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Therapiekritik

HPV-IMPFSTOFF GARDASIL:
NUTZEN ZU HOCH EINGESCHÄTZT?

Als der Impfstoff gegen humane Papillomviren (HPV) GARDASIL 2006 auf den Markt kam, lagen die beiden entscheidenden Phase-III-Studien FUTURE* I und II nicht vollständig veröffentlicht vor und waren noch nicht einmal abgeschlossen (a-t 2006; 37: 117-9). Trotz unzureichender Datenlage beispielsweise hinsichtlich des klinischen Nutzens bei der Zielgruppe - Mädchen und junge Frauen, die noch keine sexuellen Kontakte hatten - sowie fehlender Langzeitdaten wurde die Vakzine in vielen Ländern rasch in nationale Impfprogramme aufgenommen. So gab die STIKO hierzulande ihre Empfehlung der generellen HPV-Impfung für Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren "aufgrund des großen öffentlichen Interesses ... ausnahmsweise vorab" bekannt und nicht, wie sonst üblich, zum regulären Termin im Juli 2007.1 Andernfalls wäre es uns vielleicht wie den Niederländern ergangen: Dort soll eine Entscheidung erst Ende des Jahres fallen. Doch der europäische GARDASIL-Vertreiber Sanofi Pasteur MSD übt mit einer gigantischen Werbekampagne über die Gefahren humaner Papillomviren ("schütze deine Tochter") in Radio und anderen Medien Druck auf niederländische Ärzte aus2 und gibt einen Vorgeschmack auf das, was uns bevorsteht, falls die direkte Werbung bei Verbrauchern erlaubt werden sollte (vgl. Seite 55).** In den USA hat Merck & Co. durch massive Lobbyarbeit erreicht, dass in vielen Staaten die Impfung aller Mädchen bereits als Voraussetzung für den Schulbesuch gefordert wird.4

*

FUTURE = Females United to Unilaterally Reduce Endo/Ectocervical Disease

**

Die Marketingaktivitäten tragen bereits Früchte: Nach Aussagen der Firma übersteigen die Verkaufszahlen von GARDASIL in Europa alle Erwartungen. Besonders stark ist der Umsatz in den Ländern, in denen der Impfstoff rasch von nationalen Behörden empfohlen wurde, nämlich in Deutschland, Österreich und Schweden.3

Die jetzt erstmals vollständig vorliegenden Zwischenergebnisse aus FUTURE I und II5,6 lassen jedoch Ernüchterung hinsichtlich des Nutzens der Vakzine aufkommen und werden nicht nur von einem begleitenden Editorial als "bescheiden" eingestuft.7-9 Zwar bestätigen die Auswertungen, dass GARDASIL Frauen zwischen 16 und 26 Jahren, die bis einen Monat nach Abschluss der Grundimmunisierung nicht mit einem im Impfstoff enthaltenen HPV-Typ infiziert sind (Per-Protokoll-Population), innerhalb eines mittleren Beobachtungszeitraums von drei Jahren bis zu 100% vor dysplastischen Veränderungen aller Schweregrade an Zervix, Vulva und Vagina sowie vor Genitalwarzen durch eben diesen HPV-Typ schützt (primärer Endpunkt, siehe Tabellen 1 und 2). Auch zeigt sich erneut, dass die Impfung den natürlichen Verlauf einer bereits bestehenden Infektion oder Dysplasie assoziiert mit HPV 6, 11, 16 oder 18 nicht beeinflusst, also keinen frühen therapeutischen Effekt hat.5,6 Überraschend gering fällt der Nutzen von GARDASIL jedoch bei Betrachtung der Gesamtzahl der Zervixdysplasien, also unabhängig vom HPV-Typ, in der Gesamtgruppe der Frauen aus. Obwohl HPV 16 und 18 für 70% der höhergradigen Zervixdysplasien verantwortlich sein sollen,10 kommen diese Veränderungen unter der Vakzine insgesamt nur 17% seltener vor als unter Plazebo (siehe Tabelle 1).5 Werden nur hochgradige Muttermunddysplasien (mindestens CIN*** 3) ausgewertet, die die geringste Wahrscheinlichkeit der Rückbildung haben und sich daher besser als Surrogatparameter für ein Zervixkarzinom eignen - CIN 2-Dysplasien bilden sich bei bis zu 40% zurück und werden in Leitlinien zum Teil als nicht unmittelbar therapiebedürftig eingestuft7 -, lässt sich weder in FUTURE II noch bei gemeinsamer Auswertung von vier Phase-2- und 3-Studien11 mit mehr als 20.000 Frauen ein Nutzen der HPV-Vakzine statistisch sichern.

