ANTIDEPRESSIVUM NOMIFENSIN (ALIVAL, | |||||||||
Nomifensin-haltige Antidepressiva (ALIVAL, PSYTON) der Hoechst AG wurden fast ein Jahrzehnt unbeanstandet in der Bundesrepublik und in 96
weiteren Ländern vermarktet, obwohl schon frühzeitig immuntoxische Wirkungen (Fieber, Hepatitis, hämolytische Anämie, Alveolitis u.a.)
erkannt wurden. Eine Dokumentation des Hessischen Landeskriminalamtes (HLKA) Wiesbaden offenbart die Fehleinschätzungen der deutschen Arzneimittel-
Überwachungsbehörde (Bundesgesundheitsamt, BGA) und der Pharma-Manager der Hoechst AG und beschreibt die Versuche, das immunogene
Medikament auch dann noch auf dem Markt zu halten, als die tödliche Gefährdung so gut wie bewiesen war. Das a r z n e i - t e l e - g r a m m hat schon
frühzeitig vor den Risiken Nomifensin-haltiger Arzneimittel gewarnt und wurde von der Hoechst AG deshalb mit einstweiligen Verfügungen und
Unterlassungsbegehren verfolgt. 1. ZULASSUNG VON ALIVAL UND PSYTON "Interessant ist schon die frühzeitige Veröffentlichung von Fällen hämolytischer Anämie, Leberfunktionsstörungen, Hepatitis und Alveolitis ab 1979. Demgegenüber steht die verzögerte Aufnahme der Nebenwirkungen in die Packungsbeilage bzw. Gebrauchsinformation. Im November 1984 wird erst die Packungsbeilage geändert. Als Nebenwirkung wird auch hämolytische Anämie aufgenommen..." Am 9. März 1982 erteilte das Bundesgesundheitsamt die Zulassung für PSYTON, eine Kombination aus Nomifensin und Clobazam. Kommentar des HLKA: "Während des Zulassungsverfahrens wird auf drei Literaturquellen verwiesen. Zu diesem Zeitpunkt sind aber schon 15 Veröffentlichungen zum Wirkstoff Nomifensin bekannt." Die Zulassung von PSYTON ist jedoch selbst im BGA umstritten, denn die Zulassungsdokumente werden amtsintern mit folgender Stellungnahme versehen: "Die Zulassung entspricht nicht dem derzeitigen wissenschaftlichen Standard bezüglich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit." Die amtsinternen Zweifel an der Wirksamkeit von Nomifensin sind berechtigt. Von insgesamt 17 Plazebo-kontrollierten Studien, die der amerikanischen Gesundheitsbehörde als Beleg der Wirksamkeit des Medikamentes vorgelegt werden, zeigen 14 keine Überlegenheit des Medikamentes gegenüber Plazebo. Ein Untersuchungsausschuß des amerikanischen Kongresses, der die Vorgänge bei der Zulassung von Nomifensin in den USA untersucht, stellt fest: "Die umfangreicheren Studien, die für das Medikament durchgeführt wurden, haben nicht aufgezeigt, daß MERITAL (= Nomifensin, Red.) signifikant besser als Plazebo war." Im Zulassungsverfahren fordert das BGA die Firma Hoechst auf, zu dem Auftreten von hämolytischer Anämie Stellung zu nehmen. Es ist zu diesem
Zeitpunkt schon bekannt, daß die Nomifensin-Einnahme sowohl infolge von Hämolyse, aber auch unabhängig davon Nierenversagen nach sich
