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Im Blickpunkt

BLUTDERIVATE UND HIV: BGA-LISTE AUSGEWERTET

Anfang Oktober 1993 erhielt Bundesminister SEEHOFER vom Bundesgesundheitsamt (BGA) eine Liste mit 373 Berichten zu Blutprodukten "mit den Nebenwirkungen HIV-positiv, Serokonversion positiv, HTLV3-Test positiv, AIDS, erworbenes Immundefektsyndrom (auch Verdachtsfälle)". In der Aufstellung wird die HIV-Infektion überwiegend einzelnen Blutderivaten angelastet. Zum Teil sind jedoch bis zu sechs verschiedene Mittel als "verdächtigt" eingestuft. Wir schlüsseln in den folgenden Tabellen auf, wie häufig die betroffenen Blutzubereitungen allein angeschuldigt werden (erste Zahl in der Klammer) oder in Verbindung mit weiteren verdächtigten Blutprodukten (zweite Zahl in der Klammer hinter dem Schrägstrich) genannt sind.



Die genannten Präparate* –
Empfänger gezielt nachuntersuchen
Zahl der Meldungen

Antihämophiles Humanplasma
Antihämophiles Kryopräzipitat
ANTITHROMBIN III (Alpha)
CYTOTECT**,**** (Biotest)
Erythrozytenkonzentrat
FACTORATE HT (Armour)
Faktor VIII ANTIHAEMOPHILIC
Faktor VIII HS
FAKTOR VIII- HT HYLAND (Travenol)
Faktor VIII Konzentrat
FAKTOR VIII S-TIM 2 IMMUNO (Immuno)
Faktor IX
FAKTOR IX BEHRING (Behring)
FAKTOR IX COMPLEX HUMAN
FAKTOR IX HS BEHRING (Behring)
FAKTOR IX S-TIM 4 IMMUNO (Immuno)
FEIBA (Immuno)
FIBRACCEL (Behring)
FIBROGAMMIN (Behring)
Frischplasma/FFP
HAEMATE (Behring)
HAEMATE HS (Behring)
HUMANALBUMIN BEHRING**** (Behring)
HUMAN FIBRINOGEN BEHRING (Behring)
Immunglobulin****
IMMUNINE STIM PLUS FAKTOR IX (Immuno)
KYBERNIN (Behring)
KYBERNIN HS (Behring)
LYOPLASMA FRISCHPLASMA LYOPHILISIERT
Plasma
PPSB Konzentrat
PPSB KONZENTRAT BEHRING (Behring)
PROTHROMBIN KONZENTRAT BEHRING (Behring)
Prothrombin Konzentrat PPSB
SANDIMMUN (Sandoz)***
Vollblut

1
25
2
1
6
1
45
1
2
12
1
2
1
3
1
1
2
3
2
251
8
1
7
1
1
6
1
1
3
41
2
13
19
1
4

(0/1)
(0/2)
(0/1)
(1/5)
(1/0)
(0/45)
(0/1)
(2/0)
(5/7)
(0/1)
(2/0)
(1/0)
(0/3)
(1/0)
(0/1)
(0/1)
(0/2)
(1/2)
(0/2)
(196/55)
(5/3)
(0/1)
(1/6)
(0/1)
(0/1)
(0/6)
(0/1)
(0/1)
(0/3)
(34/7)
(1/1)
(7/6)
(14/5)
(1/0)
(0/4)

Betroffene Blutzubereitungen*

Albumin****
Blutgerinnungsfaktoren
Erythrozytenkonzentrate
Immunglobuline****
Plasma/FFP
Vollblut

1
453
6
2
6
4

(0/1)
(289/164)
(1/5)
(0/2)
(0/6)
(0/4)

Betroffene Hersteller*

Armour Pharma GmbH
Behringwerke AG
Bezirksinstitut für Blutspende
und Transfusionswesen Berlin
Biotest Pharma GmbH
Immuno GmbH
Sandoz AG
Travenol GmbH

2
344
1

3
4
1
2

 

*

Die BGA-Liste läßt zahlreiche Fragen offen (siehe folgenden Artikel). Die von den Herstellern vorgenommene Kennzeichnung verdächtigter Präparate wurde offensichtlich vom Amt bearbeitet. Zum Teil sind die Angaben nicht konsistent. So wird bei einem Patienten mit AIDS, der 1983 HAEMATE erhielt, das Datum des Auftretens der Schadwirkung (UAW) mit 1977 angegeben. Bei fast jedem fünften Bericht fehlt ein Datum des Eintritts der UAW. Dieser Mangel erscheint bei der relativ guten ärztlichen Kontrolle von Blutern schwer verständlich.

