Fast alle Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz entwickeln eine Anämie, die mit Minderung der Belastungsfähigkeit und
Lebensqualität sowie mit erhöhter Mortalität einhergeht. Hauptursache ist der Mangel an nephrogenem Erythropoietin. Das seit etwa 20 Jahren
verfügbare rekombinante Erythropoietin (Epoietin; ERYPO u.a.) senkt im plazebokontrollierten Vergleich den Transfusionsbedarf der Patienten und soll auch die
Lebensqualität verbessern.1,2 Strittig ist jedoch seit langem der optimale Hämoglobin (Hb)-Zielwert. In Beobachtungsstudien scheint die Korrektur
der Anämie auch die Prognose der Patienten zu verbessern. In einer 1998 publizierten ersten großen randomisierten kontrollierten Studie mit mehr als 1.000
Patienten, die an dialysepflichtiger Niereninsuffizienz erkrankt sind, deutet sich jedoch an, dass das Anstreben physiologischer Werte im Vergleich zu subnormalen
Zielwerten die Mortalität sogar steigern könnte.3 Zwei im November letzten Jahres veröffentlichte randomisierte Studien4,5 mit
insgesamt mehr als 2.000 Patienten, deren chronische Niereninsuffienz bei Studienbeginn keine Dialyse erfordert, haben die Sicherheitsbedenken bestätigt. In
der größeren der beiden wird ein Kombinationsendpunkt aus Tod, Herzinfarkt, Krankenhauseinweisung wegen Herzinsuffizienz oder Schlaganfall in der
Gruppe mit hohem Hämoglobinzielwert (13,5 g/dl) im Vergleich zu der mit niedrigem (11,3 g/dl) signifikant gesteigert (17,5% versus 13,5%; Hazard Ratio [HR]
1,34; 95% Vertrauensbereich [CI] 1,03-1,74; Number needed to harm [NNH] = 25).4 In der kleineren ergibt sich unter der Normalisierungsstrategie im
Vergleich zu subnormalen Zielwerten ein numerischer Anstieg der als primärer Endpunkt erfassten kardiovaskulären Komplikationen. Bei Patienten unter
hohen Hb-Zielwerten schreitet die Erkrankung signifikant häufiger zur Dialysepflichtigkeit fort.5 Die Lebensqualität wird nur in der kleineren Studie
durch diese Strategie günstiger beeinflusst.4,5 Ein signifikanter Effekt ergibt sich hier allerdings auch nur in einem Teil der erfragten Bereiche und
schwindet zumeist bereits im zweiten Jahr der dreijährigen Studie.5
Jetzt erscheint eine Metaanalyse von neun randomisierten kontrollierten ein- bis vierjährigen Studien, darunter auch die beiden neuesten,4,5 in denen
verschieden hohe Hb-Zielwerte bei Niereninsuffizienz-bedingter Anämie verglichen werden. An den Studien haben insgesamt mehr als 5.000 durchschnittlich
50 bis 65 Jahre alte Patienten mit dialysepflichtiger und nicht dialysepflichtiger chronischer Niereninsuffizienz teilgenommen. Die hohen Hb-Zielwerte liegen zwischen
12 g/dl und 16 g/dl, die niedrigeren zwischen 9 g/dl und 12 g/dl. Meist wird Erythropoietin alfa (ERYPO), in einer Studie Erythropoietin beta (NEORECORMON)
verwendet. Die metaanalytische Auswertung ergibt eine signifikante Steigerung der Mortalität unter hohen Hb-Zielwerten (relatives Risiko [RR] 1,17; 95% CI
1,01-1,35). Die Rate der Myokardinfarkte unterscheidet sich nicht (RR 0,98; 95% CI 0,73-1,31). Für das Risiko eines schlecht eingestellten Bluthochdrucks
ergibt sich ein Trend zu Ungunsten der hohen Hb-Zielwerte (RR 1,31; 95% CI 0,97-1,78). Bei dialysierten Patienten steigt unter dieser Strategie auch das Risiko einer
Shuntthrombose (RR 1,34; 95% CI 1,16-1,54).6
Die Metaanalyse belegt ein klares Sicherheitsrisiko mit Übersterblichkeit für niereninsuffiziente Patienten, wenn das Hämoglobin mittels Erythropoietin
auf Werte von 12 g/dl und höher angehoben wird. Nach Einschätzung des begleitenden Editorials ist die Frage des optimalen Hb-Zielwertes bei
Niereninsuffizienz-bedingter Anämie jetzt definitiv beantwortet: Die Studienergebnisse sprechen konsistent für Zielwerte von 10 g/dl bis 11,5 g/dl. Die
Autoren erachten weitere Studien zu dieser Frage nicht mehr für erforderlich.7
Bei der jahrzehntelangen Debatte um die optimalen Hb-Ziele geht es nicht nur um Leben und Gesundheit der Patienten, sondern auch um viel Geld: Für die
Behandlung mit Stimulanzien der Erythropoiese wurden 2006 weltweit 10 Milliarden US-Dollar aufgewendet.7 Eine US-amerikanische Leitlinie8 zur
Anämietherapie bei chronischer Niereninsuffizienz, die noch im Mai 2006 die empfohlenen Hb-Ziele ohne überzeugende Datenbasis aus randomisierten
kontrollierten Studien von zuvor 11 g/dl bis 12 g/dl auf 11 g/dl bis 13g/dl angehoben hat, wurde vom Erythropoietinanbieter Amgen finanziert. Zwei Drittel der
Leitlinienautoren deklarieren finanzielle Verbindungen zu den Herstellern oder Anbietern des Hormons. Die National Kidney Foundation, von der die Leitlinie stammt,
erhielt 2005 knapp 8 Mio. Dollar von den beiden US-amerikanischen Anbietern.9 Ein als Kommentar zu den beiden im November publizierten Studien
vorgesehenes Editorial, das diese finanziellen Verflechtungen beschreibt und kritisiert,9 wurde vom New England Journal of Medicine abgelehnt und durch
ein gefälligeres ersetzt.7,10
Die Korrektur einer Anämie bei chronischer Niereninsuffizienz mit Hilfe von
Erythropoietin (ERYPO u.a.) mit Anhebung der Hämoglobinwerte auf 12 g/dl und höher geht im Vergleich mit subnormalen Zielwerten mit
Übersterblichkeit, erhöhtem Risiko einer Blutdruckentgleisung und - bei dialysierten Patienten - mit häufigeren Shuntthrombosen einher.
Anzustreben sind bei diesen Patienten Hämoglobinwerte zwischen 10 g/dl
und 11,5 g/dl.
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