***

CIN = Zervikale intraepitheliale Neoplasie; 1 leichte, 2 mäßiggradige, 3 hochgradige Dysplasie oder Carcinoma in situ.

Dass der Einfluss von GARDASIL auf die Gesamtrate der Zervixdysplasien in der Gesamtgruppe so bescheiden ausfällt, könnte mehrere Gründe haben: Zum einen kann die Impfung ein Fortschreiten bereits vorhandener Infektionen oder Erkrankungen nicht verhindern. Das Risiko einer HPV-Infektion steigt mit der Anzahl der Sexualpartner. In FUTURE II waren etwa 20% der Teilnehmerinnen zu Studienbeginn mit HPV 16 und/oder 18 infiziert. 93% hatten schon einmal Geschlechtsverkehr, wobei mindestens die Hälfte nur einen oder zwei verschiedene Sexualpartner hatten. Frauen mit mehr als vier verschiedenen Partnern durften nicht teilnehmen.

Zum anderen wurde ein beträchtlicher Teil der Dysplasien in der Plazebogruppe durch nicht im Impfstoff enthaltene HPV-Typen verursacht,7 in FUTURE II beispielsweise 44%. Dazu passt das Ergebnis einer kürzlich publizierten US-amerikanischen Stichprobe an 2.000 Frauen zwischen 14 und 59 Jahren, in der die Prävalenz von HPV 16 und 18 wesentlich niedriger war als bisher angenommen.12 Zudem gibt es Hinweise auf ein mögliches Replacement: In beiden FUTURE-Studien und zwei Metaanalysen11,13 ist die Zahl der Läsionen, in denen andere als die in GARDASIL enthaltenen HPV-Typen nachgewiesen werden, bei Geimpften konsistent numerisch höher als in den Plazebogruppen.

Wie sich die HPV-Impfung über einen längeren Zeitraum als bisher untersucht auf die Gesamtzahl der höhergradigen Zervixdysplasien auswirkt, ob also der Effekt von GARDASIL mit der Zeit zunimmt oder abnimmt, weil entweder der Schutz nachlässt oder tatsächlich ein relevantes Replacement auftritt, wird in kontrollierten Studien nicht mehr zu klären sein, da schon vor Monaten damit begonnen wurde, die Plazebogruppen der FUTURE-Studien ebenfalls zu impfen.14 Für die Per-Protokoll-Populationen, die die Zielgruppe - junge Frauen, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatten - am ehesten repräsentieren, fehlen in beiden Publikationen und den Metaanalysen die entscheidenden Angaben zur Rate der Zervixdysplasien insgesamt, also durch alle HPV-Typen, obwohl diese Daten bekannt sein müssten. Ohne sie lässt sich aber letztlich weder der tatsächliche Nutzen der Impfung noch die Rolle anderer onkogener HPV-Typen zuverlässig bewerten.7

Hinsichtlich der Verträglichkeit von GARDASIL ergeben sich aus den FUTURE-Studien keine wesentlichen neuen Erkenntnisse. Mit Lokalreaktionen, besonders Schmerz, aber auch Rötung, Schwellung und Juckreiz, ist bei mehr als 80% zu rechnen, mit Fieber bei etwa 14%.5,6 In FUTURE II werden saisonale Allergien unter der Vakzine häufiger diagnostiziert als unter Plazebo (2,2% vs. 0,4%).5 Bei 10- bis 15-jährigen Mädchen und Jungen kommt es im direkten Vergleich signifikant häufiger zu Fieber als bei 16- bis 23-jährigen Frauen, während lokale Rötungen und Schmerzen deutlich seltener auftreten.15