**

Bei dem in der BGA-Liste als verdächtigt genannten Misoprostol-Ulkusmittel CYTOTEC dürfte es sich um einen Schreibfehler handeln. Gemeint ist offensichtlich das Zytomegalie-Immunglobulin CYTOTECT.

***

Kein Blutderivat, sondern aus einem Pilz gewonnenes Ciclosporin-haltiges Immunsuppressivum, dennoch als allein verdächtigt gekennzeichnet.

****

Anschuldigung derzeit nicht nachvollziehbar.

Mit 344 HIV-Infektionen, die Blutderivaten der Behringwerke angelastet werden, führt die Hoechst-Tochter mit Abstand die Liste der betroffenen Hersteller an. Es mag sich dabei um ein Artefakt handeln, weil die Firma im Gegensatz zu anderen die Meldepflicht anscheinend ernst nahm, wenn z.B. Entschädigungsansprüche von HIV-Infizierten geltend gemacht wurden. Eine Fußnote unter der vom BGA vorgenommenen Auswertung nach Herstellern läßt auf herstellerfreundliche Interpretation schließen:

"Die genannten Zahlen treffen keine Aussage über die Qualität der Blutprodukte, da die Art der Produkte unterschieden und die Meldebereitschaft berücksichtigt werden müssen. So hat sich insbesondere die Firma Behring frühzeitig um zuverlässige Inaktivierungsverfahren bemüht."

Diese Anmerkung veranschaulicht die Dimension des Problems. Wenn so viele Infektionen selbst bei dem Hersteller auftreten, der frühzeitig für zuverlässige Virusinaktivierungsverfahren gesorgt haben soll, ist bei den Blutgerinnungsfaktoren und sonstigen Blutderivaten der übrigen Hersteller eine hohe Dunkelziffer anzunehmen. Die meisten Firmen, allen voran Immuno (Heidelberg/Wien), und das DRK kommen offensichtlich ihrer Verpflichtung zur Meldung unerwünschter Wirkungen nicht nach, ohne daß im BGA etwas dagegen getan wird.

Aufklärungsbedürftig bleiben Lücken in der BGA-Dokumentation. Für das Faktor-IX-Konzentrat PPSB BIOTEST ordnete das BGA im April 1990 das Ruhen der Zulassung an, weil bei sieben Patienten mit Hämophilie B unter Anwendung des Präparates eine HIV-Serokonversion beobachtet wurde (vgl. a-t 5 [1990], 50/Seite 105 dieser Ausgabe). Die zwischenzeitlich auf elf angewachsenen Berichte zu PPSB BIOTEST lassen sich in der BGA-Liste ebensowenig ausmachen wie Blutgerinnungsfaktor-VIII-haltige Arzneimittel des Landesverbandes des DRK Niedersachsen, Oldenburg und Bremen, für die das BGA wegen HIV-1/2-Übertragungsrisiko ein Stufenverfahren zur Risikoabwehr eingeleitet hat (Bundesgesundheitsamt, Tätigkeitsbericht, MMV München, 1993, S. 435). Nach Anordnung eines Tests zum Ausschluß von Blutspendern mit HIV-Infektion im Oktober 1985 fällt die Zahl der Meldungen neuer HIV-Infektionen durch Blutprodukte in den Folgejahren auffällig langsam ab (vgl. Abb.) – die nachvollziehbare Folge fehlender Rückrufe ungetesteter Ware.

