Noch aus dem Jahr 1980 datiert eine offizielle Einschätzung, die die Häufigkeit der Benzodiazepin-Abhängigkeit auf 5 bis 10 pro 1 Million
Patientenmonate beziffert. Die langjährige Einnahme von Tranquilizern unter ärztlicher Verordnung und ohne nennenswerte Dosissteigerung wurde nicht
als Abhängigkeitsproblem erkannt. Erst 1981 erschienen zwei kontrollierte Studien, nach denen ein beträchtlicher Anteil von Langzeitanwendern bei
Absetzen mit Entzugssymptomen rechnen muss - Grund für viele, die Medikation beizubehalten. Entzugserscheinungen wie Schlafstörungen oder Angst
imitieren die Beschwerden, derentwegen die Mittel ursprünglich verordnet wurden. Verwechselung mit einem Rückfall liegt nahe.
Eine ähnliche Verkennung von Abhängigkeit mit Langzeitwirksamkeit befürchtet ein britischer Arzneimittelexperte für Antidepressiva,
insbesondere vom Typ der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin (FLUCTIN). Häufigkeit und Intensität der Entzugssymptome
nach SSRI, wie sie sich in einer Fülle von Literaturberichten dokumentieren, sind seiner Meinung nach vergleichbar mit denen unter Benzodiazepinen (vgl. a-t 12 [1994], 120). Hier wie dort sei je nach Dosis und Anwendungsdauer jeder Zweite bis Vierte betroffen. Die Zahl
entsprechender Meldungen zu SSRI an das britische Committee on Safety of Medicines erreichte im März 1997 die 1000er Marke.
Während Entzugsbeschwerden besonders nach Absetzen des rasch eliminierten Paroxetin (SEROXAT, TAGONIS) inzwischen allgemein anerkannt sind,
kommt die Frage einer möglichen Abhängigkeit nicht in den Blick. Ihr Ausmaß lässt sich erst dann einschätzen, wenn man weiß, wie
viele Patienten die Mittel absetzen wollen, aber nicht können. Systematische Untersuchungen zu Langzeitanwendern fehlen. Etwa 30% nehmen Fluoxetin und
Paroxetin länger als ein halbes Jahr ein. Solange man vermeintlich ein chronisches Leiden wirksam behandelt oder Rückfällen vorbeugt,
müssen diese Zahlen nicht alarmieren. In Diskussionsrunden im Internet sprechen Betroffene ihren Verdacht auf Abhängigkeit dagegen klar aus. Hinweise
auf körperliche Abhängigkeit geben auch verschiedene Berichte über Entzugserscheinungen bei Neugeborenen, deren Mütter in der
Schwangerschaft Fluoxetin oder Sertralin (GLADEM, ZOLOFT) eingenommen haben.
In Internetbeiträgen fällt ein weiterer in der medizinischen Literatur zu SSRI wenig beachteter Aspekt auf: die Toleranzentwicklung. Die Wirksamkeit
lässt nach, was mit Dosissteigerung, Präparatewechsel ("SSRI-Karussell") oder Kombination verschiedener Wirkstoffe beantwortet
wird.
Während die Verordnungszahlen für Tranquilizer zurückgehen, werden Antidepressiva zunehmend häufiger verordnet - zwischen 1990 und
1995 hierzulande mit einem Zuwachs von mehr als 60%. Bilden Antidepressiva, insbesondere SSRI, ein neues Glied in der Kette ärztlich verordneter
Suchtdrogen - darunter Appetithemmer, Barbiturate und Benzodiazepine?
MEDAWAR, C.: Internat. J. Risk Saf. Med. 10 (1997), 75
DUKES, G.: Internat. J. Risk Saf. Med. 10 (1997), 67 / ati d
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