ziehen kann. Trotzdem verzichtet das Bundesgesundheitsamt bei der Zulassung auf die Benennung dieser unerwünschten Wirkungen. "kein Fall von hämolytischer Anämie nach PSYTON-Einnahme bekannt". Am 24. Aug. 1983 erteilt das BGA einem weiteren Nomifensin-haltigen Arzneimittel, ALIVAL 100, die Zulassung ohne die Auflage, alle bis zu diesem Zeitpunkt bekannten Störwirkungen in der Packungsbeilage aufzuführen. Das HLKA kommentiert : "Die bis zu diesem Zeitpunkt bekannten Nebenwirkungen werden nicht alle berücksichtigt, obwohl es sich bei diesen Tabletten um eine Höherdosierung des Wirkstoffes Nomifensin handelt! Das BGA unternimmt diesbezüglich auch nichts." Die vom BGA unter "Nebenwirkungen" akzeptierten Begriffe wie "Veränderung der Leberfunktionsproben" für Hepatitis und die Umschreibung "... können aber nach erneuter Einnahme wieder auftreten" für die immunogene Genese der Störungen qualifiziert das HLKA als "verharmlosend" und kritisiert "... Vom BGA wird dies zur Kenntnis genommen. Es wird kein Versuch gestartet, einen weiteren Warnhinweis wie z.B. Es ist sofort der behandelnde Arzt zu konsultieren in die Packungsbeilage mitaufzunehmen." 2. RISIKOVERDACHT UND HANDELN DES BUNDESGESUNDHEITSAMTES
Im Gegensatz zum BGA nimmt die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft die neuen und vermehrt berichteten Risiken sehr ernst und veröffentlicht am 27. März 1985 im Deutschen Ärzteblatt eine eindringliche Warnung für die Ärzteschaft. Die Hoechst AG, die vor Veröffentlichung durch die AMK über den Warnhinweis informiert war, reagiert schnell und verteilt ihrerseits einen "Rote-Hand-Brief" mit Datum vom 21. März 1985, mit dem die Warnung der AMK offensichtlich unterlaufen wird: "..., daß sich die Risikosituation bei ALIVAL und PSYTON in keiner Weise alarmierend darstellt, auch nicht, wenn wir sehr kritische Maßstäbe anlegen". Das HLKA kommentiert dazu: "Auf diese Weise wurde der Warnhinweis im Deutschen Ärzteblatt unterlaufen. In der Ärzte-Information des Herstellers wird von zwei 'Koma-Fällen' gesprochen, aber auf der UAW-Sitzung am 16. April 1985 sind 6 'Koma-Fälle' bekannt!" Am 16. Juli 1985 findet im Bundesgesundheitsamt die 13. Routinesitzung des Stufenplans zur Abwehr von Arzneimittelrisiken statt. Als Ergebnis der Sitzung stellt das BGA fest, "daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt Maßnahmen zur Abwehr von Arzneimittelrisiken nicht erforderlich sind. Es werden weitere Berichte angefordert. Die Arzneimittelkommission hält eine Nutzen-Risiko-Bewertung der Antidepressiva für erforderlich. Der Vertreter des Landes Bremen fordert weitere Maßnahmen zur Risikoabwehr." Am 9. Aug. 1985 gibt Hoechst eine vom BGA angeforderte Stellungnahme zu schweren unerwünschten Wirkungen ab. Darin behauptet die Firma, bis zu diesem Zeitpunkt seien ihr sechs Todesfälle (vier aus Großbritannien, einer aus Kanada, einer aus Deutschland) bekannt. Dazu kommentiert das HLKA: "Es wurden mindestens vier schon bekannte Todesfälle aus der Bundesrepublik verschwiegen!" Es handelt sich um Fallmeldungen vom 19. Okt. 1977, 2. Dez. 1977, 5. Apr. 1984 und 6. Aug. 1985.
