GESTATIONSDIABETES: NEUE ERKENNTNISSE? | ||||
Zu den metabolischen Veränderungen während der Schwangerschaft gehört eine im Verlauf der zweiten Hälfte zunehmende Insulinresistenz.
Kompensatorisch steigt die Insulinausschüttung mit Plasmakonzentrationen, die fast das Doppelte der Spiegel vor der Schwangerschaft erreichen. Bei einem
Teil der Frauen kann die Insulinsekretion nicht ausreichend gesteigert werden. Es kommt zum so genannten Gestationsdiabetes. Orientiert an Blutzuckernormwerten
von Nichtschwangeren wird nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Gestationsdiabetes jede gestörte Glukosetoleranz mit
Hyperglykämie unterschiedlichen Ausmaßes bezeichnet, die erstmals in der Schwangerschaft auftritt oder erkannt wird.1 Die Definition umfasst
somit sowohl die (möglicherweise bereits vor der Schwangerschaft bestehende, aber unerkannt gebliebene) eindeutige diabetische Stoffwechsellage mit hohem
Risko perinataler Komplikationen insbesondere aufgrund des hohen Geburtsgewichts der Kinder als auch, am anderen Ende der Skala, möglicherweise
physiologische schwangerschaftsbedingte Stoffwechselveränderungen. Da abgesehen vom eindeutigen Diabetes mellitus unklar ist, ob und ab welcher
Ausprägung einer Glukosetoleranzstörung Krankheitswert zukommt bzw. eine Behandlung den Frauen nützt, werden die Grenzwerte zur Definition
des Gestationsdiabetes und die Frage des Screenings (allgemein oder orientiert an Risikofaktoren) der meist beschwerdefreien Schwangeren weltweit kontrovers
diskutiert.2 Bei breitem Screening werden negative Folgen befürchtet wie Zunahme von Kaiserschnittentbindungen aufgrund erhöhter
Alarmbereitschaft der Geburtshelfer.
Die Studie prüft demnach ein "Paket" aus Interventionen: erhöhte Aufmerksamkeit aufgrund der Kenntnis einer Diagnose, intensivierte Betreuung und blutzuckersenkende Therapie. Dies wird zudem mit einer "negativen" Intervention in der Kontrollgruppe, nämlich der möglicherweise falsche Sicherheit erzeugenden Auskunft "kein Gestationsdiabetes" verglichen. Mit diesem Konzept sollte in der Interventionsgruppe ein Setting wie bei generellem Screening nachgeahmt werden, in der Kontrollgruppe eines ohne Screening. Mit einer Screeningstudie darf die methodisch problematische, an einem bereits gescreenten, ausgewählten Kollektiv durchgeführten Therapiestudie jedoch nicht verwechselt werden. 20% der intensiv betreuten Frauen wenden schließlich Insulin an, in der Kontrollgruppe 3%.5 Ob die Behandlung in der Kontrollgruppe hiesigen Standards der Schwangerenbetreuung entspricht, ist unklar: Nachvollziehbare Daten fehlen. Schwerwiegende Geburtskomplikationen - Tod, Schulterdystokie, Knochenbruch oder Nervenlähmung - sind in der Interventionsgruppe signifikant seltener (1% vs. 4%; Number Needed to Treat [NNT] = 34). Den größten Anteil am Ergebnis hat die Minderung der Schulterdystokie (1% vs. 3%), ein gestörter Geburtsverlauf mit Hängenbleiben einer Schulter über der Symphyse nach Geburt des Kopfes. Tod, Frakturen oder Nervenlähmung kommen in der Interventionsgruppe nicht vor. In der Kontrollgruppe erleidet ein Kind einen Oberarmbruch und eine Radialislähmung, zwei weitere eine Lähmung des Armplexus. Fünf Kinder versterben oder werden tot geboren (0 vs. 1%; p = 0,07).5 Das durchschnittliche Geburtsgewicht der Kinder intensiv betreuter Mütter ist geringer (3.335 g vs. 3.482 g), es kommen weniger Kinder mit Makrosomie (4 kg oder schwerer; 10% vs. 21%) zur Welt. In der Interventionsgruppe wird jedoch, vermutlich aufgrund der Kenntnis der Diagnose, signifikant häufiger die Geburt eingeleitet (39% vs. 29%). Diese Maßnahme dürfte ebenfalls dazu beigetragen haben, das Geburtsgewicht und damit die