Nicht nur Erwachsene leiden unter Migräne. Ungefähr jedes 20. Schulkind und jede(r) 10. Jugendliche erlebt Migränekopfschmerzen,
Kinder im Vorschulalter selten.1 Nach dem 12. Lebensjahr sind Mädchen häufiger betroffen als Jungen,2 weil mit beginnender
Pubertät die Migräne bei Jungen zum Teil für Jahre verschwindet.
Als Ursache der Schmerzen wird eine durch vasoaktive Neuropeptide ausgelöste Entzündung angenommen, die mit Erweiterung von Gefäßen,
Austritt von Plasma in das umliegende Gewebe und Degranulation von Mastzellen einhergeht.3 Bei jedem vierten betroffenen Kind geht den eigentlichen
Kopfschmerzen eine Phase mit zentralnervösen Beschwerden wie Sehstörung, Taubheitsgefühl oder Beeinträchtigung der Kraft (Aura)
voraus.2
DIAGNOSTIK: Ausführliche Anamnese und klinische Untersuchung führen zur Diagnose. Die für Erwachsene anerkannten diagnostischen
Kriterien (IHS*-Klassifikation) lassen sich nicht ohne weiteres auf Kinder übertragen. Abgewandelte Kriterien werden derzeit validiert.4 Migräne soll
danach vorliegen, wenn das Kind bislang fünf Kopfschmerzattacken hatte, die (1-) 2 bis 48 Stunden andauern und zwei der folgenden Merkmale
aufweisen:4-6 Sie treten ein- oder auch beidseitig (insbesondere bifrontal oder bitemporal) auf, pulsieren, nehmen bei körperlicher Belastung zu, sind
mäßig bis stark ausgeprägt und stören den Tagesablauf. Der Kopfschmerz geht außerdem mit Übelkeit, Erbrechen oder Lichtscheu
einher. Zwischen den Attacken sind die Kinder völlig beschwerdefrei. Bei Verdacht auf andere Ursachen wie intrakranielle Raumforderung, Epilepsie oder
ZNS-Infektion sowie bei sich plötzlich ändernder Symptomatik ist weiterführende EEG- und bildgebende Diagnostik angezeigt.
Routinemäßig ist dagegen keine apparative Diagnostik erforderlich.7
Kinder mit Sonderformen wie ophthalmologische, abdominelle, hemiplegische oder Basilaris-Migräne sind durch spezialisierte Ärzte zu betreuen.
ALLGEMEINMASSNAHMEN: Die Kinder sollten Bewältigungsstrategien erlernen, die ihnen helfen, die Migräneattacken möglichst
selbständig zu meistern. Schon das Führen eines Kopfschmerztagebuchs kann dabei hilfreich sein. Es hilft, Art und Häufigkeit der Schmerzen sowie
den zeitlichen Zusammenhang mit möglichen auslösenden Faktoren zu erfassen. Häufig verringern sich allein dadurch die Beschwerden.
Lassen sich Triggerfaktoren wie Stress, Müdigkeit, körperliche Überanstrengung, Lärm, starke Gerüche, gleißendes Licht oder
Nahrungsmittel erkennen, sind diese so weit wie möglich zu vermeiden. Nahrungsmittel als auslösende Faktoren spielen allerdings nur selten eine
Rolle.1 Eine spezielle (oligoantigene) Ernährung wird nur bei nachgewiesener Nahrungsmittelunverträglichkeit und schwerem Migräneverlauf
empfohlen.1,8,9 In einer kontrollierten Vergleichsstudie bleibt eine an vasoaktiven Aminen arme Ernährung (Verzicht auf Käse, Joghurt,
Fleischextrakt, Schokolade, Bananen u.a.) ohne Vorteil.10 Ausreichender Schlaf und regelmäßige Mahlzeiten (insbesondere Frühstück)
sollen das Risiko von Migräneattacken verringern. Im Anfall kann Kältebehandlung, etwa mit Eisbeutel,11 sowie Ruhen in einem abgedunkelten
Raum Schmerzen lindern. Schlafen die Kinder dabei ein, sind die Kopfschmerzen anschließend häufig vorbei.
MEDIKAMENTÖSE THERAPIE: Parazetamol (15 mg/kg Körpergewicht [KG]; BENURON u.a.) oder Ibuprofen (10 mg/kg KG;
NUROFEN u.a.; a-t 1999; Nr. 8: 85) sind Medikamente der Wahl und bei den ersten Schmerzzeichen anzuwenden. Im
direkten Vergleich wirken beide Analgetika gleich gut. Sie lindern mittelschwere bis schwere Migräneschmerzen bei mehr als 50% der Kinder, Plazebo nur bei
einem Drittel.12 Injektionen sind nicht empfehlenswert. Andere nichtsteroidale Antirheumatika als Ibuprofen sind weniger gut geprüft. Bei Versagen
lässt sich ein Versuch mit Naproxen (PROXEN u.a.) oder Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.) rechtfertigen.1 ASS ist wegen der Gefahr der
seltenen, aber lebensbedrohlichen Leber-Hirn-Schädigung (REYE-Syndrom) bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren kontraindiziert, wenn gleichzeitig
fieberhafte Erkrankungen oder Windpocken bestehen (a-t 1989; Nr. 1: 7).
