Die Vorwürfe der Unterdrückung von Negativdaten zu selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) reißen nicht ab. Jede
Empfehlung eines SSRI, die sich an öffentlich zugänglichen Erkenntnissen orientiert, dürfte auf verzerrter Datenlage beruhen, so lautete schon vor
zwei Jahren das Resümee von Mitarbeitern der schwedischen Arzneimittelbehörde angesichts des Missverhältnisses zwischen den der Behörde
vorliegenden und den veröffentlichten Studien (a-t 2003; 34: 62-3). Wie im vergangenen Jahr deutlich wurde,
bestätigt sich ihre Einschätzung besonders bei den SSRI-Studien mit Kindern und Jugendlichen: In den wenigen veröffentlichten, teils manipulativ
geschönten Publikationen werden die Mittel als wirksam und verträglich beschrieben, während sie tatsächlich bei dieser Patientengruppe in der
Mehrzahl der - zumeist unveröffentlichten - Studien ohne Nutzen bleiben, aber das Suizidrisiko steigern (a-t 2003; 34:
114 und 2004; 35: 45-6). 1998 wies SmithKline Beecham (heute GlaxoSmithKline) Mitarbeiter an, Studiendaten
zur Nutzlosigkeit des SSRI Paroxetin (SEROXAT u.a.) bei Jugendlichen nicht publik zu machen, da dies "kommerziell inakzeptabel" sei (a-t 2004; 35: 29-30).
Nach Dokumenten, die jetzt dem British Medical Journal (BMJ) anonym zugesandt wurden, soll auch die Firma Lilly Negativdaten zu Fluoxetin (FLUCTIN u.a.)
zurückgehalten haben, die ihr bereits seit den 80er Jahren bekannt waren.1,2 Dabei geht es um bedenkliche antriebssteigernde Eigenschaften und
einen möglichen Zusammenhang des Antidepressivums mit Suizidalität und Gewalttätigkeit.
Nach diesen Unterlagen, die sich auf klinische Studien mit 14.198 Patienten beziehen, berichten 38% der Fluoxetin-Anwender über neu aufgetretene
aktivierende Symptome wie Angst, Agitation, Nervosität und Schlaflosigkeit im Vergleich zu 19% unter Plazebo. Würden alle aktivierenden Symptome
sowie hypomanische und manische Zustände berücksichtigt, dürfte die Zahl vermutlich noch höher liegen.1 Nach weiteren Daten der
Dokumente liegt das Risiko für Suizidversuche (3,7%), absichtliche Selbstverletzung (0,8%), psychotische Depressionen (2,3%) und Feindseligkeit (1,6%) unter
Fluoxetin mehrfach höher als unter anderen häufig verordneten vorwiegend tri- und tetrazyklischen Antidepressiva.2
Lilly stellt die Echtheit der Unterlagen nicht infrage. Diese enthielten jedoch keine neuen wissenschaftlichen Informationen. Lilly habe der FDA systematisch
Informationen über "Aktivierung" und alle anderen Störwirkungen unter Fluoxetin zukommen lassen.3 Ein Gutachter in mehreren
Gerichtsverfahren zu Gewalttaten unter Fluoxetin beanstandet jedoch, dass die Firma durch Fehlkodierungen, beispielsweise "no drug effect" statt
"suicide", der FDA "bewusst" Risikodaten vorenthalten haben soll.4 Geheimhaltungsklauseln bei außergerichtlichen Vergleichen
von Prozessen, in denen Schäden durch Fluoxetin verhandelt wurden, behindern den Informationsfluss zusätzlich.4
Bereits 1990 hatte ein führender Mitarbeiter der FDA bemängelt, dass die Firma offensichtlich Daten unterdrückt hat, insbesondere zur
Gewalttätigkeit unter Fluoxetin. Nach seiner Auswertung liegt die Suizidalität unter dem SSRI bei 2,9% gegenüber 0,8% unter trizyklischen
Antidepressiva.5 Dennoch folgerte ein Beraterkomitee der FDA noch ein Jahr später, dass die "derzeit verfügbaren Daten nicht erkennen
lassen, dass Fluoxetin Suizidalität oder Gewalttätigkeit auslöst.6 Erst später wird beanstandet, dass einige der Berater finanzielle
Verflechtungen mit Lilly hatten.1
Hierzulande sind die "offiziellen" Informationen zu Fluoxetin nach wie vor unzureichend. Patienten und Angehörige sind - so die FDA im März
20047 - vor dem Auftreten antriebssteigernder Effekte wie Agitation, Panikattacken, Schlaflosigkeit und Feindseligkeit oder Aggressivität, die auch als
Cluster auftreten, sowie erhöhter Suizidalität zu warnen (vgl. a-t 1991; Nr. 6: 54). Eine entsprechende
Warnung fehlt in der deutschen Fachinformation.8 Auch findet sich dort weder eine Beschreibung des Clusters aktivierender Symptome noch Angaben zur
Häufigkeit der beschriebenen relevanten Störwirkungen.
Hersteller, die gezielt Daten nicht veröffentlichen, gefährden die Therapiesicherheit, weil Auswahlentscheidungen auf verzerrter Datenbasis erfolgen.
Datenunterdückung zum Schaden der Patienten muss strafrechtlich verfolgt werden. Manager müssen für Desinformationsstrategien haften.
Im nationalen und europäischen Recht sollte festgelegt werden, dass Unterdrücken oder Manipulation zulassungsrelevanter Daten automatisch zum
Entzug der Zulassung führt. Die Arzneimittelbehörden müssten dies dann umsetzten, beispielsweise bei Produkten wie FLUCTIN, SEROXAT,
Rofecoxib (VIOXX) und Celecoxib (CELEBREX; a-t 2001; 32: 87-8).
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