Die Vorgaben des Arzneimittelgesetzes reichen nicht aus, um die therapeutische Wirksamkeit von Medikamenten und Arzneimittelsicherheit zu
gewährleisten. Dies belegt die Rechtsprechung der Berliner Verwaltungsgerichte. Bei den wenigen Arzneimitteln, die das Bundesgesundheitsamt (BGA) wegen
schwerer Risiken vom Markt genommen hat, hoben die Gerichte die Verfügung der Behörde auf:
Im September 1988 stoppte das BGA den Vertrieb des von der Aufbereitungskommission negativ beurteilten "Chondroprotektivums"
ARTEPARON, nachdem es erneut zu einem Todesfall durch die immunogenen thrombotisch-thrombozytopenischen Wirkungen des Heparinoids kam. Auf
Klage des Herstellers folgten die Berliner Verwaltungsgerichte einseitig der Herstellerargumentation und hoben die Verbotsverfügung auf (vgl. a-t 12 [1989],
113). Die von dem Hersteller benannten Gutachter hatten ohne nachvollziehbare Begründung die Wirksamkeit bejaht und die Kausalität der
Störwirkungen bezweifelt. Wissenschaftlich fundierte Gegenargumente, auch des BGA, blieben unberücksichtigt. Die Folgen waren zwei Todesfälle
nach erneuter Markteinführung,1 diesmal mit richterlicher "Genehmigung".
Im Mai 1992 unterband das BGA den Vertrieb des ebenfalls therapeutisch zweifelhaften "Chondroprotektivums" ARUMALON, nachdem die Flut
schwerer, zum Teil lebensbedrohlicher Immunreaktionen auf den undefinierten Extrakt aus Knorpel und Knochenmark unerträglich wurde (vgl. a-t 5 [1992], 48). Im Dezember 1992 hob das Verwaltungsgericht Berlin die Verbotsverfügung auf. Es setzte sich
dabei über die vorliegende Negativmonographie der Nachzulassungskommission hinweg und bestritt wie der Hersteller den
Kausalzusammenhang für die beobachteten schweren Erkrankungen wie nephrotisches Syndrom, Glomerulonephritis, GUILLAIN-BARRE-Syndrom, Myositis,
Dermatomyositis, Alveolitis, progressive Lungenfibrose u.a. Der Hersteller darf nach dem Gerichtsurteil weiterhin mit dem aus Expertensicht nutzlosen Extrakt
Patienten schädigen.
Für einige L-Tryptophan- oder Oxitriptan-haltige Arzneimittel hoben die Berliner Verwaltungsgerichte die Verbotsverfügungen des BGA
auf, weil sie das Eosinophilie-Myalgie-Syndrom (EMS) einseitig mit Verunreinigungen des Rohstoffes in Verbindung brachten, die erstmals 1988 auftraten. Dem EMS
entsprechende Erkrankungen wie z.B. die eosinophile Fasziitis sind jedoch schon vor 1985 hinsichtlich ihrer Beziehungen zum L-Tryptophan-Stoffwechsel
beschrieben worden.2 Auch sind Erkrankungen dokumentiert, die vor dem Zeitpunkt der Verunreinigung des Rohstoffes eines Herstellers aufgetreten sind.
Tierexperimentell läßt sich ein EMS durch nicht verunreinigtes L-Tryptophan auslösen.3 Diese Sachverhalte konnten die Urteilsfindung der
Gerichte nicht erschüttern. Sie folgten den Behauptungen der Hersteller. Nun können mit Billigung des Gerichtes hinsichtlich ihres Nutzens zweifelhafte
Arzneimittel wieder vertrieben werden, obwohl das EMS durch Beteiligung des Herzmuskels oder der Lungen zum Tode führen kann und bei bis zu 40% der
Patienten trotz Absetzen keine Tendenz zur Rückbildung aufweist.
Bei Blutpräparaten (Faktor VIII, PPSB) verweigerten die Berliner Verwaltungsgerichte dem Bundesgesundheitsamt das Recht, die Gefahr der HIV- oder
HCV-Übertragung zu mindern, indem bestimmte, in ihrer Wirksamkeit überprüfte Virusinaktivierungsverfahren vorgeschrieben werden. Die Folgen sind
bekannt: Auch aus Kostengründen behandelte die Firma Biotest ihr PPSB-Präparat mit der insuffizienten Kaltsterilisation. 11 Patienten wurden mit HIV und
zwei mit Hepatitis-C infiziert (vgl. a-t 12 [1992], 127). Selbst das Bundesgesundheitsministerium rügte dies in
seinem Bericht an den Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages vom 30. Nov. 1992, aber die patientengefährdende Rechtsprechung geht
weiter:
Auf Herstellerantrag wurde die Frist zur Einführung der HCV-Testung im Ausgangsmaterial von Blutprodukten verlängert, so daß Zeit zum
"Abverkauf" ungetesteter Ware gewonnen wurde. Die dadurch bedingte zusätzliche Gefährdung der Patienten wurde gerichtlich
sanktioniert.
FAZIT: Die Rechtsprechung der Berliner Verwaltungsgerichte verhindert Maßnahmen zum Schutze des Patienten. Sie mißachtet die Grundsätze
des CONTERGAN-Einstellungsbeschlusses, daß die Gesundheit des Patienten das höhere Rechtsgut ist als Herstellerinteressen. Wenn das
Arzneimittelgesetz hinsichtlich des Patientenschutzes so unzureichend ist, wie es die Berliner Verwaltungsgerichte interpretieren, ist eine Novellierung zum Schutze
der Patienten gegen nutzlose, aber bedenkliche Produkte dringend erforderlich. Die patientengefährdenden verwaltungsgerichtlichen Interpretationen von
Arzneimittelsicherheit als "Vertriebssicherheit für die Hersteller" muß beendet werden.
1 | Lancet 340 (1992), 108 |
2 | CONNOLLY, S. M. et al.: J. Am. Acad. Dermatol. 23 (1990), 451 |
3 | ALDHOUSE, P.: Nature 353 (1991), 490 |
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