Pneumonien sind die häufigste Form nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation. Sie gehen mit einer Sterblichkeit von bis zu 50% einher. Meist
handelt es sich um endogene Infektionen mit pathogenen Keimen aus dem Nasen-Rachen-Raum oder Magen-Darm-Trakt. Eine selektive Darmdekontamination
(SDD) mit Antibiotika und Antimykotika soll durch Reduktion dieser Keime Lungenentzündungen vorbeugen. Sie soll potenziell pathogene aerobe Keime und
Pilze eradizieren, die körpereigene anaerobe Flora mit ihrer natürlichen Schutzfunktion aber intakt lassen. Die Reduktion nosokomialer Pneumonien durch
diese Methode ist in vielen kontrollierten Studien dokumentiert. Seit Jahrzehnten ist aber unklar, ob auch die Überlebensrate erhöht wird und ob bei breiter
Verwendung mit problematischer Resistenzentwicklung zu rechnen ist (a-t 1990; Nr. 7: 65).1
Eine holländische Studiengruppe untersucht jetzt erstmals den Einfluss einer SDD auf die Intensiv- und Krankenhaussterblichkeit sowie auf die
längerfristige Resistenzentwicklung bei pathogenen Keimen.2 An der randomisierten kontrollierten Studie nehmen 934 Patienten auf zwei gemischt
chirurgisch-internistischen Intensivstationen teil, die bei Aufnahme voraussichtlich länger als zwei Tage beatmet werden oder mehr als drei Tage verweilen
müssen. Bei der für die Dauer der Intensivbehandlung angewendeten SDD wird der Mund-Rachenraum viermal täglich mit einer Paste aus jeweils
2%igem Tobramycin (GERNEBCIN u.a.), Polymyxin E und Amphotericin B (AMPHO-MORONAL) ausgestrichen. Die Patienten erhalten außerdem jedes Mal 80
mg, 100 mg bzw. 500 mg der Mittel per Magensonde sowie 1 g Cefotaxim (CLAFORAN u.a.) intravenös. Zusätzlich werden die Substanzen ggf. als Paste
an den Rändern von infizierten Tracheostomata aufgetragen oder als Zäpfchen in blinde Darmschlingen (z.B. bei Kolostoma) appliziert. Bei Nachweis von
Enterobakterien oder Pilzen im Sputum wird Polymyxin E bzw. Amphotericin B auch über Vernebler inhaliert. Die Kontrollgruppe erhält nur die übliche
Standardtherapie.
Im Verlauf der Intensivbehandlung wird eine Kolonisation mit resistenten pathogenen Keimen (primäres Zielkriterium) bei 26% der Patienten in der
Kontrollgruppe erfasst, jedoch nur bei 16% in der SDD-Gruppe (relatives Risiko [RR] 0,61; 95% Konfidenz-Intervall [CI] 0,46-0,81). Unter SDD sind sowohl Ceftazidim
(FORTUM)-, Ciprofloxacin (CIPROBAY u.a.)- oder Imipenem (ZIENAM)-resistente Pseudomonaden als auch andere, gegen Tobramycin, Ciprofloxacin oder Imipenem
resistente gramnegative Keime seltener. Resistente grampositive Keime kommen in beiden Gruppen gleich häufig vor. Die mikrobiologische Überwachung
der Stationen über zwei Jahre ergibt ebenfalls keine Zunahme resistenter Keime.
Als vordefiniertes Kriterium wird auch das Überleben der Patienten ausgewertet. Unter SDD versterben während der Intensivzeit 15% der
Patienten, in der Kontrollgruppe 23% (RR 0,65; 95% CI 0,49-0,85). Im gleichen Maß nimmt die Krankenhausmortalität unter SDD von 31% auf 24% ab (RR
0,78; 95% CI 0,63-0,96). Zur Vermeidung eines Todesfalls müssen somit etwa vierzehn Patienten behandelt werden. In Subgruppen-Analysen unterscheiden
sich die Ergebnisse für internistische und chirurgische Patienten nicht. Langzeitdaten zur Sterblichkeit nach Entlassung aus dem Krankenhaus fehlen. Mit SDD
nimmt die mittlere Behandlungszeit auf der Intensivstation signifikant von 8,5 auf 6,8 Tage ab, die Kosten für Antibiotika sinken um 11%.