WIDERSPRÜCHE IN DER BGA-LISTE
... die Kunst der Desinformation

  • Die BGA-Liste gibt nur einen Teil der möglicherweise infizierten Präparate wieder. Auch andere aus Blut hergestellte Arzneimittel können für eine HIV-Infektion verantwortlich sein, beispielsweise Fibrinkleber u.a.
  • Mindestens 1836 HIV-Infektionen bei Blutern waren dem BGA Mitte des Jahres bekannt (Bundesgesundheitsbl. 7 [1993], 298). Es fehlt eine Zuordnung dieser Meldungen zu Herstellern/Handelspräparaten. Wir hegen Verdacht, daß über den Meldeweg der anonymisierten Laborberichterstattungspflicht HIV-Infektionen durch Blutderivate einiger Hersteller (z.B. Biotest?) und des Deutschen Roten Kreuzes "versteckt" wurden.
  • Behringprodukte werden häufig als Auslöser von HIV-Infektionen genannt. Keinesfalls läßt sich aus den Daten folgern, daß Blutderivate anderer Hersteller sicherer sind.
  • Auch Infektionen durch Behringprodukte sind unvollständig erfaßt. Der Hersteller kommentiert das Fehlen des ersten deutschen PPSB-Falles vom Frühjahr 1986: "Wir haben wiederholt mit dem BGA deshalb Schriftverkehr geführt. ... Wahrscheinlich ist er in der BGA-Liste unter den direkt beim BGA eingegangenen Fällen erfaßt. Uns ist aufgefallen, daß die BGA-Liste erst im Jahre 1987 beginnt. Wegen des nahen Jahreswechsels wurde der Fall vielleicht erst 1987* im BGA erfaßt" (U. QUAST, Behringwerke, Fax vom 22. Okt. 1993).
  • *  Fehlinterpretation der Behringwerke?

  • Es ist nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien das BGA die Herstellerangaben bearbeitet hat. Nach Hinweisen der Behringwerke findet sich in der amtlichen Liste ein Fall, bei dem nur zwei Mittel als verdächtigt gekennzeichnet sind, während nach Firmenunterlagen sechs Mittel in Frage kommen.
  • Wie erklärt sich die auffällige Häufung von Meldungen zu Faktor-VIII-Präparaten wie HAEMATE, während ebenfalls absatzsta
  • rke PPSB-Präparate, die nach den gleichen Methoden aufbereitet werden, nicht genannt oder unterrepräsentiert sind?
  • Offensichtliche Erfassungsfehler (Dateninkonsistenz infolge fehlender Glossare?) begrenzen die Aussagekraft der amtlichen Liste. In zwei Fällen liegt das Datum der unerwünschten Wirkung Jahre vor Anwendung des verdächtigten Mittels. In einem Fall gilt das Ulkusmittel CYTOTEC (Misoprostol) als verdächtigt, wahrscheinlich eine Verwechslung mit dem Immunglobulin CYTOTECT. Zudem wird das nicht aus Blut hergestellte Immunsuppressivum Ciclosporin (SANDIMMUN) allein für eine HIV-Infektion verantwortlich gemacht.
  • Nach dem Gipfel in der Meldehäufigkeit von HIV-Infektionen durch Blutprodukte im Jahr 1985 geht die Zahl der Meldungen (nach Spalte "Datum- UAW" der BGA-Liste) in den Folgejahren nur langsam zurück. Nach Anordnung der HIV-Testung von Blutspendern wurden Blutprodukte aus ungetesteten Spenden nicht vom Markt genommen.

FAZIT: Die verspätet dem zuständigen Ressortminister vom BGA überantwortete sogenannte Mitternachtsliste gibt keinen Anhalt für das Ausmaß der Gefährdung der HIV-Übertragung durch aus menschlichem Plasma hergestellte Medikamente. Wer in den letzten zehn Jahren Blutprodukte wie die in der BGA-Liste genannten Mittel erhalten hat, sollte gezielt nachuntersucht werden (HIV-Antikörper-Test), wenn nachweislich der Krankenblätter ein derartiges Präparat angewendet wurde. Betroffen sein können Personen mit bekannten Gerinnungsstörungen oder größeren Blutverlusten, Operationen, Biopsien/Laparoskopien, Nachgeburtsblutungen u.a. in diesem Zeitraum.

Richtigstellung: In der sogenannten "Mitternachtsliste" mit 373 Meldungen zu Blutprodukten in Verbindung mit HIV-Infektionen (a-t-Sonderausgabe 10 [1993], 101) werden Antithrombin-Präparate genannt, neben KYBERNIN auch generisch bezeichnetes Antithrombin III. ANTITHROMBIN III der Firma Alpha ist in der Liste nicht aufgeführt, –Red.


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