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Im Blickpunkt

SCHILDDRÜSENPROPHYLAXE MIT JOD
BEI REAKTORZWISCHENFÄLLEN

In Österreich werden angesichts der möglichen Gefährdung durch einen tschechoslowakischen Atomreaktor Kaliumjodid-Tabletten an die Bevölkerung ausgegeben. Vor allem von dort und aus dem süddeutschen Raum erreichen uns Nachfragen zu Nutzen und Risiken dieser Maßnahme.

In Deutschland nehmen Jodmangel- und Strumaendemiegebiete in Nord-Süd-Richtung an Dichte zu. Die unzureichende Versorgung mit Jod, dem Schlüsselelement der Schilddrüse, geht bei jungen Männern (Rekruten) mit einer Kropfhäufigkeit von 15% einher. Bei Schulkindern soll sie bis zu 40% betragen.1 Zur individuellen Strumaprophylaxe wird eine Tagesdosis von 0,1 - 0,2 mg Jod (1 Tablette JODID 100 bzw. JODID 200) oder 1 Tablette THYROJOD DEPOT zu 1,5 mg/Woche oder verdünnte LUGOL'sche Lösung (vgl. a-t 7 [1989], 63) empfohlen. Genügende Jodversorgung beugt Kropf, Folgeerkrankungen der Schilddrüse und Funktions- und Entwicklungsstörungen vor. Sie schafft auch eine bessere Ausgangslage bei Reaktorzwischenfällen.

Jod liegt in Kernreaktoren gasförmig vor. Bei Unfällen ist mit der Abgabe radioaktiven Jods in die Luft der Umgebung zu rechnen. Eine jodverarmte Schilddrüse nimmt nach Absorption über die Lungen im Mittel 60% bis 70% des Bedarfs an Jod in radioaktiver Form auf, eine ausreichend mit Jod versorgte Schilddrüse nur 20 - 30%.2 Um die Schilddrüse so mit Jod abzusättigen, daß sie weniger als 1% des in der Blutbahn zirkulierenden radioaktiven Jods aufnimmt, wird zur Prophylaxe mit hochdosierten Jodid-Tabletten geraten.

Diese soll einen Strahlenschaden der Schilddrüse, besonders ein Schilddrüsenkarzinom, verhindern. Die Wahrscheinlichkeit der Schädigung hängt von der Strahlenexposition ab. Der Hauptausschuß Atomenergie sieht eine anzunehmende Organdosis (Absorption durch Inhalation) von 200 - 1.000 mSv (Millisievert; entsprechend 0,02 - 0,1 rem) als Indikation für die hochdosierte Prophylaxe an.3 Diese darf nur gezielt nach Aufforderung durch die Behörden unter Berücksichtigung des zu erwartenden Expositionsrisikos vorgenommen werden.

Die Vorbeugung beginnt am besten kurz vor der zu erwartenden Exposition mit radioaktivem Jod, kann aber auch bis sechs Stunden danach noch effektiv sein. Die empfohlene Jodiddosis liegt rund 1.000fach über der zur Strumaprophylaxe gebräuchlichen: Nach initial 200 mg sollen Erwachsene alle acht Stunden nach den Mahlzeiten 100 mg bis zu einer Gesamtmenge von 1.000 mg einnehmen oder solange das Risiko der Aufnahme radioaktiven Jods besteht. Auch Tagesdosen zwischen 30 und 130 mg Kaliumjodid werden für ausreichend erachtet – allerdings nur für gut mit Jod versorgte Gebiete.4 Kinder von 20 kg bis 40 kg Körpergewicht (KG) erhalten die halbe Initial- und Erhaltungsdosis, Säuglinge und Kleinkinder bis 20 kg KG täglich 50 mg bis zu einer Gesamtdosis von 200 mg.