Die Ergebnisse der Studie entsprechen denen mehrerer Metaanalysen, die ebenfalls eine Reduktion der Intensiv- und Krankenhausmortalität durch SDD
erkennen lassen.3-5 Etwa 23 Patienten müssen danach behandelt werden, um einen Todesfall zu verhindern.4 Eine Reduktion der
Mortalität ergibt sich jedoch nur, wenn die Auswertung auf methodisch hochwertige Studien beschränkt wird5 und für die SDD topische
Antibiotika mit einem systemischen kombiniert werden.3-5 Das in der aktuellen Untersuchung verwendete SDD-Regime wird auch in den Studien der
Metaanalysen am häufigsten gebraucht. Die deutlichere Senkung der Sterblichkeit im Vergleich zu den Metaanalysen könnte auf der zusätzlichen
lokalen Gabe der Mittel bei infiziertem Tracheostoma, blinder Darmschlinge und Erregernachweis im Sputum beruhen.1,2 Eine weitere, in den Metaanalysen
noch nicht berücksichtigte randomisierte Studie aus Deutschland mit 546 Patienten lässt eine Verminderung schweren Organversagens bei
Intensivpatienten unter SDD erkennen bei systemischem Gebrauch von Ciprofloxacin über vier Tage und topischer Applikation von Gentamicin (REFOBACIN
u.a.) und Polymyxin B (POLYMYXIN B PFIZER).6 Die Mortalität auf der Intensivstation nimmt für die Gesamtgruppe im Trend von 29% auf 20%
ab, in einer Subgruppe mit mittlerer Erkrankungsschwere (APACHE* II 20-29) signifikant von 33% auf 16%. Bei Kontrolle nach einem Jahr sind jedoch
Überlebensvorteile für die mit SDD behandelten Patienten nicht mehr erkennbar.
Die Sorge vor vermehrter Resistenzentwicklung infolge einer SDD ist durch die aktuelle holländische Studie2 nicht ausgeräumt.
Kolonisation mit resistenten gramnegativen Keimen wird während SDD zwar seltener erfasst. Mikrobiologische Verlaufsbefunde liegen aber nur für 83% der
Patienten vor. Ob bei Staphylokokken und Enterokokken die befürchtete Zunahme von Resistenzen tatsächlich ausbleibt, lässt sich nicht
beurteilen, da solche Keime auf den Stationen keine Rolle gespielt haben (je 1%). Die Nachbeobachtungsdauer von zwei Jahren reicht zur Kontrolle der
Resistenzsituation zudem nicht aus. Nach einer französischen Fall/Kontroll-Studie nehmen resistente Staphylokokken über sechs Jahre mäßig
zu, selbst wenn nur ein kleiner Anteil (6%) der Patienten einer traumatologischen Intensivstation mit SDD behandelt wird.7 Vor allem in Regionen wie
Nordamerika mit hohen Resistenzraten bei grampositiven Keimen bleiben Vorbehalte gegenüber einer SDD.8 Einhellig werden weitere Langzeitdaten
und die Einbettung in eine sorgsame infektiologische Überwachung gefordert.1,8,9
Eine selektive Darmdekontamination (SDD) mit topischen und systemischen
Antibiotika reduziert bei Intensivpatienten nosokomiale Infektionen und Organversagen.
Bei ausgewählten Patienten und guter Überwachung kann die SDD die
Krankenhausmortalität in relevantem Maße senken. Eine Verbesserung des Langzeitüberlebens ist nicht gesichert.
Eine SDD sollte nur erwogen werden, wenn die lokale Resistenzsituation es erlaubt
und engmaschige Hygiene-Kontrollen gewährleistet sind.
Für eine breite Verwendung in der Routineversorgung fehlen weiterhin
Langzeitdaten.
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