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                            a-t 1996; Nr. 4: 33-5nächster Artikel
Im Blickpunkt

BSE: FÜR EIN "K.O."-PRINZIP BEI NUTZLOSEN
PRÄPARATEN MIT RINDERBESTANDTEILEN

Seit März dieses Jahres hält auch die britische Regierung einen Zusammenhang zwischen der Rinderseuche BSE, besser TSE (transmissible spongiform encephalopathy) und der CREUTZFELDT-JAKOB-Krankheit (CJK) des Menschen für wahrscheinlich. Ein Neurologe widerruft im Editorial des jüngsten British Medical Journal seine noch vor vier Monaten verbreitete Ansicht der Unbedenklichkeit des Genusses von Fleisch infizierter Tiere: Fleisch und (weniger wahrscheinlich) Milch sind als mögliche Infektionsquelle anzusehen.1 Anlaß für die Meinungsänderungen sind Infektionen junger Menschen.2,3 Früher galt CJK als Erkrankung der zweiten Lebenshälfte. Jetzt sind in Großbritannien mindestens zehn Personen mit einem Durchschnittsalter von unter 30 Jahren betroffen.

Prionen (proteinaceous infectious organism)-Erkrankungen sind seit langem bekannt, zum Beispiel die Traberkrankheit (Scrapie) beim Schaf oder das Kuru-Syndrom in Neuguinea. Das neuropathologische Bild der jetzt erkrankten jungen Briten ähnelt dem der Kuru-Krankheit,1,4 die durch rituellen Verzehr menschlichen Hirns übertragen wurde. Prion-Proteine finden sich überwiegend in Kleinhirn und den an der Programmierung von Bewegungsabläufen beteiligten Basalganglien.4 Die Erkrankung fällt zunächst durch Angst, Depression und Verhaltensstörungen auf. Wochen bis Monate danach folgen Gangunsicherheit, Ataxie und Demenz. Durchschnittlich nach 13 Monaten endet sie tödlich, im Vergleich zu 6 Monaten bei älteren CJK- Patienten.

Nachweisverfahren für den Erreger der BSE zu Lebzeiten der Betroffenen fehlen.5 Ein hochsensitives und spezifisches Testverfahren zur Frühdiagnose im Liquor soll bald vorgestellt werden.1 Die Infektion verläuft bei mehr als 20 Säugetierarten tödlich, spricht auf keine Behandlung an und verursacht trotz massiver schwammartiger Veränderung der Gehirnstruktur keine entzündlichen Infiltrate. Antikörpersuchtests versagen. Spongiforme Enzephalopathien können vererbt bzw. durch Infektion übertragen werden. Mit der Vormilch (Kolostrum) einer jungen CJK- Patientin ließen sich Mäuse infizieren. Sogar die Geruchsnerven werden als möglicher Infektionsweg diskutiert.6 Scrapie-Erreger bleiben in einem Versuch drei Jahre in der Erde infektiös. Dies mag zur Erklärung beitragen, warum gesunde Schafherden auf Brachland erkrankt sind, auf dem Jahre zuvor infizierte Tiere geweidet haben.7

Die Verarbeitung erkrankter Schafe und sogar BSE-befallener Rinder zu Tiermehl bei gleichzeitiger Senkung der Temperatur (siehe Kasten) begünstigt offenbar die Selektion besonders virulenter Prione.8 Die Passage durch einen Zwischenwirt kann die Infektiosität verändern: Zuvor gegen den Erreger resistente Hamster erkranken nach Passage des infektiösen Agens durch Mäuse an spongiformer Enzephalopathie.9 Reinfizierung von Schafen durch den BSE-Erreger könnte auch Schaffleisch für den Menschen zum Problem werden lassen. Selbst wenn die britische Regierung jetzt Millionen britischer Rinder vernichten läßt, bleibt offen, ob Schweine und Geflügel, die ebenfalls kontaminierte Nahrung erhielten und üblicherweise vor Ausbruch der Erkrankung geschlachtet werden, zur Verbreitung der Infektion beitragen.1

10 JAHRE BSE: EINE CHRONOLOGIE

In Großbritannien gelten bis zu 30% der Schafherden als Scrapie-befallen. Dennoch war die spongiforme Enzephalopathie bis Ende der 80er Jahre im Tierreich eine Rarität.

Ab 1979: Um Kosten zu sparen, wird in Großbritannien die Temperatur bei der Herstellung von Tier- und Knochenmehl von 130° C auf 110° C und weniger gesenkt und auf die Weiterbehandlung mit organischen Lösungsmitteln verzichtet. Dies ermöglicht den Ausbruch einer neuen "Zivilisationskrankheit".

1983-1986: Die ersten Rinder erkranken an BSE. Sie wurden mit "Kraftfutter" gefüttert, das aus an Scrapie erkrankten Schafen hergestelltes Tiermehl enthielt.