Geburtskomplikationen herabzusetzen. Auch für die seltenere Diagnose einer Präeklampsie (12% vs.18%) vermuten die Autoren die frühere Entbindung als Ursache. Dieser Vorteil erscheint uns jedoch als einer von multiplen sekundären Endpunkten, noch dazu in einer offenen Studie ohne verblindete Auswertung der Ergebnisse, wenig gesichert. Die Kinder der Interventionsgruppe werden signifikant häufiger in eine Neugeborenenklinik aufgenommen (71% vs. 61%), bei unerklärlich hoher Einweisungsrate in beiden Gruppen. Die Rate der Kinder mit behandlungsbedürftigem Ikterus (jeweils 9%), der Small-for-date-Babies (jeweils 7%), Hypoglykämien mit i.v.-Therapie (7% vs. 5%), Atemnotsyndrome (5% vs. 4%) und Krampfanfälle (jeweils unter 1%) beim Neugeborenen unterscheiden sich nicht. Kaiserschnittentbindungen nehmen im Interventionsarm nicht zu, sind aber mit 31% und 32% in beiden Gruppen häufig.5 Nach den Daten der ACHOIS-Studie senkt die Kenntnis eines Gestationsdiabetes nach WHO-Definition mit nachfolgender erhöhter Aufmerksamkeit sowie intensivierter Betreuung einschließlich blutzuckersenkender Maßnahmen die Rate der Geburtskomplikationen - allerdings im Vergleich mit einer "Negativintervention" in der Kontrollgruppe: der Auskunft "kein Gestationsdiabetes" trotz erhöhter Werte im oralen Glukosetoleranztest, die eine falsche Sicherheit bei den Frauen und ihren Ärzten erzeugt haben kann. Gemindert werden in erster Linie verzögerte Geburtsverläufe (Schulterdystokien). Schwerwiegende Geburtstraumen selbst, einschließlich Todesfälle, kommen nur in der Kontrollgruppe vor. Bei der Sterblichkeit besteht ein Trend zu Gunsten der Interventionsgruppe. Geburtseinleitungen nehmen in der Interventionsgruppe zu, Kaiserschnitte dagegen nicht. Letzte sind jedoch in beiden Gruppen sehr häufig. Zur Klärung der Frage, ob alle Frauen mit Gestationsdiabetes nach der weiten WHO-Definition von intensivierter Therapie profitieren oder nur die mit schwerer gestörtem Glukosestoffwechsel, trägt die Studie nichts bei. Offen bleibt zudem, was die einzelnen Komponenten der komplexen Intervention zum Ergebnis beitragen. Ein allgemeines Screening kann die an einem selektiven Kollektiv durchgeführte Therapiestudie nicht begründen. Die Nutzen/Risikobilanz eines allgemeinen Screenings mit der Gefahr der Zunahme einer schädigenden geburtshilflichen Übertherapie aufgrund der häufigeren Diagnose eines Gestationsdiabetes ist weiterhin ungeklärt, ebenso die Frage, wie behandlungsbedürftige Frauen mit Gestationsdiabetes optimal identifiziert werden können. Die Studie, die mit einem methodisch problematischen Konzept anscheinend sowohl die Frage des Screenings als auch die der Therapie bei Gestationsdiabetes beantworten will, kann weder zur einen noch zur anderen eine befriedigende Auskunft geben. |
| (R = randomisierte Studie)
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1 | Nat. Coll. Centre for Women's and Children's Health: Antenatal care: routine care for the healthy pregnant women. Clinical Guideline, Okt. 2003; http://www.rcog.org.uk/resources/Public/pdf/Antenatal_Care.pdf | |
2 | KIMMERLE, R., ABHOLZ, H.-H.: In: BERGER, M. (Hrsg.): "Diabetes mellitus", 2. Aufl., Urban & Fischer, München 2000; Seite 719-27 | |
3 | Deutsche Diabetesgesellschaft: Diagnostik und Therapie des Gestationsdiabetes, 2001; zu finden über http://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de | |
4 | Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen: "Screening auf Gestationsdiabetes", Nov. 2003 | |
R | 5 | CROWTHER, C.A. et al.: N. Engl. J. Med. 2005; 352: 2477-86 |
Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten
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