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                            a-t 1993; Nr. 3 : 26nächster Artikel
Im Blickpunkt

BERLINER VERWALTUNGSGERICHTE:
PERSILSCHEINE FÜR BEDENKLICHE ARZNEIMITTEL

Die Vorgaben des Arzneimittelgesetzes reichen nicht aus, um die therapeutische Wirksamkeit von Medikamenten und Arzneimittelsicherheit zu gewährleisten. Dies belegt die Rechtsprechung der Berliner Verwaltungsgerichte. Bei den wenigen Arzneimitteln, die das Bundesgesundheitsamt (BGA) wegen schwerer Risiken vom Markt genommen hat, hoben die Gerichte die Verfügung der Behörde auf:

Im September 1988 stoppte das BGA den Vertrieb des von der Aufbereitungskommission negativ beurteilten "Chondroprotektivums" ARTEPARON, nachdem es erneut zu einem Todesfall durch die immunogenen thrombotisch-thrombozytopenischen Wirkungen des Heparinoids kam. Auf Klage des Herstellers folgten die Berliner Verwaltungsgerichte einseitig der Herstellerargumentation und hoben die Verbotsverfügung auf (vgl. a-t 12 [1989], 113). Die von dem Hersteller benannten Gutachter hatten ohne nachvollziehbare Begründung die Wirksamkeit bejaht und die Kausalität der Störwirkungen bezweifelt. Wissenschaftlich fundierte Gegenargumente, auch des BGA, blieben unberücksichtigt. Die Folgen waren zwei Todesfälle nach erneuter Markteinführung,1 diesmal mit richterlicher "Genehmigung".

Im Mai 1992 unterband das BGA den Vertrieb des ebenfalls therapeutisch zweifelhaften "Chondroprotektivums" ARUMALON, nachdem die Flut schwerer, zum Teil lebensbedrohlicher Immunreaktionen auf den undefinierten Extrakt aus Knorpel und Knochenmark unerträglich wurde (vgl. a-t 5 [1992], 48). Im Dezember 1992 hob das Verwaltungsgericht Berlin die Verbotsverfügung auf. Es setzte sich dabei über die vorliegende Negativmonographie der Nachzulassungskommission hinweg und bestritt – wie der Hersteller – den Kausalzusammenhang für die beobachteten schweren Erkrankungen wie nephrotisches Syndrom, Glomerulonephritis, GUILLAIN-BARRE-Syndrom, Myositis, Dermatomyositis, Alveolitis, progressive Lungenfibrose u.a. Der Hersteller darf nach dem Gerichtsurteil weiterhin mit dem aus Expertensicht nutzlosen Extrakt Patienten schädigen.

Für einige L-Tryptophan- oder Oxitriptan-haltige Arzneimittel hoben die Berliner Verwaltungsgerichte die Verbotsverfügungen des BGA auf, weil sie das Eosinophilie-Myalgie-Syndrom (EMS) einseitig mit Verunreinigungen des Rohstoffes in Verbindung brachten, die erstmals 1988 auftraten. Dem EMS entsprechende Erkrankungen wie z.B. die eosinophile Fasziitis sind jedoch schon vor 1985 hinsichtlich ihrer Beziehungen zum L-Tryptophan-Stoffwechsel beschrieben worden.2 Auch sind Erkrankungen dokumentiert, die vor dem Zeitpunkt der Verunreinigung des Rohstoffes eines Herstellers aufgetreten sind. Tierexperimentell läßt sich ein EMS durch nicht verunreinigtes L-Tryptophan auslösen.3 Diese Sachverhalte konnten die Urteilsfindung der Gerichte nicht erschüttern. Sie folgten den Behauptungen der Hersteller. Nun können mit Billigung des Gerichtes hinsichtlich ihres Nutzens zweifelhafte Arzneimittel wieder vertrieben werden, obwohl das EMS durch Beteiligung des Herzmuskels oder der Lungen zum Tode führen kann und bei bis zu 40% der Patienten trotz Absetzen keine Tendenz zur Rückbildung aufweist.

Bei Blutpräparaten (Faktor VIII, PPSB) verweigerten die Berliner Verwaltungsgerichte dem Bundesgesundheitsamt das Recht, die Gefahr der HIV- oder HCV-Übertragung zu mindern, indem bestimmte, in ihrer Wirksamkeit überprüfte Virusinaktivierungsverfahren vorgeschrieben werden. Die Folgen sind bekannt: Auch aus Kostengründen behandelte die Firma Biotest ihr PPSB-Präparat mit der insuffizienten Kaltsterilisation. 11 Patienten wurden mit HIV und zwei mit Hepatitis-C infiziert (vgl. a-t 12 [1992], 127). Selbst das Bundesgesundheitsministerium rügte dies in seinem Bericht an den Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages vom 30. Nov. 1992, aber die patientengefährdende Rechtsprechung geht weiter:

Auf Herstellerantrag wurde die Frist zur Einführung der HCV-Testung im Ausgangsmaterial von Blutprodukten verlängert, so daß Zeit zum "Abverkauf" ungetesteter Ware gewonnen wurde. Die dadurch bedingte zusätzliche Gefährdung der Patienten wurde gerichtlich sanktioniert.

FAZIT: Die Rechtsprechung der Berliner Verwaltungsgerichte verhindert Maßnahmen zum Schutze des Patienten. Sie mißachtet die Grundsätze des CONTERGAN-Einstellungsbeschlusses, daß die Gesundheit des Patienten das höhere Rechtsgut ist als Herstellerinteressen. Wenn das Arzneimittelgesetz hinsichtlich des Patientenschutzes so unzureichend ist, wie es die Berliner Verwaltungsgerichte interpretieren, ist eine Novellierung zum Schutze der Patienten gegen nutzlose, aber bedenkliche Produkte dringend erforderlich. Die patientengefährdenden verwaltungsgerichtlichen Interpretationen von Arzneimittelsicherheit als "Vertriebssicherheit für die Hersteller" muß beendet werden.

1

Lancet 340 (1992), 108

2

CONNOLLY, S. M. et al.: J. Am. Acad. Dermatol. 23 (1990), 451

3

ALDHOUSE, P.: Nature 353 (1991), 490


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