Ein Nutzen von Antiemetika ist für Kinder nicht belegt. Metoclopramid (PASPERTIN u.a.; a-t 1991; Nr. 10: 90
-1) und in geringerem Ausmaß Domperidon (MOTILIUM) gefährden diese zudem durch extrapyramidale Störwirkungen.
Kinder, deren Beschwerden sich unter Standardanalgetika nicht ausreichend bessern, sprechen auch auf Dihydroergotamin (DIHYDERGOT u.a.) nicht
zuverlässig an.13 Schlechte Bioverfügbarkeit, Wiederauftreten der Schmerzen nach erfolgreicher Anwendung sowie medikamenteninduzierter
Kopfschmerz nach mehrfacher Einnahme schränken den Nutzen des Mutterkornalkaloids zusätzlich ein. Die Anwendung lässt sich unseres
Erachtens bei Kindern nicht rechtfertigen. Studien mit Ergotamin (MIGREXA u.a.) bei kindlicher Migräne finden wir nicht.
"Triptane" sind nicht für Kinder zugelassen. Kontrollierte verblindete Studien gibt es nur für Sumatriptan (IMIGRAN). Unter 50 mg bis
100 mg bleiben Migränebeschwerden in zwei Studien im Vergleich zu Plazebo unverändert.14,15 Als Nasenspray soll das Triptan Schmerzen und
weitere Migränesymptome bei Kindern und Jugendlichen dagegen deutlicher verringern als Scheinmedikament.16,17
Die Behandlung schwerer ambulant nicht beherrschbarer Migräneattacken ist unzureichend untersucht. Empfohlen wird die Injektion von Metoclopramid und
ASS (ASPISOL). Intravenöses Dihydroergotamin und subkutanes Sumatriptan werden als Therapieoptionen genannt,8 ohne in kontrollierten Studien
geprüft zu sein.
PROPHYLAXE: Vorbeugende Maßnahmen kommen vor allem bei mehr als zwei bis vier Migräneanfällen pro Monat, starken Schmerzen,
lang anhaltender Aura sowie nicht ausreichender Wirksamkeit oder gravierenden Störwirkungen der Akutmedikation in Betracht. Die Beschwerden sollen sich
anhand eines über mehrere Wochen geführten Migränetagebuchs kontrollieren lassen. Die Prophylaxe soll Häufigkeit, Schwere und
Intensität der Anfälle mindestens halbieren. Der Nutzen lässt sich erst nach zwei bis drei Monaten einschätzen. Wegen des ausgeprägten
Plazeboeffektes ist auch eine zunächst als erfolgreich angesehene Prophylaxe nach einem halben Jahr zu überprüfen.1
Nichtmedikamentöse Prophylaxe: Entspannungsverfahren, autogenes Training oder Biofeedback verringern nach einer Übersicht Häufigkeit
und Dauer von Migräneattacken verglichen mit nichtmedikamentöser Kontrollbehandlung oder Abwarten.18 Die nichtmedikamentösen
Verfahren scheinen mindestens so gut zu wirken wie Medikamente18 und werden als gleichwertige oder erstrangige Behandlungsmaßnahmen
angesehen.1 Im direkten Vergleich verringern sowohl Biofeedback als auch Entspannungstraining Häufigkeit und Stärke der Schmerzen
verglichen mit dem Ausgangsbefund.19 Entspannungstraining ist der Prophylaxe mit Metoprolol (BELOC u.a.) überlegen.19
Zum Nutzen der Vorbeugung mit Akupunktur gibt es nur eine plazebokontrollierte Studie mit 22 Kindern. Die Anfallshäufigkeit soll sich unter echter Akupunktur
von neun auf eine Attacke monatlich verringern und unter "Scheinakupunktur" mit neun monatlichen Attacken gleich bleiben.20 Das Fehlen
jeglichen Plazeboeffektes lässt Zweifel an der Validität der Studie aufkommen.
