Nach Vitamin E (a-t 6 [1989], 60), Selen (a-t 2 [1987], 22) und Coenzym Q10 (a-t 7 [1993], 72) heißt
das neue Wundermittel Melatonin. Dem körpereigenen Stoff werden Wirkungen gegen Krebs und Altern nachgesagt. In den USA findet das dort frei
erhältliche Hormon reißenden Absatz. In Großbritannien gelten seit kurzem Verkaufsbeschränkungen. Etwa seit März wird Melatonin auch
in Deutschland angeboten1 60 Kapseln zu 2,5 mg für rund 30 DM. Anfang November löste ein Fernsehbeitrag2 eine Welle von
Nachfragen aus. Inzwischen erklärt das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin die Vermarktung als
"Nahrungsergänzungsmittel" für illegal, da Melatonin pharmakologische Wirkungen entfaltet, aber nicht als Arzneimittel zugelassen
ist.3
Doch wer in namhaften Pharmakologiebüchern den Stand der Melatonin-Forschung nachlesen möchte, stößt durchweg auf Fehlanzeige. Das
Neurohormon wird in der Zirbeldrüse (Glandula pinealis) über zwei enzymatische Schritte aus Serotonin gebildet. Das lipophile Molekül hat
Zwittereigenschaften. Es wirkt einerseits wie Neurotransmitter über Rezeptoren auf der Zellmembran (ähnlich wie Serotonin, Adrenalin), andererseits wie
Steroidhormone (z.B. Glukokortikoide) über Rezeptoren im Zellkern. Melatoninrezeptoren im Zellkern menschlicher B-Lymphozyten unterdrücken die
Expression des Schlüsselenzyms der Leukotriensynthese (5-Lipoxygenase). Leukotriene spielen bei der Allergie und Immunreaktion eine Rolle.4
Experimentell wirkt das Neurohormon als doppelt so starker Radikalfänger wie Vitamin E (a-t 11 [1994],
104).5 Melatonin soll die sog. natürlichen Killerzellen stimulieren und streßbedingter Immunsuppression entgegenwirken.6 Italienische
Ärzte beobachten Besserung einer chronischen, steroidresistenten Sarkoidose bei zwei 34- und 45jährigen Frauen unter
Melatoninbehandlung.7
Das hauptsächlich nachts ausgeschüttete Neurohormon steuert offensichtlich die "innere Uhr" mit Schlaf/ Wachrhythmus. Licht
bremst die Sekretion.6 Bei blinden Menschen ist der zirkadiane Rhythmus oft beeinträchtigt.8 Mit zunehmendem Lebensalter sinkt die
Ausschüttung.6 Bei alten, unter Schlaflosigkeit leidenden Menschen finden sich niedrigere nächtliche Spitzenspiegel als bei Gleichaltrigen mit
ungestörtem Schlaf.9 Starke elektromagnetische Felder ("Elektrosmog") senken bei Tieren die nächtlichen
Spitzenwerte.10
Als Schlafmittel wird Melatonin seit Jahren mit einigem Erfolg klinisch untersucht.11 Eine von US Air Force und NASA unterstützte
Doppelblindstudie12 mit gesunden jungen Männern belegt die dosisabhängige hypnotische Wirkung geringer Dosen (0,1 mg bis 10 mg)
während des Tages. Dabei erreichen die Plasmaspiegel nach Einnahme kleiner Dosen von 0,1 mg bis 0,3 mg also dem Zwanzigstel bis Fünfzigstel
oft verwendeter Dosierungen Werte, die den natürlichen Spitzenspiegeln der Nacht entsprechen. Die Autoren vergleichen das Muster der gemessenen
Veränderungen mit dem der Benzodiazepine. Als "Schlafmittel" scheint Melatonin keine Hangoversymptomatik auszulösen. Gestörter
zirkadianer Rhythmus durch Schichtarbeit oder Zeitverschiebung bei Fernreisen ("jet lag"; a-t 9 [1986], 81) sowie Schlafstörungen z.B. bei Blindheit
könnten Anwendungsgebiete werden. Langzeitstudien zu Nutzen und Risiken fehlen.1
Vermutet werden Einflüsse auf den Sexualhormon-Haushalt. Erhöhte Spiegel sollen die Freisetzung des Gonadotropin-Releasing-Hormons
hemmen. Eingenommenes Melatonin stimuliert die Prolaktin-Ausschüttung. Bei Säugetieren mit jahreszeitlich gebundener Aufzucht der Nachkommen
reguliert die längere Melatonin-Sekretion in Winternächten offensichtlich die Fortpflanzungsfähigkeit. In den Niederlanden wird die Kombination mit
dem Gestagen Norethisteron (MICRONOVUM u.a.) als orales Kontrazeptivum erprobt.6 Von der Unterdrückung ovulatorischer Zyklen durch ein
östrogenfreies Kontrazeptivum erhofft man sich Schutz vor Brustkrebs bei Langzeitanwendung.13 Im Laborversuch verzögert Melatonin
das Wachstum bestimmter Brustkrebs-Zellinien.6 Die kombinierte Anwendung mit Tamoxifen (NOLVADEX u.a.) wird bei Mammakarzinomen, die unter dem
Antiöstrogen fortschreiten, erprobt.14
Über die langfristigen Risiken des in unphysiologischen Dosierungen zugeführten, akut offensichtlich wenig toxischen Hormons ist wenig bekannt.
Immunstimulierende Effekte könnten Personen mit Autoimmunerkrankungen wie Kollagenosen oder Rheuma gefährden. Die Behandlung von
Schlafstörungen und Depressionen mit der Serotonin/Melatonin-Vorstufe L-Tryptophan (KALMA u.a.) mußte wegen des Eosinophilie-Myalgie-Syndroms
abgebrochen werden (a-t 5 [1991], 47).
FAZIT: Das Zirbeldrüsenhormon Melatonin steuert vermutlich den Schlaf-/Wachrhythmus. Bislang wurde die Wirksamkeit von Melatonin vor allem bei
Schlafstörungen von Personen mit beeinträchtigter Zirkadianrhythmik untersucht. Schichtarbeiter, Blinde, Flugzeugbesatzungen und alte Menschen mit
gestörter Melatoninsekretion können profitieren. Für Schlafstörungen anderer Genese fehlen Wirksamkeitsbelege. Wegen der möglichen
Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit wird von der Einnahme auch kleiner Dosen (0,1 mg bis 10 mg) am Tage abgeraten. Höhere Dosen (über
10 mg) können Stimmung und Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Aufgrund seiner vielfältigen Wirkungen und der unbekannten
Langzeitverträglichkeit sollte das Neurohormon derzeit nur in kontrollierten Studien angewendet werden.
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