Die akute Mittelohrentzündung ist die häufigste Diagnose im Kindesalter. Im Alter von drei Jahren sind neun von zehn Kindern mindestens
einmal daran erkrankt, etwa die Hälfte hat bereits drei und mehr Episoden durchgemacht.1
Wie Virusinfekte der oberen Luftwege und oft parallel zu diesen tritt die akute Otitis media vermehrt im Winterhalbjahr auf. Die Anatomie der Ohrtrompete, die bei
Säuglingen und Kleinkindern kürzer und weiter ist und flacher verläuft als bei Erwachsenen, begünstigt die Ausbreitung der Erreger.
Angeschwollene Tubenschleimhaut, selten auch vergrößerte Rachenmandeln, können den normalen Sekretabfluss behindern und eine Infektion
fördern.2,3 Kinder, besonders Jungen, die eine Kindertagesstätte besuchen, Geschwister haben, Tabakrauch ausgesetzt sind oder einen
Schnuller benutzen, erkranken häufiger. Stillen soll dagegen das Risiko senken.1,4
Das Erregerspektrum der akuten Mittelohrentzündung ist seit vielen Jahren konstant: Rund zwei Drittel der Infektionen werden durch Bakterien verursacht, vor
allem Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzae und Moraxella catarrhalis, ein Drittel vermutlich durch respiratorische Viren.2
KLINIK: Meist im Rahmen eines Infekts der oberen Atemwege treten plötzlich heftige Ohrenschmerzen auf, oft verbunden mit Fieber und Reizbarkeit.
Säuglinge und Kleinkinder sind unruhig und greifen häufig zum Ohr. In diesem Alter können auch unspezifische Symptome wie Durchfall oder
Erbrechen im Vordergrund stehen. Plötzlich nachlassender Schmerz und Ohrenlaufen weisen auf eine Spontanperforation des Trommelfells hin.1-
3
Komplikationen sind selten und umfassen Mastoiditis, Meningitis, Hirnabszess, Fazialisparese und Sinusvenenthrombose sowie chronische Otitis media und
Hörminderung bzw. Hörverlust.1
DIAGNOSE: Lässt sich otoskopisch ein mattes, gerötetes und vorgewölbtes Trommelfell erkennen und hat das Kind typische Symptome,
fällt die Diagnose leicht.1-3,5 Rötung des Trommelfells kommt auch bei Fieber oder heftigem Schreien vor und reicht daher allein nicht
aus.1 In Zweifelsfällen kann die pneumatische Otoskopie Hinweis auf eine eingeschränkte Beweglichkeit des Tympanons geben.
Schwierigkeiten kann die Diagnose bei einem gereizten wenig kooperativen Kleinkind bereiten, vor allem, wenn unspezifische Symptome im Vordergrund
stehen2,3 und enge Cerumen-gefüllte Gehörgänge den Durchblick erschweren. Allgemeinmediziner aus neun Ländern gaben in einer
per Fragebogen durchgeführten Untersuchung an, nur bei knapp 60% der unter Einjährigen eine sichere Diagnose gestellt zu haben.5
Blutuntersuchungen oder Erregerbestimmung mittels Parazentese sind in der Regel entbehrlich.3 Differenzialdiagnostisch kommen ein (viraler) Infekt der
oberen Luftwege ohne Mittelohrbeteiligung sowie andere Formen der Otitis (Otitis externa, chronisch seröse Otitis media u.a.) in Betracht.2,3
SYMPTOMATISCHE MASSNAHMEN: Symptomatisch werden abschwellende Nasentropfen wie Xylometazolin (OLYNTH u.a.) und/oder
Antipyretika bzw. Analgetika empfohlen, meist Parazetamol (BENURON u.a.). Ohrentropfen mit Analgetika sind nutzlos. Sie dringen nicht in
die Paukenhöhle ein und erschweren die otoskopische Beurteilung des Trommelfells (vgl. a-t 1992; Nr. 12: 122-
4).3
Nasentropfen sollen die Drainagefunktion der Ohrtrompete wiederherstellen. Plazebokontrollierte Studien mit klinischen Endpunkten finden wir per Medline-
Recherche jedoch nicht. Bei Kindern mit behinderter Nasenatmung im Rahmen einer Erkältung beeinflussen topische Sympathomimetika den Druck im Mittelohr
nicht besser als Kochsalzlösung.6
In einer einzigen randomisierten Studie wird der Nutzen der dreimal täglichen Einnahme von 10 mg/kg Körpergewicht (KG) Ibuprofen (NUROFEN u.a.),
Parazetamol und Plazebo bei 219 Kindern mit akuter Mittelohrentzündung verglichen. Nach zweitägiger Behandlung klagen unter Ibuprofen noch 7%
über Ohrenschmerz im Vergleich zu 10% unter Parazetamol und 25% unter Scheinmedikament. Statistisch signifikant ist der Unterschied nur zwischen dem
NSAR und Plazebo.7 Für die Beurteilung der Wirksamkeit von Parazetamol eignet sich die Studie weniger, da das Analgetikum zur Schmerzsuppression
üblicherweise viermal täglich angewendet wird und mit täglich 30 mg/kg KG vergleichsweise niedrig dosiert war.