Am 23. Aug. 1985 führt das BGA mit der Firma Hoechst Verhandlungen über notwendig erscheinende Maßnahmen zur Risikoabwehr. Dabei kommt
es zu kontroversen Auffassungen. Das BGA findet sich jedoch mit den Darstellungen der Hoechst AG ab und setzt keine Maßnahmen zum Schutz der
Patienten durch. "Als Antwort auf eine vom BGA geforderte Korrektur teilte die Firma Hoechst mit, daß das BGA vom Arzneimittelgesetz her keine Rechtsgrundlage habe, eine solche Korrektur zu fordern und beruft sich auf das Rechtsgut Meinungsfreiheit. Weiterhin wird über sechs Todesfälle mit verschiedenen Krankheitsbildern weltweit berichtet (in der Bundesrepublik bis dahin neun Fälle!). Noch im letzten Absatz wird festgehalten, daß der Nutzen von Nomifensin das Risiko seltener, wenn auch schwerwiegender Nebenwirkungen deutlich überwiegt. Auch wird behauptet, daß es kaum Alternativen in bezug auf die Verträglichkeit gäbe!" Weitere Aktivitäten des Bundesgesundheitsamtes sind nicht feststellbar. Deshalb wird das Bundesgesundheitsamt am 20 Jan. 1986 durch die Mitteilung der Firma Hoechst überrascht, daß die Firma auf die Zulassung von ALIVAL und PSYTON verzichtet. 3. DER NOMIFENSIN-ABSTURZ UND INTERNATIONALE KOMPLIKATIONEN Im Juni 1985 warnt das Arzneimittelsicherheitskomitee der englischen Gesundheitsbehörde Ärzte vor den Risiken von Nomifensin (Current Problems vom 8. Juni 1985). Am 27. Aug. 1985 erscheint ein Bericht über zwei Nomifensin-bedingte Todesfälle an Vaskulitis in der Zeitschrift "Lancet". Die Hoechst AG beauftragt den Schweizer Hämatologen MIESCHER, "der in keinem Fall eine von der Firma Hoechst abweichende Stellungnahme gefertigt hat", mit einer entlastenden Stellungnahme, die dieser auch mittels Verdrehung von Befunden bewerkstelligt. Die Hoechst AG nutzt dies für abwiegelnde Stellungnahmen gegenüber der Ärzteschaft: "Auch in Großbritannien wird der 'Dear-Doctor-Letter' vom 30. Sept. 1985 im 'Drug and Therapeutics Bulletin' scharf kritisiert. Der Brief sei geeignet, die Autorität der Warnung des 'Committee on Safety of Medicines' über die Gefahren des Gebrauchs von Nomifensin zu unterminieren." Am 7. Dez. 1985 veröffentlicht das britische Arzneimittelsicherheitskomitee eine vergleichende Auswertung der Fallberichte bei allen Antidepressiva, die die besondere Risikobelastung durch Nomifensin nachweist. Deshalb führt die englische Behörde Gespräche mit der Hoechst AG über risikomindernde Maßnahmen. Diese bewirken dann bei der Firma den Entschluß, Nomifensin im Januar 1986 weltweit vom Markt zurückzuziehen. Die Begründung, die Hoechst dem Bundesgesundheitsamt und der Fachöffentlichkeit gibt, nämlich daß in Großbritannien im zweiten Halbjahr 1985 die Meldungen über hämolytische Anämie angestiegen seien, trifft jedoch nach Ansicht des HLKA nicht zu: "Bei dem gleichen Marketing wie 1985 wäre auch schon im Jahre 1984 und 1983 ein gleicher Anstieg zu beobachten gewesen." Auch im Ausland wird die Strategie des Verschweigens von Risiken konsequent durchgehalten. Noch anläßlich eines Symposiums im Oktober 1983
wird in den USA behauptet, daß keine Todesfälle direkt mit Nomifensin in Zusammenhang gebracht worden seien, obwohl allein für
hämolytische Anämie Hoechst schon am 22. Febr. 1979, 15. Dez. 1980 und 19. Febr. 1981 Todesfälle gemeldet worden sind. "..., daß wir die Gebrauchsinformation in Abstimmung mit dem Bundesgesundheitsamt geändert haben", da das BGA und Hoechst zu den Formulierungen und Aussagen unterschiedliche Auffassungen vertreten haben. Die schwedische Gesundheitsbehörde versagt schon 1984 die Zulassung für Nomifensin. Sie beurteilt das Medikament wie folgt: "Der therapeutische Wert von Nomifensin liegt unter dem bereits existierender Medikamente der gleichen Kategorie ..., das Auftreten von Fieber und Reaktionen der Leber (sei) inakzeptabel hoch." Daraufhin zieht die Hoechst AG im März 1984 den Zulassungsantrag für Nomifensin in Schweden zurück. In Japan wird Nomifensin ebenfalls
