Nach dem aktuellen Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform sollen die Versicherten gegenüber der Versichertengemeinschaft zu
"gesundheitsbewusstem" Verhalten zwangsverpflichtet werden: Bürger, die chronisch erkranken und nicht an Vorsorge- bzw.
Früherkennungsuntersuchungen teilgenommen haben, sollen von der reduzierten Zuzahlungs-Belastungsgrenze ausgenommen werden. Wer weiterhin von der
bestehenden Chroniker-Regelung profitieren will, muss sich entsprechend "therapiegerecht" verhalten.1
Der Enthusiasmus für den geplanten Vorsorgezwang beruht auf der irrigen Annahme, dass Prävention immer gut ist und billiger als Therapie. Es wird
zudem oft übersehen, dass Screening häufig keine Vorsorge ist, sondern Früherkennung, bei der eine Erkrankung nicht verhindert, sondern der
Zeitpunkt ihrer Diagnose vorverlegt wird. Seltener werden Vorstufen erfasst. Meist haben nur wenige der symptomlosen Menschen einen Nutzen von
Screeningprogrammen, sehr viel mehr erleiden jedoch Schaden durch falsche Befunde, Überdiagnosen und Übertherapien.
Nach aktualisierten Daten einer Cochrane-Übersicht, in die sieben randomisierte kontrollierte Mammographie-Screening-Studien eingehen,
führt regelmäßiges Screening bei Frauen zwischen 50 Jahren und 69 Jahren zu einer Abnahme der Brustkrebssterblichkeit um relativ ca. 15%. Von
2.000 gescreenten Frauen dieser Altersgruppe stirbt in zehn Jahren eine Frau weniger an Brustkrebs. Bei zehn dieser Frauen wird jedoch Brustkrebs diagnostiziert,
der ohne Screening zu Lebzeiten nie in Erscheinung getreten wäre (Überdiagnose). Dies ist verbunden mit einer entsprechenden Zunahme von
chirurgischen Eingriffen, Strahlen- und Chemotherapien (Überbehandlungen). Jede fünfte Frau erhält im Verlaufe von zehn Jahren (fünf
Screening-Runden) mindestens einen falsch positiven Befund mit den dadurch verursachten psychischen Belastungen. Krebssterblichkeit insgesamt und
Gesamtmortalität nehmen nicht ab.2 Der Schaden durch das Screening ist daher erheblich. Bei einer Nutzenbewertung darf dies nicht
unberücksichtigt bleiben.
Die Auswertung der Modellprojekte zum Brustkrebsscreening in Deutschland zeigt, dass zum Teil lediglich die Mindestanforderungen der EU-Leitlinien erfüllt
werden. Die Rate falsch positiver Befunde liegt mit etwa 6% bei der ersten Screeningrunde über der erhofften Größenordnung von 2% bis 4%. Ein
großer Anteil von Brustkrebserkrankungen wird zudem nicht durch das Mammographie-Screening diagnostiziert: Der Anteil der Intervallkarzinome -
Krebserkrankungen, die im Intervall zwischen zwei geplanten Screeninguntersuchungen entdeckt werden - beträgt etwa 30% in den ersten elf Monaten und
etwa 50% im zweiten Jahr.3
Die Umsetzung eines qualitätsgesicherten Screenings ist mit enormem logistischen, personellen und finanziellen Aufwand verbunden. Nach Angaben der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung belaufen sich die Kosten auf 400 Mio. € jährlich. Trotz dieses Aufwandes schmälern
Unzulänglichkeiten den ohnehin fraglichen Nutzen: Im Rahmen eines Expertengesprächs im Deutschen Bundestag wurden vor allem technische
Mängel zugelassener digitaler Mammographiegeräte beanstandet. Schlussfolgerung eines Beitrags: "Lieber kein Screening als ein schlechtes
Screening".4 Es drängt sich die Frage auf, ob die Gelder, die für Screening eingesetzt werden, nicht sinnvoller und effizienter für die
Gesundheit von Frauen genutzt werden können.
Zum Screening auf Darmkrebs mit der Koloskopie liegen keine Nutzenbelege aus randomisierten kontrollierten Studien vor. Zweifel an der
hygienischen Sicherheit können nicht restlos ausgeschlossen werden.5 Bei 12 (13%) von 92 hygienisch-mikroskopischen Überprüfungen der
Aufbereitung der Koloskope im Rahmen qualitätssichernder Maßnahmen in Mecklenburg-Vorpommern werden erhebliche Mängel
festgestellt.6 In einer Kohortenstudie in England kommt es bei 12 (0,13%) von 9.223 Koloskopien zu einer Perforation des Darmes, sechs Todesfälle
(0,06%) innerhalb von 30 Tagen nach der Untersuchung werden als mögliche Folge der Koloskopie erachtet.7 In der Praxis erhalten mehr als 80% der
Untersuchten schmerzstillende bzw. sedierende Medikamente. Als Folge sind unerwünschte Ereignisse aufgrund der Sedierung möglich, z.B.
