...überschreibt "Die Zeit" vom 15. Sept. 1995 den Verdacht, eines der gebräuchlichsten deutschen Medikamente für Angina
pectoris- und Hochdruckkranke erhöhe die Gefahr, einen Herzinfarkt zu erleiden oder vorzeitig zu sterben. Seit März 1995 kennt die Firmenleitung von
Bayer-Leverkusen den Datenhintergrund des Verdachts gegen den Vasodilatator Nifedipin (ADALAT u.a.). Daß ausgerechnet ein seit Jahrzehnten
verfügbares Arzneimittel mit weltweitem Renommée und hohem Verordnungsgrad an den Pranger gestellt wird, macht die Sache so prekär und
erfordert Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Wahrheit.
a-t-Leser erinnern sich vielleicht des Vorabhinweises in der April-Ausgabe auf Seite 33. Dort gingen wir auf die schon damals bekannten nachteiligen Wirkungen der
Kalziumantagonisten gegenüber dem durch einschlägige Literatur erstklassig ausgewiesenen Nutzen der Betarezeptorenblocker und Diuretika
ein.
Nifedipin stammt aus der Stoffklasse der Dihydropyridine. Die für die großen Volkskrankheiten entwickelten Wirkstoffe mit gefäßerweiternden
Eigenschaften werden für zentrale, koronare und bestimmte periphere Durchblutungsstörungen sowie als Antihypertonika eingesetzt. Wegen des rasch
einsetzenden und meßbaren Erfolgs sei es im EKG bzw. mit dem RIVA-ROCCI-Manometer folgt den jetzt einlaufenden Berichten ein Aha-Effekt.
Sie rücken erneut die Frage ins Blickfeld, ob Surrogatkriterien wie Beschwerdelinderung oder Blutdruckabfall als Zielparameter ausreichen, um den Wert eines
Arzneimittels zu bestimmen. Wenn die Einstellung eines Bluthochdrucks gelingt, das Grundleiden aber den schicksalhaften Verlauf nimmt oder den Betroffenen sogar
vorzeitig sterben läßt, könnten Zulassungsbehörden künftig gezwungen sein, neue Hochdruckmittel nur noch dann freizugeben, wenn
Schlaganfall, Infarkthäufigkeit und andere typische Folgeerkrankungen nachweislich abnehmen und die Lebenserwartung steigt.
Bestätigt sich der Verdacht auf Zunahme von Morbidität und Mortalität, der zumindest für das rasch anflutende und kurzwirkende Nifedipin
durch eine Reihe von Studien untermauert wird, entsteht in ähnlicher Weise Handlungsbedarf wie vor einigen Jahren nach der Entdeckung
rhythmusdestabilisierender Wirkungen bestimmter Antiarrhythmika. Hier sind uns die Ergebnisse der CAST-Studie in unguter Erinnerung. Der Versuch,
Herzrhythmusstörungen nach Herzinfarkt z.B. mit Flecainid (TAMBOCOR) zu unterdrücken, mußte wegen häufigeren Herztodes vorzeitig
abgebrochen werden (a-t 6 [1992], 54).
Der Verweis auf neuere Dihydropyridine und andere Kalziumantagonisten der zweiten und dritten Generation "wir sollten nichts an lang wirkenden
Formulierungen von Nifedipin aussetzen wegen möglicher Sünden kurzwirkenden Nifedipins" (Dear Doctor Letter, für Bayer/USA) wird
frühestens nach der Jahrtausendwende auf Stichhaltigkeit zu überprüfen sein. Dann wird das Ergebnis einer Studie zur Morbidität und
Mortalität bei Hypertonie (ALLHAT) mit 40.000 Teilnehmern aus 400 klinischen Zentren in den USA vorliegen, und man wird eine kompetentere Nutzen-Risiko-
Abschätzung für einen größeren Querschnitt des therapeutischen Arsenals geben können.
Das Konzept der Koronardilatatoren ist in der Medizingeschichte vielfach ad absurdum geführt worden. Warum erinnern sich heute kardiologische
Fachgesellschaften nicht an Dipyridamol (PERSANTIN u.a.; a-t 4 [1987], 40), Prenylamin (SEGONTIN; a-t 9 [1986], 88), Oxyfedrin (ILDAMEN; Arzneimittelkursbuch
'92/93, Seite 418) und Lidoflazin (CLINIUM; a-t 10 [1987], 90)? Tempora mutantur. War es in den 60er Jahren ein therapeutisches Muß, mit PERSANTIN
Herzinfarkten vorzubeugen und sie zu behandeln, so wird heute diese Substanz als Provokationstest verwendet, um in der Koronarangiographie
Gefäßengpässe zu provozieren.
Unterstellen wir, methodische Fehler würden die Aussagen der neuen Studien vergröbern, wird die Frage akut, auf welche Seite des Nichtwissens wir uns
schlagen sollen. Wer unnötige Risiken vermeiden möchte, wartet ab, bis die Langzeitsicherheit neuerer Kalziumantagonisten bzw. ihrer entsprechenden
Retard-Darreichungsformen außer Frage steht und verläßt sich auf die sichere Seite der Erkenntnis, wie sie für Thiazid-Diuretika und
Betarezeptorenblocker seit Jahren gegeben ist.
Die Konkurrenz wird versucht sein, den mittlerweile ergrauten Ziehvater der Kalziumantagonisten mit eigenen Produkten zu substituieren und Sonderstellungen ihrer
Erzeugnisse im Vergleich zu Nifedipin zu konstruieren. Ob als Beleg für die Unbedenklichkeit die fehlende kompensatorische Sympathikusaktivierung
genügt, wird sich erst in einigen Jahren zeigen, wenn z.B. auch das Amlodipin (NORVASC) in die Jahre gekommen ist, in denen sich jetzt Nifedipin
befindet.
Weltweit wackelt ein Umsatz von mehr als 10 Milliarden DM, und die Führungsetage von Bayer verliert den Durchblick: Auf dem jüngsten Kongreß
der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie in Amsterdam versuchte der Leverkusener Konzern, die Ausgewogenheit der öffentlichen
Erörterung des Problems wiederherzustellen unter Ausschluß der Schlüsselperson, die mit einer Metaanalyse die Lawine ins Rollen gebracht
hatte. Für die Pressekonferenz ließ Bayer als Interpreten der neuen Erkenntnisse Meinungsbildner der alten Bayer-Schule aus Übersee einfliegen.
Industrierepräsentanten erweckten mit ihrem Applaus dort den Eindruck, der Nifedipin-Kritiker befinde sich mit der Wissenschaft auf Kriegsfuß.1
Doch inzwischen teilt das National Institute of Health in den USA seine Bedenken (siehe unten). Daß ausgerechnet der größte Sponsor des
Amsterdamer Kongresses die Meinungsvielfalt eingeebnet und sein umstrittenes Produkt rehabilitiert sehen möchte, ist ein neues Thema für den
nächsten Kongreß der Gesellschaft für Europäische Kardiologie in Birmingham. Bis dahin wird die Bayer-Mannschaft mit ihrer Argumentation
wieder Tritt gefaßt haben. Vor wenigen Tagen noch ließ die Firma in den USA einen "Dear Doctor letter" mit Briefkopf eines texanischen
Internisten verschicken. Dieser hatte den Nifedipin verteidigenden Brief im Auftrag des Konzerns verfaßt. Dabei "vergaß" das Unternehmen,
Bayer als Absender anzugeben.2
1 HORTON, R.: Lancet 346 (1995), 586
2 HORTON, R.: Lancet 346 (1995), 891
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