nicht zugelassen. "Die FDA bezeugt, daß sie keine Berichte über mit MERITAL assoziierte Todesfälle an hämolytischer Anämie bis April 1985 erhalten hat, also einige Monate nach der Zulassung des Arzneimittels... Am 13. Juni 1986 informierte der Untersuchungsausschuß die FDA über fünf andere mit MERITAL assoziierte Todesfälle, bei denen allergische Reaktionen gegen das Arzneimittel eine Rolle gespielt haben können und die Hoechst vor der Zulassung des Arzneimittels bekannt waren, die aber der FDA erst nach der Zulassung berichtet wurden, Hoechst hat es auch unterlassen, vor der Zulassung von MERITAL mindestens drei Todesfälle infolge kardialer Komplikationen und zehn Fälle von Suizid oder/und tödlicher Überdosis zu berichten." Insgesamt wirft der Untersuchungsausschuß des amerikanischen Kongresses der Hoechst AG vor, daß das Pharma-Unternehmen es bei mindestens
30 Todesfällen versäumt hat, die amerikanische Gesundheitsbehörde über den Zusammenhang mit einem Nomifensin-haltigen Medikament zu
informieren. Sie habe es ferner unterlassen, die Zulassungsbehörde vor der Zulassung über die bekannt hohe Zahl bedrohlicher hämolytischer
Anämien zu unterrichten. In mindestens 100 Fällen ist diese Verzögerung der Meldung feststellbar, wobei wichtige Informationen, die sich im Besitz
der Firma befinden, nicht weitergemeldet wurden. Ferner berichtet Hoechst pflichtwidrig nicht über die "Rote-Hand-Briefe" in Deutschland oder
über die Einstellung der Verkaufsförderung in England ab September 1985. 4. DAS RISIKO-MANAGEMENT DER HOECHST AG Für die Bewertung von gemeldeten unerwünschten Arzneimittelwirkungen benutzt Hoechst ein Bewertungssystem zur Einstufung der Kausalität zwischen Medikament und aufgetretener Nebenwirkung nach KARCH und LASAGNA. Das Bewertungssystem ist wie das HLKA in seiner Dokumentation ausführt umstritten: "Es kommt zu einem hohen Anteil widersprechender Beurteilungen bei ein und demselben Fall. Dies läßt sich nur durch eine detaillierte Analyse für jede unerwünschte Arzneimittelwirkung einschränken. Zum Teil wird eine Bewertung abgelehnt. Nach dem Bewertungssystem KARCH-LASAGNA führt jede neue, bisher unbekannte Arzneimittelwirkung zu der Beurteilung 'zweifelhaft', da diese Reaktion nicht als bekanntes Krankheitsbild zu klassifizieren ist und somit zur Ablehnung des Kausalzusammenhangs führt, wobei noch hervorzuheben ist, daß unter dem Begriff 'bekanntes Krankheitsbild' nur die Bekanntheit des Krankheitsbildes beim Beurteiler vorausgesetzt wird. Kennt der Beurteiler das Krankheitsbild nicht in diesem Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme, so muß er immer zu der Beurteilung 'zweifelhaft' kommen. Der Kenntnisstand in der Literatur spielt eine untergeordnete Rolle, es sei denn, der Beurteiler besitzt den aktuellen Kenntnisstand in der medizinischen Literatur. In der Praxis bedeutet dies, daß bei Auftreten einer bisher noch nicht bekannten Nebenwirkung diese automatisch bei der Frage des Zusammenhangs verneint werden muß". Das KARCH-LASAGNA-System eignet sich nicht für immuntoxische Reaktionen auf Medikamente, weil dabei ein identischer Verursachungsmechanismus
ganz unterschiedliche Krankheitsbilder hervorruft (z.B. Schädigung an Lunge, Leber, Nieren, Hirn und Hirnhäuten, Gefäßendothelien u.a.), diese
aber isoliert und ohne Erörterung des Zusammenhangs beurteilt werden.