Knochenbrüche durch Stürze. Die massive Darmreinigung und Nahrungskarenz kann bei Personen mit Begleiterkrankungen zu unerwünschten
Wirkungen führen, z.B. zu kardialen Komplikationen und Unterzuckerungen bei Diabetikern. Die Komplikationen ließen sich nur durch lückenlose
Nachbeobachtung aller Koloskopie-Patienten, am besten über vier Wochen, erfassen. Selbst wenn sie selten auftreten, sind sie von Relevanz, da nach
Schätzungen auch nur drei bis vier Todesfälle durch Darmkrebs von jeweils 1.000 gescreenten Personen innerhalb von zehn Jahren verhindert werden
könnten.
Aktuelle Daten zum Screening mit Tests auf okkultes Blut (HAEMOCCULT u.a.) stimmen in diesem Zusammenhang bedenklich. Bei Teilnahmeraten von etwa 70%
werden in den randomisierten kontrollierten Studien durchschnittlich mehr als 30% der Teilnehmer mindestens einmal koloskopiert. Bei zweijährigem
Screeningintervall ergibt sich im Verlauf von 13 Jahren zwar eine Reduktion von Darmkrebs-bedingten Todesfällen (Number needed to screen: 862; 95%
Konfidenzintervall [CI] 528-2.347), jedoch gleichzeitig eine Zunahme anderer Todesursachen (Number needed to harm: 211; 95% CI 114-1.475). Die
Gesamtsterblichkeit unterscheidet sich nicht (Relatives Risiko 1,0; 95% CI 0,98-1,02).8
Screening auf Zervixkarzinome mit dem "Pap-Test" gilt als erfolgreiches Beispiel für Früherkennung: Nach Einführung des Tests in
Deutschland 1971 als Teil der kostenlosen Krebsvorsorge ist die Rate der durch Zervixkarzinom verursachten Todesfälle von 11 pro 100.000 auf 3 pro 100.000
im Jahr 1996 gefallen.9 Allerdings wurden niemals randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt, die für eine zuverlässige
Nutzenbewertung notwendig wären. Das Pap-Screening wird jedoch als wahrscheinlichste Ursache für den Rückgang der Erkrankungsrate und
Sterblichkeit an Zervixkarzinomen angesehen.10 Auch beim Pap-Test besteht das Problem häufiger falscher Befunde (auf zwei richtig positive
zytologische Befunde kommen fünf falsch positive und zwei falsch negative) sowie der Überdiagnose mit entsprechender psychischer Belastung und
unnötigen therapeutischen Maßnahmen.9
Für viele andere der zurzeit angebotenen Gesundheitsuntersuchungen sind die Hinweise für ein positives Nutzen-Schaden-Verhältnis wesentlich
schlechter. Hautkrebsscreening ist nicht in randomisierten kontrollierten Studien untersucht. Trotz Screening-bedingter Zunahme von
Melanomdiagnosen bleibt die Sterblichkeit an diesem Krebs seit Jahrzehnten unverändert11 - ein möglicher Hinweis auf Überdiagnostik. Das
nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen verankerte Screening auf Prostatakarzinom mit Bestimmung des prostataspezifischen
Antigens (PSA), für das bislang keine Nutzenbelege aus randomisierten kontrollierten Studien vorliegen, führt zu einer erheblichen Überdiagnostik:
Nach Schätzungen hätten bis zu 44% der im Rahmen des Screenings entdeckten Prostatakarzinome ohne die Früherkennungsmaßnahme
keinen Einfluss auf Lebensqualität oder -erwartung der betroffenen Männer gehabt, die somit nur die Nachteile des Screenings mit invasiven
diagnostischen Maßnahmen und operativen Eingriffen samt potenzieller Nebenwirkungen (Impotenz, Inkontinenz) erleiden. Andererseits sind 25% der beim
Screening erfassten Prostatakarzinome nicht mehr kurativ therapierbar (a-t 2003; 34: 33-4).
Aber auch für den "Gesundheitscheck", die rektale Untersuchung, das Abtasten der Brust durch den Arzt, das Screening auf Nierenerkrankungen oder auf
Diabetes mellitus fehlen Nutzenbelege. Für das Selbstabtasten der Brust ist der fehlende Nutzen belegt.12
Missglückte Präventionsinitiativen der Vergangenheit mit zum Teil verheerenden Folgen für die Teilnehmer sollten zu denken geben:
Vitamine: Betakarotin sollte Rauchern helfen, Lungenkrebs vorzubeugen.