ANTIBIOTISCHE THERAPIE: Der routinemäßige Gebrauch von Antibiotika wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Große nationale
Unterschiede fallen auf: So erhalten in Großbritannien, Australien oder den USA nahezu alle Kinder Antibiotika, in den Niederlanden dagegen nicht einmal jedes
dritte.5 Auch in Deutschland empfehlen Fachgesellschaften, die akute (bakterielle) Mittelohrentzündung antibiotisch zu behandeln.8,9 Da
jedoch eine sichere klinische Unterscheidung zwischen viraler und bakterieller Genese zu Beginn der Erkrankung nicht möglich ist und zudem häufig
Unsicherheit bei der Diagnose besteht, dürften Antiinfektiva zu oft verordnet werden. Wegen der Ausbreitung penizillinresistenter Pneumokokken wird die
generelle unverzügliche Behandlung mit Antibiotika zunehmend hinterfragt.1
In den Niederlanden wird seit zehn Jahren empfohlen, Kinder, die älter als zwei Jahre sind, in den ersten drei Tagen nur symptomatisch mit Parazetamol und
gegebenenfalls abschwellenden Nasentropfen zu behandeln und erst bei länger anhaltenden Beschwerden Antibiotika zu verschreiben. Bei Kindern zwischen
sechs Monaten und zwei Jahren wird ein zusätzlicher telefonischer oder persönlicher Kontakt nach 24 Stunden angeraten. Hat sich der Zustand nicht
gebessert, können sofort Antibiotika verordnet oder weitere 24 Stunden abgewartet werden.10
Was leistet die antimikrobielle Therapie? In einer Metaanalyse randomisierter Studien mit 535 Kindern und Jugendlichen zwischen vier Monaten und
achtzehn Jahren haben 95% unter Antibiotika nach sieben bis vierzehn Tagen keine Beschwerden mehr im Vergleich zu 81% der Kontrollgruppe (Plazebo und/oder
symptomatische Behandlung; ARR* 14%, NNT*=7). Die Häufigkeit eines über 30 Tage bestehenden Mittelohrergusses bleibt unbeeinflusst. Die Autoren
empfehlen generell die antibiotische Behandlung, da ungewiss ist, welches Kind profitieren wird.11 Offen bleibt jedoch, warum mehrere Studien nicht
berücksichtigt wurden.
