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Therapiekritik

AZETYLSALIZYLSÄURE (ASS, ASPIRIN U.A.) ZUR PROPHYLAXE VON DARMKREBS?

Seit Jahren wird diskutiert, ob sich Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) und nichtsteroidale Antirheumatika prophylaktisch auf die Entwicklung von Darmkrebs auswirken (a-t 2005; 36: 74-5). Die Studienlage ist jedoch nicht einheitlich. Kohortenstudien weisen auf eine Verringerung des Darmkrebsrisikos durch ASS-Einnahme um etwa ein Fünftel hin.1 Ebenfalls eine Kohortenstudie ermittelt bei Vorliegen von Dickdarmkrebs eine statistisch signifikante geringere krankheitsspezifische (15% versus 19%) und Gesamtmortalität (35% vs. 39%) nach einer medianen Beobachtungszeit von zwölf Jahren.2 Eine Metaanalyse von vier randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt fast 3.000 Patienten mit Kolonadenom oder -karzinom errechnet nach einer medianen Beobachtungszeit von 33 Monaten eine verringerte Rate neuer Adenome im Vergleich zur Einnahme von Plazebo (33% versus 37%). Fortgeschrittene Adenome* finden sich dabei unter ASS bei 9% und unter Plazebo bei 12% der Studienteilnehmer.3 Ein positiver Effekt auf die Häufigkeit von Kolonkarzinomen lässt sich jedoch in zehnjährigen Nachbeobachtungen zweier großer randomisierter Studien4,5 nicht nachweisen. Aufgrund der langsamen Tumorentwicklung im Dickdarm reicht möglicherweise dieser Zeitraum für eine Nutzenbewertung nicht aus.

In einer aktuell veröffentlichten Metaanalyse6 werden vier randomisierte Studien mit ASS – ursprünglich angelegt als Nutzenbeleg bei kardiovaskulärer Prävention – hinsichtlich der langfristigen Inzidenz kolorektaler Karzinome und krebsbedingter Mortalität ausgewertet. Drei der Arbeiten7-9 sind plazebokontrolliert, eine10 wird im Vergleich zu unbehandelten Kontrollen durchgeführt. In einer weiteren Studie wird sehr niedrig dosierte ASS (30 mg täglich) mit höherer Dosierung (283 mg täglich) verglichen.11

Sicherung von Diagnose und Todesursachen erfolgt anhand zentraler Sterbe- und Krebsregister. Daher beschränken sich die Autoren auf Studien aus Großbritannien und Schweden, die für die Erfassung von Morbidität und Mortalität ausreichende Daten zur Verfügung stellen. Von 14.000 Patienten nehmen knapp 8.300 täglich 75 mg bis 1.200 mg ASS im Mittel sechs Jahre lang ein. 5.700 dienen als Kontrolle. Die mediane Nachbeobachtungszeit beträgt 18,3 Jahre.

Nach Berechnungen der Autoren treten kolorektale Karzinome unter ASS seltener auf (Hazard Ratio [HR] 0,75; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,56-0,97). Die Senkung des absoluten Risikos (ARR) wird nur für den Dosisbereich von 75 mg bis 300 mg täglich angegeben und beträgt 1,2% (95% CI 0,2-2,2; Number needed to treat [NNT] 83 über sechs Jahre). Auch die Mortalität aufgrund eines kolorektalen Karzinoms ist unter ASS niedriger (HR 0,61; 95% CI 0,43-0,87; ARR für 75 mg bis 300 mg täglich 1,4% [95% CI 0,4-2,3]; NNT 71). Der Vorteil für die ASS-Einnahme wird nach etwa sieben bis acht Jahren ersichtlich. Es wird vor allem die Inzidenz proximaler Tumoren, in geringerem Ausmaß die von Rektumkarzinomen verringert. Ein positiver Einfluss auf distale Kolonkarzinome ist hingegen nicht zu erfassen. Ein Unterschied zwischen den verschiedenen Dosierungen von 75 mg bis 1.200 mg täglich ist nicht erkennbar.

Im direkten Vergleich zweier ASS-Dosierungen kommt es unter 30 mg ASS numerisch häufiger zu Tod durch Darmkrebs als unter 283 mg täglich. Die Ereignisrate ist jedoch für eine statistische Sicherung des Unterschieds zu gering (Odds Ratio 2,0; 95% CI 0,7-6).