Tatsächlich führt mehrjährige Einnahme von Betakarotin (CAROTABEN u.a.) bzw. Vitamin A (VITAMIN-A-SAAR u.a.) in Form von Vitaminpillen zu
einer Zunahme von Lungenkrebs und sogar zu einer Steigerung der Gesamtsterblichkeit (a-t 2003; 34: 100-2). Vitamin E (OPTOVIT u.a.) verhindert weder Herzinfarkte noch Krebs. In
hoher Dosierung erhöht es nach Daten aus einer Metaanalyse sogar die Sterblichkeit.13 Auch Vitamin-C-Zusätze (CEBION u.a.) schützen
nicht vor Krankheit (a-t 2003; 34: 111-3). Folsäure (FOLSAN
u.a.) und B-Vitamine können zwar erhöhte Homozysteinspiegel senken, aber nicht vor Herzinfarkten oder Schlaganfällen schützen (a-t 2006; 37: 51-2). Im Gegenteil, bei Patienten, die bereits einen
Herzinfarkt hatten, steigt das Risiko für Reinfarkte.14
Hormontherapie: Die Deklarierung der Meno- und Postmenopause als eine
behandlungsbedürftige Erkrankung und die über Jahrzehnte massenhafte Verschreibung von Östrogen-Gestagen-Präparaten zur Anhebung der
Hormonspiegel ist einer der größten Medizinskandale der Geschichte. Krankheiten sollten verhindert, das Leben verlängert werden. Prävention
geriet zu einem weltweiten unkontrollierten Experiment mit gesunden Frauen. Später belegte eine große randomisierte Studie eine Zunahme des
Herzinfarkt-, Schlaganfall-, Thromboembolie- und Brustkrebsrisikos durch die gut gemeinte Vorsorge mit den Hormonen (a-t 2002; 33: 81-3).15
Zunehmend gibt es jedoch auch Zweifel an gängigen Empfehlungen zur Ernährung:
Diät: Trotz eines erheblichen Aufwandes hat eine an Gemüse,
Obst und Getreideprodukten reiche, fettreduzierte Kost in einer großen randomisierten Studie mit 49.000 Frauen nicht zu weniger Herzkreislauf-16 oder
Krebserkrankungen17,18 geführt. Nach acht Jahren liegt die Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen unter üblicher Ernährung bei
0,88% jährlich, unter Diät bei 0,86%.16 Supplementierung mit Kalzium und Vitamin D konnte in einer randomisierten kontrollierten Studie mit mehr als 36.000 Frauen weder die Darmkrebsraten (jährlich 0,13% versus 0,12% unter Plazebo) noch die Häufigkeit von Knochenbrüchen
(Oberschenkelhalsfrakturen: jährlich 0,14% vs. 0,16%)19,20 senken. Die Inzidenz von Nierensteinen steigt im Verlauf von sieben Jahren hingegen signifikant
von 2,1% auf 2,5%.19
Fischöl und Wein: Selbst für die angebliche kardioprotektive
Wirkung von Fisch, Fischölen und mehrfach ungesättigten Fettsäuren wird die Evidenzlage immer unklarer.21,22 Ein Glück, dass das
tägliche Glas Wein noch nicht in den Vorsorgepflichtkatalog aufgenommen wurde. Neue Analysen bestätigen oft geäußerte, jedoch gerne
überhörte Bedenken gegen Alkohol als Gefäßschutz. In den Positivstudien werden bedeutsame Störfaktoren nicht berücksichtigt. So
finden sich in den Gruppen der Nichttrinker nicht nur überzeugte Wassertrinker, sondern auch Ex-Alkoholiker oder (Herz-)Kranke, die auf Alkohol verzichten, da sie ihn nicht vertragen.23 Menschen, die ihr Leben lang Alkohol trinken, sind unter Umständen einfach so gesund, dass sie dies ohne Schaden bis ins hohe Alter überstehen.
Maßnahmen zur Früherkennung und Vorsorge bedürfen der vorurteilsfreien Überprüfung auf Nutzen und Schaden. Ein
Malussystem bei Nichtteilnahme an Früherkennungsuntersuchungen ist vor dem Hintergrund der Datenlage nicht akzeptabel. Zu Interventionen, die
möglicherweise mehr schaden als nutzen, darf niemand gezwungen werden. Dies gilt aber aufgrund der möglichen Fehl- und Überdiagnosen auch
für Früherkennungsmaßnahmen mit nachgewiesenem Nutzen. Ethische Leitlinien sehen eine umfassende, objektive und verständliche
Information und eine informierte Entscheidung der möglichen Teilnehmer vor (so z.B. die aktuelle Fassung der Europäischen Leitlinien zum
Mammographiescreening). Nichtteilnahme ist daher aus ethischer Sicht explizit vorgesehen und darf nicht bestraft werden.
Von Früherkennungsuntersuchungen ist zu fordern:
Die Programme müssen evidenzbasiert sein.
Das Angebot muss qualitätsgesichert verfügbar sein.
Eine umfassende, objektive und verständliche Information nach aktuellen
wissenschaftlichen Kriterien zur Erstellung und Kommunikation solcher Informationen muss angeboten werden.
Eine informierte Entscheidung der Zielgruppe muss ermöglicht
werden.
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