Nach einer neueren Metaanalyse mit 2.200 Kindern lässt der Schmerz in beiden Gruppen bei rund 60% innerhalb von 24 Stunden nach. Nach zwei bis sieben
Tagen klagen noch 15% unter Antibiotika bzw. 21% der Kontrollgruppe über Ohrenschmerz (ARR 6%, NNT=17). Ein Einfluss auf Hörstörungen,
Rückfälle und andere Komplikationen lässt sich nicht nachweisen. Andererseits leiden unter antimikrobieller Therapie 17% unter Erbrechen, Durchfall
und Hautausschlag (Kontrollgruppe 11%, NNH*=17).12
Kinder unter zwei Jahren sind in diesen Metaanalysen unterrepräsentiert. Sie sollen aber besonders durch länger anhaltende Beschwerden,
höhere Rückfallraten u.a. gefährdet sein. In der gemeinsamen Auswertung von vier Studien profitieren sie nicht von Antibiotika: Klinische
Erfolgsraten innerhalb von sieben Tagen sind mit 86% gegenüber 85% in der Kontrollgruppe nahezu identisch.13 In einer aktuellen Studie mit 240
Kindern dieser Altersgruppe klagen am vierten Behandlungstag unter Scheinmedikament jedoch deutlich mehr über anhaltende Beschwerden als unter
Amoxicillin (AMOXYPEN u.a., 72% vs. 59%, NNT=8). Nach elf Tagen lässt sich kein Unterschied mehr belegen. Das Antibiotikum verkürzt die Dauer des
Fiebers von drei auf zwei Tage. Die Häufigkeit eines über sechs Wochen persistierenden Mittelohrergusses bleibt unbeeinflusst (64% vs. 67%). Die
Autoren halten auf Grund dieser Ergebnisse eine abwartende Haltung ("watchfull waiting") für gerechtfertigt.14
Von Antibiotika erhofft man sich, dass sie Komplikationen der akuten Mittelohrentzündung wie Mastoiditis oder Meningitis verhindern. Es gibt jedoch
keine Studien, die dies belegen. Zwar ist die Mastoiditis im Vergleich zur Vor-Antibiotika-Ära selten geworden. Ob dies jedoch den Antiinfektiva zuzuschreiben
ist oder beispielsweise einer veränderten Virulenz der Erreger oder einer verbesserten Abwehrlage der Kinder, bleibt offen.10
Möglicherweise reicht ein gezielter Einsatz aus: In einer unkontrollierten niederländischen Untersuchung erkranken von knapp 4.900 Kindern mit Otitis
media, die zunächst rein symptomatisch behandelt werden, zwei (0,04%) an Mastoiditis, die unter ambulanter oraler antibiotischer Therapie ausheilt. Kein Kind
entwickelt eine Meningitis.10,15
In einer aktuellen Studie wird der Effekt unterschiedlichen Verschreibungsverhaltens unter Praxisbedingungen untersucht: Britische niedergelassene
Allgemeinmediziner verordnen 315 Kindern zwischen sechs Monaten und zehn Jahren randomisiert entweder sofort Antibiotika oder empfehlen den Eltern,
zunächst drei Tage lang Parazetamol zu geben und erst bei Fortbestehen der Beschwerden ein Rezept über Antibiotika einzulösen. In dieser Gruppe
erhält letztlich jedes vierte Kind das Antiinfektivum. Unter sofortiger antimikrobieller Therapie klingen die Ohrenschmerzen im Mittel einen Tag früher ab (3,6
Tage vs. 2,6 Tage). Der tägliche Parazetamolkonsum sinkt um einen halben Löffel. Die Zahl der Schulfehltage wird nicht beeinflusst. 19% der Kinder unter
Antibiotika klagen über Durchfall gegenüber 9% der Vergleichsgruppe. Sehr kranke Kinder, beispielsweise mit initial sehr hohem Fieber oder
Kreislaufbeschwerden, waren von der Studie ausgeschlossen.16
Soll ein Antibiotikum verordnet werden, gilt nach wie vor Amoxicillin als Mittel der Wahl.1,3 In den USA wird wegen verbreiteter Penizillinresistenz
von S. pneumoniae eine Verdoppelung der Dosis empfohlen (80 mg statt 40 mg/kg Körpergewicht pro Tag). Die Kombination mit Clavulansäure
(AUGMENTAN u.a.) ist nur in Regionen mit erhöhter (-Laktamasebildung von H. influenzae oder Moraxella erforderlich.1 Makrolide wie Azithromycin
(ZITHROMAX) kommen vor allem bei Penizillinallergie bzw. -resistenz in Betracht. Oralcephalosporine wie Cefaclor (PANORAL u.a.) sind Mittel der
Reserve.3
Eine fünftägige Behandlungsdauer scheint in der Regel auszureichen: Nach einer Metaanalyse kommen Therapieversager bei Auswertung nach
8 bis 19 Tagen zwar etwas häufiger vor als nach zehntägiger Behandlung (ARR 6%, NNT=17). Nach 20 bis 30 Tagen bzw. drei Monaten lässt sich
jedoch kein Unterschied mehr nachweisen.17 Unter Zweijährige sind auch in dieser Untersuchung unterrepräsentiert. Jüngere Kinder
profitieren in mehreren Studien langfristig jedoch ebenfalls nicht.26,27 Die deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie empfiehlt für
alle Kinder unter zwei Jahren eine zehntägige Behandlungsdauer.9 Azithromycin muss nur drei Tage eingenommen werden. Die kürzlich
propagierte einmalige Anwendung18 soll auf fehlerhaftem Zitieren beruht haben.19
PROPHYLAKTISCHE MASSNAHMEN: Aus den Risikofaktoren der akuten Mittelohrentzündung lassen sich Möglichkeiten der Vorbeugung
ableiten wie Vermeiden von Passivrauchen, Verzicht auf Schnuller und Saugflasche sowie möglichst langes Stillen.3 Kontrollierte Studien zum Nutzen
fehlen allerdings.