Informationspolitik gegenüber Behörden und Gerichten "Der Hersteller gibt an, daß er im Oktober 1977 erste Berichte über Leberfunktionsstörungen nach Nomifensin erhalten hat. Diese Erkenntnis wird dann im Oktober 1980 in die Gebrauchsinformation übernommen. Auch Erkenntnisse über medikamentös bedingte Lungenentzündungen aus dem Jahre 1977 werden im Dezember 1983 in der Gebrauchsinformation übernommen. Erste Fälle von hämolytischer Anämie werden seit Mai 1978 dem Hersteller berichtet, eine Übernahme durch den Hersteller fand im Dezember 1983 in umschriebener Form statt. Diese Verfahrensweise widerspricht der Aussage des CONTERGAN-Einstellungsbeschlusses." Das HLKA weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Hoechst AG das BGA und andere nationale Aufsichtsbehörden auch hinsichtlich der Häufigkeit und Schwere der berichteten Zwischenfälle nicht vollständig informiert hat. So machte das HLKA bei 227 von insgesamt 556 Nebenwirkungsfällen Zeitverzögerungen hinsichtlich der Berichte an das BGA von bis zu Jahren aus. 123 Fälle wurden überhaupt nicht weitergeleitet, bei 102 Fällen beträgt die Meldeverzögerung mehr als 1 Jahr, in 65 Fällen über 2 Jahre. Auch drei Todesfallmeldungen an hämolytischer Anämie aus der Bundesrepublik werden dem BGA verschwiegen. So führt das HLKA aus: "Eine am 19. März 1985 eingegangene Meldung über einen Todesfall aus der Bundesrepublik wird abermals verschwiegen (Einstufung durch Hoechst: möglich, Einstufung durch den Arzt: sicher, Nomifensin-Antikörper-Nachweise: positiv)." Auch in Gerichtsverfahren bedient sich die Firma Hoechst zur Glaubhaftmachung eidesstattlicher Erklärungen, die im Verdacht stehen, falsch zu sein. Das a r z n e i - t e l e g r a m m hat im April 1985 berichtet, daß die schwedische Arzneimittelbehörde Nomifensin aus Sicherheitsgründen nicht akzeptiert habe. Diese Aussage läßt Hoechst gerichtlich mittels einer eidesstattlichen Erklärung eines Mitarbeiters untersagen (Az.: LG Berlin 27.0.175/85), obwohl heute nach den Recherchen des HLKA klar ist, daß die schwedische Behörde 1984 über Nomifensin urteilte, daß "das Auftreten von Fieber und Reaktionen der Leber inakzeptabel hoch sei". In dem gleichen Verfahren läßt Hoechst dem a r z n e i - t e l e g r a m m auch den Hinweis auf das Auftreten eines GUILLAIN-BARRÉ- Syndroms als "neurologische Komplikation des ALIVAL-Unverträglichkeitssyndroms" verbieten. Der Leiter der Abteilung Arzneimittelsicherheit der Firma Hoechst versichert am 13. Juni 1985 eidesstattlich : "Solche Neuro-Schäden wurden meines Wissens nach Nomifensin seit seiner Ausbietung 1976 nicht beobachtet..." Diese eidesstattliche Versicherung erscheint unwahr, denn schon am 7. Mai 1984 hat Hoechst der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA den Fall eines GUILLAIN-BARRÉ-Syndroms nach Nomifensin gemeldet. Der zuständige FDA-Sachbearbeiter HAYES kommentiert in einer Stellungnahme vom 2. Juli 1984: "Die Begründung für die Bewertung der Firma, daß der Fall des GUILLAIN-BARRÉ-Syndroms keinen Zusammenhang mit der Arzneimittelanwendung hat, bleibt ein Rätsel... Der Bericht des GUILLAIN-BARRÉ-Syndroms erinnerte mich an schwerwiegende neurologische Störungen, die bei einer anderen Prüfsubstanz (Zimeldin [= NORMUD], Red.) aufgetreten waren... Ein aggressives spezielles Überwachungsprogramm auf Fälle von Neuropathie erscheint erforderlich, wenn die Zulassung erteilt wird, das gewährleistet, daß jeder zusätzliche Fall bei Nomifensin-behandelten Patienten sofort erkannt wird..." Die Stellungnahme von HAYES endet mit der Empfehlung, daß über diese Punkte mit Hoechst zu sprechen war, so daß die eidesstattliche
