 28 Tage).

WIRKSAMKEIT: Keine der drei zulassungsrelevanten multizentrischen klinischen Studien ist vollständig veröffentlicht, sodass sich die Zuverlässigkeit der neuen Kombination nicht hinreichend beurteilen lässt. Laut Fachinformation soll ein Pearl-Index* von 0,79 bei 18- bis 50-jährigen Frauen und von 1,01 bei 18- bis 35-jährigen errechnet worden sein.6 Gemessen an typischerweise in klinischen Studien mit oralen Kontrazeptiva beobachteten Versagerraten von 0 bis 1 pro 100 Frauenjahre7,8 könnte QLAIRA Schwangerschaften demnach möglicherweise weniger zuverlässig verhüten. Für eine niedrig dosierte Einphasen-"Pille" mit 20 µg Ethinylestradiol und 100 µg Levonorgestrel (LEIOS u.a.) wird bei Frauen zwischen 18 und 40 Jahren ein Pearl-Index von 0,69 errechnet.9

* Pearl-Index = Schwangerschaften pro 100 Frauenjahre

Aufgrund der vielen verschiedenen Phasen sind Anwendungsfehler unseres Erachtens programmiert: Die Anweisungen des Herstellers zum Vorgehen, wenn der Einnahmezeitpunkt einer Tablette um mehr als zwölf Stunden überschritten wurde, sind deutlich umfangreicher als bei anderen "Pillen". Zusätzliche Verhütungsmaßnahmen werden in diesem Fall an 24 von 28 Tagen erforderlich und damit häufiger als bei Ethinylestradiol-haltigen Präparaten. Offen bleibt, wie vorzugehen ist, wenn Tabletten vertauscht wurden.

STÖRWIRKUNGEN: Mit den üblichen unerwünschten Effekten oraler Kontrazeptiva ist auch unter QLAIRA zu rechnen, beispielsweise Kopfschmerzen (18%), Bauchschmerzen (12%), Dysmenorrhö (10%), Akne (9%), Übelkeit (7%), emotionale Labilität (7%) oder Schmerzen in der Brust (6%).7 Bei 10% bis 18% der Frauen kommt es zu Zwischenblutungen. In 15% der Zyklen tritt Amenorrhö auf.6

Das Risiko venöser Thromboembolien unter QLAIRA ist nicht bekannt.6 Insgesamt ist die Datenlage für Dienogest-haltige Kontrazeptiva hier weiterhin unzureichend: Zwei Fallkontrollstudien dazu sind bis heute nur als "Zusammenfassung"10 oder gar nicht publiziert11 und daher nicht beurteilbar. Beide wurden - wie auch entsprechende Untersuchungen zu anderen ursprünglich von Schering/Jenapharm entwickelten Verhütungsmitteln, beispielsweise zum Thromboembolierisiko Drospirenon-haltiger Kontrazeptiva (YASMIN u.a.) oder zum Brustkrebsrisiko der Hormonspirale MIRENA -, von einem in Berlin ansässigen Institut durchgeführt, das von dem ehemaligen Schering-Mitarbeiter J. DINGER und dem für seine Nähe zur Industrie bekannten L. HEINEMANN geleitet wird (vgl. a-t 2007; 38: 95-6).

KOSTEN: Die dreimonatige Verhütung mit QLAIRA (1 mg bis 3 mg Estradiolvalerat plus 2 mg bis 3 mg Dienogest/ Tablette) kostet 43 € und damit 40% bis 70% mehr als mit einer niedrig dosierten Ethinylestradiol-Levonorgestrel-Einphasenkombination (20 µg Ethinylestradiol plus 100 µg Levonorgestrel, LEIOS: 31 €, LEONA: 25 €).

∎  Mit QLAIRA wird erstmals ein orales Kontrazeptivum angeboten, das als Östrogen Estradiolvalerat anstelle des üblicherweise verwendeten Ethinylestradiols enthält. Gestagenbestandteil ist das vergleichsweise wenig erprobte Dienogest (in VALETTE).

∎  Wirksamkeit und Sicherheit der Neuerung, auch im Vergleich zu herkömmlichen "Pillen", lassen sich nicht beurteilen, da die drei zulassungsrelevanten Phase-III-Studien nicht vollständig veröffentlicht sind. Eine solche Intransparenz erachten wir als inakzeptabel.

∎  Nach bisher bekannt gewordenen Daten könnte QLAIRA Schwangerschaften möglicherweise weniger zuverlässig verhüten als andere orale Kontrazeptiva.

∎  Das Vierphasenschema begünstigt Anwendungsfehler.

∎  Aufgrund des geringen Erprobungsgrades und des Fehlens nachvollziehbarer Daten raten wir von QLAIRA ab.

  (R = randomisierte Studie)
 1RTL: Punkt 12 vom 15. Mai 2009; als Video zu finden unter:
http://http://www.a-turl.de/?k=arks
 2Bild der Frau vom 14. Febr. 2009, zit. nach
http://gesundheit.blogger.de/stories/1350278/
 3n-tv.de vom 16. Okt. 2008; http://www.n-tv.de/1038649.html
 4http://www.pille-mit-q.de
 5Bayer: Pressemitteilung vom 14. Mai 2009
 6Bayer Schering: Fachinformation QLAIRA, Stand Jan. 2009
R7ENDRIKAT, J. et al.: Contraception 2008; 78: 218-25
 8Roche Lexikon Medizin, 5. Auflage, Urban & Fischer 2003
http://www.gesundheit.de/roche/
 9Wyeth: Fachinformation LEIOS, Stand Dez. 2007
 10HEINEMANN, L.A.J. et al.: LAMSO 2001; 2: 6 Seiten (Zeitschrift ist nicht mehr im Internet auffindbar, -Red.)
 11Jenapharm: E-Mail vom 27. Apr. 2009

© 2009 arznei-telegramm, publiziert am 3. Juli 2009

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