Eine langfristige antibiotische Prophylaxe beispielsweise mit Amoxicillin, wie sie in den USA bei rezidivierender Mittelohrentzündung häufig
angeraten wird, ist hierzulande nicht üblich.1 Nach einer Metaanalyse sinkt das Rückfallrisiko unter antibakterieller Prophylaxe über drei
Monate bis zwei Jahre von 0,19 auf 0,08 pro Patient und Monat (ARR 11%, NNT = 9/Monat).20 In einer neueren Studie lässt sich jedoch kein
Unterschied gegenüber Plazebo nachweisen.21
Der in Kürze erhältliche heptavalente Pneumokokken-Impfstoff PREVENAR senkt in einer finnischen Untersuchung mit 1.662 Kleinkindern das
Risiko einer durch Pneumokokken hervorgerufenen Otitis media um 34% und halbiert die Rate an Erkrankungen durch die im Impfstoff enthaltenen Subtypen. Ein
Einfluss auf die Gesamthäufigkeit der Otitis media bleibt jedoch aus.22 Nach einer großen US-amerikanischen Studie kommen akute
Mittelohrentzündungen unter dem Impfstoff um 6% seltener vor.23 In Europa ist auf Grund einer anderen Verteilung der Subtypen generell mit
geringerer Wirksamkeit zu rechnen.24
Die Impfung gegen Haemophilus influenzae Typ B (HIBTITER u.a.) schützt nicht vor akuter Mittelohrentzündung, die in der Regel von anderen Subtypen
hervorgerufen wird.3
Xylitol soll das Wachstum von Pneumokokken hemmen und Karies vorbeugen. In einer dreimonatigen Studie erhalten 857 Kinder das Oligosaccharid
fünfmal täglich als Kaugummi, Pastille oder Sirup. Die Rate der Kinder, die mindestens einmal an Mittelohrentzündung erkranken, sinkt im Vergleich
zu Plazebo von 41% auf 29% (Sirup) bzw. 28% auf 16% (Kaugummi). In den Xylitol-Gruppen scheiden doppelt so viele Kinder insgesamt und wegen abdomineller
Beschwerden vorzeitig aus.25 Ob die fünfmal tägliche Anwendung über längere Zeit durchführbar ist, erscheint fraglich.
Die akute Otitis media heilt bei rund 80% unter symptomatischer Therapie
spontan. Komplikationen sind sehr selten. Ob sie sich durch generelle antibiotische Behandlung aller Kinder verhindern lassen, ist nicht belegt.
Es ist daher vertretbar, dass Kinder über zwei Jahre in der Regel zunächst
drei Tage lang symptomatisch Parazetamol (BENURON u.a.) und gegebenfalls abschwellende Nasentropfen in altersgerechter Konzentration (oder Kochsalz-
Nasentropfen) erhalten. Kontrollierte Studien zum Nutzen dieser Mittel stehen jedoch aus.
Bessern sich die Beschwerden nicht innerhalb von drei Tagen oder bestehen initial
starke Krankheitszeichen, ist Amoxicillin (AMOXYPEN u.a.) Mittel der Wahl. Bei Penizillinallergie bzw. -resistenz kommt ein Makrolid wie Azithromycin (ZITHROMAX)
in Frage. Auch Oralcephalosporine sind nur Mittel der Reserve. Durchfall ist häufige Folge der Therapie.
Eine fünftägige antibakterielle Behandlung (bei Azithromycin drei Tage)
reicht in der Regel aus.
Bei Kindern unter zwei Jahren wird eine erneute Untersuchung nach 24 Stunden
bzw. zumindest die telefonische Befragung der Eltern angeraten. Die Indikation zur antibiotischen Therapie ist nach Meinung einiger Experten großzügiger
zu stellen.
Ein relevanter Nutzen einer medikamentösen Prophylaxe mit Antibiotika oder
heptavalentem Pneumokokken-Impfstoff (PREVENAR) bleibt fraglich.
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