Medikamentöse Prophylaxe: Nur zu wenigen Medikamenten liegen Daten für Kinder vor. In Vergleichsuntersuchungen zwischen verschiedenen
Mitteln fehlt meist eine Plazebogruppe. Die tatsächliche Wirksamkeit der untersuchten Präparate lässt sich wegen des ausgeprägten
Plazeboeffektes daher meist nicht bewerten. Am besten belegt erscheint der Nutzen des unspezifischen, mit einer Halbwertszeit von zum Teil über drei
Wochen21 sehr lang wirkenden Kalziumkanalblockers Flunarizin (SIBELIUM u.a.; in Deutschland nicht für Kinder zugelassen, jedoch z.B. in
der Schweiz ab 7. Lebensjahr). Der Hinweis in deutschen Fachinformationen "wegen unzureichender Erfahrungen" ist Anwendung "bei Kindern
auszuschließen", erfordert aus haftungsrechtlichen Gründen besondere Aufklärung und Dokumentation in den Krankenakten. Dosierungen von
0,1 mg bis 0,3 mg/kg KG täglich senken Dauer und Häufigkeit von Migräneattacken (von 9 auf 3 Anfälle pro Vierteljahr) besser als Plazebo
(von 10 auf 6 Anfälle pro Vierteljahr).1,22 In Vergleichsstudien mit Propranolol (DOCITON u.a.) oder ASS - allerdings ohne Plazeboarm - wirkt Flunarizin
gleich gut.23,24 Häufig ist mit Appetitsteigerung und Gewichtszunahme, Müdigkeit, seltener mit Depression, extrapyramidalen Symptomen u.a. zu
rechnen (a-t 1996; Nr. 6: 61, 1998; Nr. 4: 43).
Betarezeptorenblocker, Erstwahlmittel bei Erwachsenen, sind bei Kindern unzureichend gegen Plazebo geprüft. Nur für Propranolol liegen -
allerdings widerspüchliche - Daten vor.9 Während in den 70er Jahren eine Verringerung von durchschnittlich elf Migräneanfällen auf
drei innerhalb eines
Vierteljahres beschrieben wurde,25 lässt sich der Nutzen in zwei neueren plazebokontrollierten Studien nicht bestätigen.26,27 Die
Anfallsdauer scheint unter dem Betablocker im Vergleich zu Scheinmedikament sogar zuzunehmen.26
Pizotifen (SANDOMIGRAN u.a.; kontraindiziert für Kinder unter sechs Jahren), ein Antihistaminikum mit Serotonin-antagonistischen Effekten, soll bei
Kindern mit "abdomineller Migräne" (klinisch nur abdominelle Beschwerden bei typischen Migräneäquivalenten im EEG) Häufigkeit
und Schwere der Symptome verringern.28 Linderung von Kopfschmerz bei typischer Migräne ist nicht durch valide plazebokontrollierte Studien
belegt.1,29 Störwirkungen des mit Cyproheptadin (PERITOL) verwandten Mittels wie Gewichtszunahme, Müdigkeit, Übelkeit und
Muskelschmerzen (vgl. a-t 2000; 31: 13) schränken die Anwendung ein.
In niedriger Dosierung von 2 bis 5 mg/kg KG soll auch ASS prophylaktisch wirken. In einer Vergleichsstudie mit Flunarizin verringern beide Wirkstoffe die
Migränehäufigkeit um mehr als die Hälfte bei 75% der Teilnehmer.23 Möglicherweise verlängern sie jedoch auch bei einigen
Kindern die Dauer einer Migräneattacke.23 Plazebokontrollierte Studien zur Prophylaxe kindlicher Migräne mit ASS finden wir nicht.
Für eine Reihe bisweilen empfohlener Mittel wie Trazodon (THOMBRAN), Amitriptylin (SAROTEN u.a.), Nimodipin (NIMOTOP) oder Clonidin (CATAPRESAN
u.a.) liegen keine ausreichenden Wirksamkeitsnachweise vor.1 Homöopathische Mittel sind bei Kindern nicht geprüft. Bei Erwachsenen lassen
sich für Potenzen von Natrium muriaticum, Sepia u.a. keine über Plazebo hinausgehende Effekte belegen.30,31
FAZIT: Für Kinder gelten zum Teil andere Regeln zur Prophylaxe und Therapie der Migräne als für Erwachsene. Wichtig für Diagnose
und Therapie ist das regelmäßige Ausfüllen eines Kopfschmerztagebuchs. Allein dadurch verringern sich häufig schon Beschwerden. Akute
Kopfschmerzen lassen sich meist durch Analgetika wie Parazetamol (BENURON u.a.) oder Ibuprofen (NUROFEN u.a.) ausreichend lindern. Bei Schmerzattacken
sollen sich Kinder in einem ruhigen abgedunkelten Raum hinlegen.
Starke und häufige Migräneattacken lassen sich prophylaktisch beeinflussen. Vorrangig kommen nichtmedikamentöse Maßnahmen wie
Entspannungsverfahren, autogenes Training oder Biofeedback in Betracht. Sie scheinen mindestens so nützlich zu sein wie die medikamentöse
Prophylaxe. Unter den vorbeugend eingenommenen Arzneimitteln ist die Wirksamkeit von Flunarizin (SIBELIUM u.a.) am besten belegt. Ein Nutzen von
Betablockern oder dem Serotonin-Antagonisten Pizotifen (SANDOMIGRAN u.a.) ist für die Prophylaxe der kindlichen Migräne nicht hinreichend gesichert.
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