Schwangere bekommen die Dosis für Erwachsene. Schon ab der 12. Woche, vor allem aber im letzten Drittel der Schwangerschaft speichert die fetale Schilddrüse über das mütterliche Blut erhebliche Jodmengen. Eine jodinduzierte Struma mit Hypothyreose kann post partum mit Levothyroxin (EUTHYROX u.a.) behoben werden. Ausgeprägte Formen machen unter Umständen eine Tracheotomie erforderlich. Geburtshelfer müssen daher von der erfolgten Hochdosisprophylaxe mit Jod während der Schwangerschaft wissen.5

Von der Eigenbevorratung mit hochdosierten Jodid-Tabletten wird abgeraten, da sie bei unzweckmäßiger Lagerung verderben können und die ungezielte Einnahme vermieden werden soll.5 Zumindest die alten Bundesländer sind mit Jod-Tabletten "in ausreichender Menge bevorratet".5 Es mag kein Zufall sein, daß KALIUM JODATUM 0,1 COMPRETTEN 1985 vom Markt genommen wurden (s. Stellungnahme der Firma Cascan, Seite 22). Auch andere Tabletten zu 100 mg Kaliumjodid sind nicht erhältlich. Wir wissen nicht, wie die Behörden im Katastrophenfall die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung in Stundenfrist gewährleisten wollen.

Die Risiken der breit gestreuten hochdosierten Jodprophylaxe in Katastrophenfällen sind kaum überschaubar, da Erfahrungen fehlen. Es muß gewährleistet sein, daß Personen mit Jodüberempfindlichkeit oder Schilddrüsenkrankheiten sowie Dermatitis herpetiformis DUHRING von der Hochdosisprophylaxe ausgeschlossen werden. Alternativ kann die Jodaufnahme kompetitiv mit Perchlorat gehemmt werden: initial 3 Tabletten KALIUM PERCHLORAT BAER oder 45 Tropfen IRENAT, danach alle 5 Stunden jeweils 1 Tbl. bzw. 15 Tr.; Prophylaxedauer wie bei Jodid.5

Gefährdet durch Jodid sind Personen mit latenter Hyperthyreose. Hinter scheinbar harmlosen "Jodmangelstrumen" kann sich eine symptomlose Hyperthyreose verbergen.4 Schwere jodinduzierte Hyperthyreosen sind internistische Notfälle und nur in endokrinologischen Zentren zu betreuen, da die gängigen medikamentösen Maßnahmen oft nicht hinreichend wirksam sind. Bei Beeinträchtigung der zerebralen Funktion durch Psychose oder Koma und therapierefraktären kardialen Störungen besteht in der Regel eine Indikation zur sofortigen Schilddrüsenresektion.6

Mit Hautreaktionen ist bei bis zu 1% der Bevölkerung zu rechnen,7 ferner mit Magen-Darm-Störungen (Übelkeit, Abdominalschmerzen), Sialoadenitis und Geschmacksstörungen sowie allergieähnlichen Reaktionen: "Jodschnupfen", Jodfieber, Eosinophilie, Serumkrankheit- ähnliche Symptome und Vaskulitis. Gefährdet sind besonders Patienten mit hypokomplementärer Vaskulitis.8

Wenig Beachtung als Folge einer Schilddrüsenblockade findet meist die Verlagerung der Strahlenexposition auf andere, im allgemeinen strahlensensiblere Organe. Möglicherweise vermindert gerade die Speicherwirkung der Schilddrüse eine kritische Ganzkörperbelastung.9 Gegen andere radioaktive Stoffe bietet die Jodprophylaxe keinen Schutz.

FAZIT: Durch rechtzeitige Blockade der Schilddrüse mit Jodid läßt sich bei Reaktorzwischenfällen die Einlagerung von Radiojod in die Schilddrüse vermindern. In den Richtlinien des Hauptausschusses für Atomenergie wird die Kaliumjodidprophylaxe für eine Organexposition von 200 - 1.000 mSv (0,02 - 0,1 rem) für sinnvoll erachtet. Welche Bedeutung in einer solchen Situation dem isolierten Schutz der Schilddrüse zukommt, läßt sich schwer abschätzen. Die hochdosierte Jodprophylaxe kann zwar die Schilddrüse vor Strahlenschäden bewahren, ist aber kein universell wirksamer Strahlenschutz. Im Ernstfall kann die Prophylaxe ein trügerisches Sicherheitsgefühl hervorrufen. Andere Maßnahmen wie Evakuierung werden durch die Jodeinnahme nicht überflüssig.


© 1991 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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