1987-1988: Mitte 1987 erkranken in Großbritannien 10 Rinder pro Monat an BSE, Anfang 1988 70, Ende 1988 300.

1988-92: Mit Tiermehl oder britischem Billigfutter gefütterte Haus- und Zootiere werden infiziert. Die Erkrankung von Katzen widerlegt die Hypothese über "Spezies-Barrieren" für Prione. Das Verbot der britischen Regierung, Schafsinnereien an Rinder zu verfüttern, wird offensichtlich nicht eingehalten. Britisches Tiermehl und britische Kälber werden weiterhin exportiert.

1990: Erste BSE in der Schweiz, ca. 20.000 BSE-Fälle in Großbritannien. Deutschland verfügt zeitweise ein Importverbot für britisches Rindfleisch.

1991: 40.000 BSE-Fälle in Großbritannien. Die Schweiz verbietet Arzneimittel mit Rinderbestandteilen. In Deutschland fordert das BGA zwar Auskünfte der Hersteller an, führt aber keine Maßnahmen durch (a-t 4 [1991], 37). Erste BSE in Frankreich.

1992: 17 BSE-Fälle in der Schweiz, 50.000 in Großbritannien (Mai), wöchentlich kommen 500 hinzu. Jeder vierte Milchbetrieb ist betroffen (Milchkuh lebt länger als Schlachtvieh, das noch in der Inkubationszeit verwertet wird). Übertragung der BSE auf Krallenaffen, die dem Menschen als Art relativ nahestehen. Ein importiertes Rind erkrankt in Deutschland.

1993: 34 BSE-Fälle in der Schweiz, 5 in Frankreich, 3 in Portugal, 100.000 in Großbritannien (April), Neuerkrankungen jetzt 900 pro Woche. Der zweite Rinderfarmer verstirbt an CJK. Großbritannien liefert 56 Tonnen Rinderleber nach Deutschland für die Herstellung pharmazeutischer Erzeugnisse.

1994: 81 BSE-Fälle in der Schweiz (Juni), 130.000 in Großbritannien. Kälber aus BSE-Herden gelangen über Frankreich oder Holland nach Deutschland. Das deutsche Bundesgesundheitsamt fordert im Rahmen des Stufenplans Auskünfte der Hersteller, die eine Risikoabschätzung der Infektiosität erlauben sollen. Die ab Juli geltende Meldepflicht für übertragbare spongiforme Enzephalopathien des Menschen ist in Fachkreisen bis heute wenig bekannt.

1995: Die Bundesregierung lockert Einfuhrbeschränkungen für britisches Rindfleisch. Im Mai 100 BSE-Fälle in Spanien, 120 in Portugal und 150 in Frankreich. Insgesamt verendeten in Großbritannien bisher rund 160.000 Rinder an BSE. Vier von insgesamt 115.000 britischen Rinderfarmern sind an CJK verstorben (als "normal" gilt 1 Erkrankung pro 1 Million Einwohner und Jahr).

1996: Etwa 1,5 Millionen infizierte Rinder sollen in Großbritannien verzehrt worden sein (pro Person 80 Mahlzeiten). Mindestens zehn jüngere Briten sind an CJK erkrankt und zwei jüngere Deutsche. Erstmals räumt die britische Regierung einen Zusammenhang mit BSE ein. In Deutschland gibt es mehr als 5.000 Mastrinder, die aus britischen BSE-Herden stammen.

Angesichts der Risiken des Rinderhirnextraktes CRONASSIAL und von Frischzellen warnten wir 1990 vor der möglichen Übertragung der spongiformen Enzephalopathie durch Arzneimittel (a-t 8 [1990], 69). Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte formulierte 1994 im Rahmen des Stufenplans Sicherheitsanforderungen für Arzneimittel, die unter Verwendung von Material aus Rindern hergestellt sind. In eine Punkteskala gehen Kriterien wie Herkunftsland, Ausgangsmaterial, Inaktivierungsverfahren, Verdünnungsgrad des Rindermaterials, Tagesdosis und Applikationsart ein. Die bei den Herstellern erhobenen Selbstauskünfte lassen sich zum Teil nicht prüfen. Einige wenige Präparate kamen in der Folgezeit vom Markt oder wurden in der Zusammensetzung verändert. Heute sollen nach Kenntnis des Bundesinstituts keine Arzneimittel mit Rinderbestandteilen mehr erhältlich sein, die nicht den "Sicherheitsanforderungen" genügen.