Die Stärke der Analyse liegt in der Homogenität der Ergebnisse, der weitgehend kompletten Datenerfassung und der langen Nachbeobachtung. Zudem ist unter ASS die Zeit bis zur Diagnose eines Darmkrebs nicht verkürzt. Eine Verzerrung der Ergebnisse aufgrund früherer Diagnose mit höherer Heilungschance wegen Bauchbeschwerden unter ASS ist daher unwahrscheinlich. Hohe Abbruchraten unter ASS in den eingeschlossenen Studien führen möglicherweise sogar zu einer Unterschätzung des Effektes.

Dennoch ist Vorsicht angebracht: Es handelt sich nicht um ein systematisches Review. Die Autoren wählen zum Zwecke der Nachprüfbarkeit der Morbiditäts- und Mortalitätsdaten selektiv britische und schwedische Studien aus. Zudem werden, abgesehen von einer Primärpräventionsstudie, nur Arbeiten mit kardiovaskulären Risikopatienten eingeschlossen. Eine Übertragbarkeit auf andere Kollektive ist nicht ohne weiteres möglich.

Angaben zur Gesamtmortalität fehlen. Nach einer 2007 veröffentlichten systematischen Übersicht randomisierter und epidemiologischer Studien mit ASS ist eine Senkung der Gesamtsterblichkeit bei Patienten ohne erhöhtes kardiovaskuläres Risiko nicht belegt (RR 0,94; 95% CI 0,87-1,01).1 Auch zu Störwirkungen werden keine Angaben gemacht. Es ist jedoch mit einem Anstieg gastrointestinaler Beschwerden zu rechnen. Für Magen-Darm-Blutungen wird ein relatives Risiko zwischen 1,6 und 2,5 angenommen.1 Auch mit einer (wenn auch geringen) numerischen Zunahme hämorrhagischer Insulte ist zu rechnen (Odds Ratio 1,4; 95% CI 0,9-2,0).1 Die Studie festigt aufgrund des zusätzlichen potenziellen Nutzens die Stellung von ASS als Mittel der ersten Wahl bei bestehender Indikation für eine Thrombozytenaggregationshemmung. Eine Ausweitung der Anwendung zur ungezielten Primärprophylaxe des Kolonkarzinoms wird aufgrund der zahlreichen Einschränkungen u.E. jedoch nicht gestützt.

∎  In einer zusammenfassenden Auswertung von vier randomisierten Studien reduziert die Einnahme von Azetylsalizylsäure (ASPIRIN, ASS; Generika) über einen medianen Zeitraum von sechs Jahren vor allem proximale Kolonkarzinome und senkt die Sterblichkeit an Dickdarmkrebs. Angaben zur Gesamtmortalität sowie zu Störwirkungen fehlen.

∎  Bei bestehender Indikation für eine Thrombozytenaggregationshemmung bestätigen die Daten ASS als Mittel der Wahl, um den möglichen zusätzlichen Vorteil zu nutzen.

∎  Eine Indikation für ASS zur Primärprävention des Kolonkarzinoms ist unseres Erachtens aus der Auswertung aufgrund mangelnder Übertragbarkeit und fehlender Nutzen-Schaden-Abwägung nicht ableitbar.

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
M  1 DUBÉ, C. et al.: Ann. Intern. Med. 2007; 146: 365-75
2 CHAN, A.T. et al.: JAMA 2009; 302: 649-58
M  3 COLE, B.F. et al.: J. Natl. Cancer Inst. 2009; 101: 256-66
R  4 STÜRMER, T. et al.: Ann. Intern. Med. 1998; 128: 713-20
R  5 COOK, N.R. et al.: JAMA 2005; 294: 47-55
M  6 ROTHWELL, P.M. et al.: Lancet 2010; 376: 1741-50
R  7 Medical Research Council’s General Practice Research Framework: Lancet 1998; 351: 233-41
R  8 FARRELL, B. et al.: J. Neurol. Neurosurg. Psychiatry 1991; 54: 1044-54
R  9 SALT Collaborative Group: Lancet 1991; 338: 1345-9
R  10 PETO, R. et al.: BMJ 1988; 296: 313-6
R  11 Dutch TIA Trial Study Group: N. Engl. J. Med. 1991; 325: 1261-6

* villöse, tubulovillöse, sehr große Adenome (≥ 1 cm), Dysplasie

© 2010 arznei-telegramm, publiziert am 3. Dezember 2010

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