Die Sekundärprävention atherosklerotischer Erkrankungen mit Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.) ist seit mehr als einem Jahrzehnt
etabliert (vgl. a-t 1994; Nr. 2: 18). Primärprävention mit ASS ist jedoch wegen unklarer
Nutzen-/Risikorelation umstritten. Etwa 80% der Teilnehmer an den bisherigen Primärpräventionsstudien sind Männer. ASS senkt in diesen Studien
hauptsächlich die Herzinfarktrate. Das relative Risiko wird nach einer Metaanalyse der vier älteren Studien bei einer durchschnittlichen Ereignisrate in den
Kontrollgruppen von jährlich 0,52% um 30% vermindert (absolute Risikoreduktion jährlich 0,15%, Number needed to treat [NNT] = 667Jahr; Odds Ratio
[OR] 0,70; 95% Vertrauensintervall [CI] 0,62-0,79).1 Eine Risikoreduktion in ähnlicher Größenordnung deutet sich auch in der jüngsten
Studie an.2 Die Schlaganfallhäufigkeit insgesamt wird nicht beeinflusst (OR 1,02; 95% CI 0,85-1,23).3 Intrakranielle Blutungen und
hämorrhagische Schlaganfälle, die häufig tödlich verlaufen oder schwere Behinderungen hinterlassen,4 nehmen in mehreren Studien
(nicht signifikant) zu.5-7 Bei gemeinsamer Auswertung aller Arbeiten ergibt sich ein Trend zu einem um jährlich 0,1 pro 1.000 Anwender erhöhten
Risiko (OR 1,4; 95% CI 0,9-2,0). Schwere extrakranielle, meist gastrointestinale Blutungen nehmen um 0,7 pro 1.000 Anwenderjahre zu (OR 1,7; 95% CI 1,4-2,1;
Number needed to harm [NNH] = 1.428Jahr). Weder in den einzelnen Studien noch bei gemeinsamer Auswertung mit insgesamt 53.000 Probanden ergibt sich ein
signifikanter Effekt auf die Sterblichkeit (OR 0,93; 95% CI 0,84-1,02).3,4
In internationalen Leitlinien wird Primärprävention mit Low-dose-ASS bei mittlerem bis hohem koronaren Risiko (über 1% pro Jahr) inzwischen
empfohlen oder zumindest in Betracht gezogen.8,9 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass bei Menschen mit erhöhtem Ausgangsrisiko der Nutzen von
ASS den Schaden eher überwiegt. Patientengruppen, die von der Therapie klar profitieren, lassen sich anhand der vorliegenden
Primärpräventionsstudien jedoch nicht sicher definieren.4 Valide Risikoschätzer liegen ebenfalls nicht vor (vgl. a-t 2004; 35: 56-60). Für Frauen war die Datenbasis bislang völlig unzureichend.
Jetzt erscheint erstmals eine Primärpräventionsstudie mit ASS, an der ausschließlich Frauen teilnehmen. Mit knapp 40.000 Probandinnen und einer
Nachbeobachtung von durchschnittlich zehn Jahren ist die Women's Health Study deutlich größer und länger als die entsprechenden Studien mit
Männern. Die mindestens 45 Jahre alten gesunden Frauen nehmen nach randomisierter Zuteilung alle zwei Tage 100 mg ASS oder Plazebo ein.* Ein
signifikanter Einfluss auf den primären kombinierten Endpunkt (Herzinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulärer Tod) bleibt aus (2,4% versus 2,6%; relatives
Risiko 0,91; 95% CI 0,80-1,03). Vermindert werden ausschließlich ischämische Schlaganfälle (0,85% vs. 1,1%; NNT = 4.000Jahr) und damit die
Schlaganfallrate insgesamt (1,1% vs. 1,3%; NNT = 5.000Jahr). Herzinfarkte werden nicht beeinflusst. Die Gründe für die - in der
Sekundärprävention nicht beobachteten - Wirkunterschiede bei Männern und Frauen bedürfen der Klärung. Auch kardiovaskuläre
Todesfälle und Gesamtsterblichkeit (3,1% vs. 3,2%; RR 0,95; 95% CI 0,85-1,06) werden nicht gemindert. Hämorrhagische Schlaganfälle nehmen
numerisch zu (0,26% vs. 0,21%). Peptische Ulzera (2,7% vs. 2,1%, NNH = 1.667Jahr) und gastrointestinale Blutungen (4,6% vs. 3,8%; NNH = 1.250Jahr), auch
solche mit Transfusionsbedarf (0,6% vs. 0,5%; NNH = 10.000Jahr) werden signifikant gesteigert.10
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Ergebnisse zu der im 2 x 2-faktoriellen Design (vgl. a-t 2003; 34: 100-2) ebenfalls
geprüften Prophylaxe mit Vitamin E (600 IE alle zwei Tage) liegen nicht vor.
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Die meisten Subgruppen unterscheiden sich nicht wesentlich von der Gesamtgruppe. Nur die über 64-Jährigen, die etwa ein Zehntel aller Teilnehmerinnen
ausmachen, profitieren hinsichtlich des primären Endpunktes und der Myokardinfarktrate. Daten zur Sterblichkeit dieser Subgruppe werden nicht mitgeteilt.
Raucherinnen scheint die Prophylaxe mit ASS dagegen zu schaden - möglicherweise ein Zufallsbefund aufgrund zahlreicher statistischer Tests.10
Primärprävention atherosklerotischer Erkrankungen mit
Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.) hat keinen nachgewiesenen lebensverlängernden Effekt.
Bei Männern sinkt die Herzinfarkthäufigkeit, während die
Schlaganfallrate unbeeinflusst bleibt. Bei Frauen werden dagegen nur ischämische Schlaganfälle günstig beeinflusst, nicht aber Herzinfarkte. Die
Effekte sind sehr klein mit einer Number needed to treat von knapp 700 bei Männern, bei Frauen sogar von 4.000 pro Jahr.
Blutungen, auch Hirnblutungen, nehmen zu.
Angesichts der geringen Effekte, des fehlenden Belegs für eine
Lebensverlängerung, des erhöhten Blutungsrisikos und der fehlenden Möglichkeit, Patienten mit deutlichem Nutzen sicher zu definieren, sehen wir
derzeit keine Indikation für die Primärprävention mit ASS.
| | (R = randomisierte Studie, M =
Metaanalyse)
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M | 1 | SANMUGANATHAN,
P.S. et al.: Heart 2001; 85: 265-71
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R | 2 | Collaborative Group of the
Primary Prevention Project: Lancet 2001; 357: 89-95 |
M | 3 | HAYDEN, M. et al.: Ann. Intern. Med.
2002; 136: 161-72 |
| 4 | FOSTER, C. et al., in: "Clinical
Evidence", 12. Aufl., BMJ Publishing Group, Dez. 2004, Seite 159-92 |
R | 5 | PETO, R. et al.:
BMJ 1988; 296: 313-6 |
R | 6 | Steering Committee of the
Physicians' Health Study Research Group: N. Engl. J. Med. 1989; 321: 129-35 |
R | 7 | The Medical Research
Council's General Practice Research Framework: Lancet 1998; 351: 233-41 |
| 8 | HARRINGTON, R.A. et al.: Chest 2004; 126 (Suppl.):
513s-548s |
| 9 | Scottish Intercollegiate Guidelines Network:
Antithrombotic Therapy. A National Clinical Guideline, März 1999; http://www.sign.ac.uk/pdf/sign36.pdf |
R | 10 | RIDKER, P.M. et al.: N.
Engl. J. Med. 2005; 352: 1293-304 |
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