Die amtlichen Überlegungen berücksichtigen nicht den Nutzen der zu prüfenden Arzneimittel. Wenn selbst Rinderorganzubereitungen wie NEYIMMUN, die zur "Immunstimulation" oder für andere umstrittene Indikationen angeboten werden, die Kriterien des Amtes erfüllen, wird das Ziel des vorbeugenden Patientenschutzes verfehlt. Nur für Arzneimittel, deren Nutzen für die beanspruchten Indikationen überprüft und gesichert ist, macht die amtliche Risikoabschätzung Sinn. Medikamente ohne diesen Nachweis hätten u.E. nach dem "K.O."-Prinzip vom Markt verschwinden müssen. Die norwegische Gesundheitsbehörde untersagte bereits vor fünf Jahren die Abgabe von Organextrakten menschlicher oder tierischer Herkunft, da diese zwangsläufig inakzeptable Risiken der Infektion und Allergie beinhalten (a-t 12 [1991], 116).

Vor zwei Jahren mochte Hoechst für Rinderinsulin (z.B. DEPOT-INSULIN HOECHST CR) eine Übertragung von BSE nicht ausschließen (a-t 5 [1994], 47).10 Heute dienen die Berechnungen nach dem amtlichen Muster als Argument für Unbedenklichkeit.11 Gentechnisch hergestellte Produkte gelten allgemein als weniger verdächtig. Bovines Material wird allerdings auch für Zellkulturen verwendet, aus denen gentechnologisch Arzneimittel hergestellt werden.8 Neben dem aus Rinderlungen hergestellten Lungensurfactant (ALVEOFACT, SURVANTA)* für Frühgeborene mit Atemnotsyndrom (a-t 4 [1990], 38) steht aus Schweinelunge (CUROSURF) gewonnenes oder künstliches Surfactant (EXOSURF, a-t 7 [1992], 66) zur Verfügung.

Heparin soll in Deutschland nur noch aus Schweinedarm gewonnen werden. Wegen des immensen Verbrauchs in Parenteralia und Venensalben, die in immer höherer Konzentration auf den Markt gelangen, besteht Verdacht, daß Bedarfslücken an Rohmaterial auf dem Weltmarkt mit Ware unklaren Ursprungs (Tierart, Land) gefüllt werden. Zumindest durch direkte Inokulation läßt sich BSE auch auf das Schwein übertragen.12 Die Indikation zur Heparinisierung bei mittlerem bis hohem Thromboembolierisiko, deren Nutzen gesichert ist, steht jedoch nicht in Frage (a-t 6 [1994], 51).

Laktose, Zusatzstoff für zahlreiche Arzneimittel und Kosmetika, kann kontaminiert sein, wenn die Milch aus befallenen Herden stammt. Kosmetika und arzneiliche Hautexterna bergen ein Restrisiko, wenn kontaminierte Präparate auf geschädigte Haut aufgetragen werden oder durch Injektion in die Blutbahn gelangen wie Plazentaextrakt oder Rinderkollagen. Für Gelatine, sofern sie aus Rinderteilen hergestellt wird, sind nur gesunde Tiere (BSE-freie Bestände, Länder ohne BSE, keine Tiermehlverfütterung) zu verwenden. Selbstverpflichtungen von Produzenten, keine Rohstoffe aus England zu verwerten,13 laufen angesichts des unüberschaubaren Welthandels über Drittländer ins Leere. Unsere Bedenken richten sich besonders auf die in der Medizin breit und in großen Mengen infundierten Gelatine-haltigen Plasmaexpander. Wer schenkt einer nicht überprüfbaren Regelung für eine in Massen hergestellte Grundsubstanz Vertrauen, wenn die Kontrolle selbst in überschaubaren Bereichen versagt. So wurde noch kürzlich aus menschlichen Leichen illegal entnommene Dura mater von Firmen wie Braun Melsungen und Biodynamics gekauft, ohne die Unbedenklichkeit der Hirnhäute hinsichtlich Infektionen (AIDS u.a.) zu überprüfen.14

Seit 1990 berichteten wir mehrfach über mögliche Infektionsrisiken für den Menschen durch Medikamente, die unter Verwendung von Material vom Rind hergestellt werden (a-t 8 [1990], 69; 12 [1990], 108). Viel zu spät und nur unter Druck einer möglichen Epidemie der CJK in Großbritannien mit unüberschaubarer Zahl von Opfern in den nächsten Jahren wurde ein Importverbot für Fleisch und Fleischprodukte aus Großbritannien und der Schweiz durchgesetzt. Jahre sind seit den ersten Berichten Ende der 80er Jahre vergangen, in denen sich die zuständigen Ministerien und Behörden in Bonn und der EU nicht zu durchgreifenden Maßnahmen entschließen konnten.

Bei Rinderausgangsmaterial ist es zur Zeit technisch unmöglich, BSE-Freiheit zu garantieren. Als Ausweg bleibt nur der Verzicht auf Arzneimittel mit Bestandteilen vom Rind unter konsequenter Abwägung von Nutzen und Risiken (vitale Indikation als Ausnahme).

*

Nach Herstellerangaben von Rindern aus BSE-freien Zuchten (ALVEOFACT: Süddeutschland, SURVANTA: "kein europäisches Land") ohne Tiermehlfütterung gewonnen.


© 1996 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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