Versicherung des Hoechst-Mitarbeiters vom 13. Juni 1985 nachweislich unrichtig ist. "... Unabhängig von diesem Fall wurde durch Herrn Dr. H. ein zweites Mal Verwunderung darüber geäußert, was in der Gebrauchsinformation über ALIVAL 100 zu lesen ist und wie dürftig sich im Grunde genommen Anleitung und Informationen für den behandelnden Arzt darstellen. Das erste massive Erstaunen in diesem Zusammenhang hat Herr Prof. Dr. MISSMAHL vom Marien-Krankenhaus in Hamburg bei einem Besuch am 25 Apr. 1985 geäußert. Diese Hinweise von zwei erfahrenen Chefärzten können nicht ernst genug genommen werden." Auch gegenüber Patienten bestreitet Hoechst bekannte Sachverhalte und unterläßt wesentliche Informationen. Dazu führt das HLKA beispielhafte Fälle auf. "Hier wird exemplarisch die Informationspolitik der Fa. Hoechst dargelegt. Eine Patientin wurde im November 1983 u. a. mit einer
hämolytischen Anämie ins Krankenhaus eingeliefert. Aufgrund der bekannten Zeitangabe zwischen Tabletteneinnahme (PSYTON) und dem Auftreten des
Krankheitsbildes wird ein Kausalzusammenhang am 18. Jan. 1984 von der Fa. Hoechst als 'sehr unwahrscheinlich' eingestuft (Dr. POLA, Dr. STREICHENWEIN). In
einer Serum-Untersuchung der Behring-Werke können keine Antikörper festgestellt werden (28. Febr. 1984). Der Ehemann der betroffenen Patientin,
selbst Arzt, hält die Untersuchungsmethode für nicht richtig. Von Prof. MUELLER-ECKHARDT, Uni Gießen, wird das Serum nochmals untersucht. Am
3. Okt. 1985 wurde die Fa. Hoechst von ihm schriftlich unterrichtet, daß er in der Probe der Patientin Antikörper nachgewiesen hat. Erst am 13. März
1987 wird die Patientin über dies entscheidende Ergebnis nicht durch die Fa. Hoechst, sondern durch Prof. MUELLER-ECKHARDT informiert. Auch gegenüber der Presse führt Hoechst diese Politik der Desinformation und des Verschweigens konsequent noch nach der Marktrücknahme von Nomifensin fort (Presseinformation vom 6. Juni 1986): "Das erstmalige Auftreten von Todesfällen, die den Verdacht eines Zusammenhanges mit Nomifensin nahelegten, wurde in 3/85 in England beobachtet." Wie bereits dargestellt, wird Hoechst der erste Nomifensin-bedingte Todesfall schon am 19. Okt. 1977 berichtet, der zweite am 2. Dez. 1977. 5. DAS RISIKO-MANAGEMENT DES BUNDESGESUNDHEITSAMTES "Zum Zwecke der zentralen Erfassung muß die Behörde von sich aus allen Verdachtsmomenten nachgehen und initiativ sich
bietende Möglichkeiten zur Kenntniserlangung ausschöpfen (s. Kommentar zu § 62 AMG)... Es gehört zu den Aufgaben des BGA, die
Sammlung der UAW*-Meldungen zu koordinieren und auszuwerten. Die Behörde muß nach § 62 AMG selbst initiativ werden und alle
Möglichkeiten zur Kenntniserlangung ausschöpfen. Bemängelt wird auch die schon erwähnte Fehleinschätzung des Nomifensin-Risikos durch den zuständigen BGA-Beamten Dr. KREUTZ bei seiner Teilnahme auf der Sitzung der AMK vom 1. Febr. 1985 und bei seiner Information des BGA-Präsidenten am 5. März 1985. Trotz der sich häufenden Risikoberichte sah der Beamte keinen Anlaß, von sich aus den Verdachtsmomenten nachzugehen, die Frage der unterschiedlichen Dokumentationsstände bei Hoechst und dem BGA aufzuklären und entsprechend dem gesetzlichen Auftrag Maßnahmen zur Risikoabwehr einzuleiten. Das HLKA führt unter Verweis auf den Kommentar KLOESEL/CYRAN zum § 62 AMG aus: "Der Auszug aus dem Gesetzestext sowie der Kommentar zeigt, daß der Verfasser des Schreibens und auch der auf der Sitzung anwesende Dr. KREUTZ, Abteilungsleiter G V, eine klare Fehleinschätzung der Lage vorgenommen haben."
* UAW = unerwünschte Arzneimittel-Wirkung | |||||||||
© 1991 arznei-telegramm |
Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten
Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.