Für Aufregung sorgten in den letzten Wochen die von einer Verbraucherschutzorganisation ins Netz gestellten in den USA bislang dokumentierten 1.637 Spontanberichte über mögliche unerwünschte Wirkungen, darunter 371 schwerwiegende Ereignisse wie Krampfanfall, Guillain-Barré-Syndrom und Fazialislähmung sowie drei Todesfälle. Nach Angaben der Centers of Disease Control and Prevention (CDC) sollen zwei junge Frauen an thromboembolischen Ereignissen verstorben sein, die auch durch die von beiden Frauen gleichzeitig eingenommenen oralen Kontrazeptiva ausgelöst worden sein könnten. Ein Mädchen starb demnach an einer bereits vor der Impfung bekannten Myokarditis.16 Aus Australien kommen Berichte über Übelkeit, Schwindel, Ohnmacht und vorübergehende Lähmungserscheinungen, die von Ärzten und Behörden als Reaktion auf die Impfung an sich interpretiert und nicht auf den Impfstoff zurückgeführt werden.17,18

 Nach den jetzt endlich vollständig veröffentlichten Zwischenergebnissen der FUTURE-Studien senkt die HPV-Vakzine GARDASIL die Gesamtzahl höhergradiger Zervixdysplasien (CIN 2 und höher) bei Frauen zwischen 16 und 26 Jahren, die mehrheitlich bereits sexuelle Kontakte hatten, nur um 17% und damit deutlich weniger als erhofft. Für die als Surrogatparameter für ein Zervixkarzinom geeigneteren hochgradigen Dysplasien (CIN 3) lässt sich statistisch kein Effekt sichern.

 Zervixdysplasien wurden in beiden Studien deutlich seltener als erwartet durch die im Impfstoff enthaltenen HPV-Typen verursacht.

 Jungen Frauen bietet die Vakzine während der durchschnittlich dreijährigen Beobachtungszeit (fast) vollständigen Schutz vor Dysplasien aller Schweregrade an Gebärmutterhals, Vulva und Vagina sowie vor Genitalwarzen durch die im Impfstoff enthaltenen HPV-Typen, sofern sie bis zum Abschluss der Grundimmunisierung nicht mit den entsprechenden Typen infiziert waren.

 Die entscheidende Frage, wie sich GARDASIL in dieser Population (Per- Protokoll-Population), die am ehesten der Zielgruppe entspricht, nämlich junge Frauen vor dem ersten Geschlechtsverkehr, auf die Gesamtzahl höhergradiger Zervixdysplasien auswirkt, wird jedoch nicht beantwortet, obwohl die Daten bekannt sein müssten.

 Auf dieser Datenbasis ist es unmöglich, den Nutzen der Impfung und die Rolle anderer onkogener HPV-Typen abzuschätzen. Autoren, Hersteller und Behörden sind dringend gefordert, die Ergebnisse zur Gesamtzahl höhergradiger Zervixdysplasien in der Per-Protokoll-Population offenzulegen. Ohne diese Daten lässt sich eine Empfehlung von GARDASIL u.E. nicht begründen.

 

 

(R= randomisierte Studie, M= Metaanalyse)

 

1

Ständige Impfkommission (STIKO): Epid. Bull. 2007; Nr. 12: 97-103

 

2

SHELDON, T.: BMJ 2007; 334: 819

 

3

Brisbane Times vom 1. Juni 2007:
http://news.brisbanetimes.com.au/ gardasil-beats-expectations-in-europe/20075901-g13.html

 

4

Scrip 2007; Nr. 3237: 12

R

5

FUTURE II Study Group: N. Engl. J. Med. 2007; 356: 1915-27

R

6

GARLAND, S.M. et al.: N. Engl. J. Med. 2007; 356: 1928-43

 

7

SAWAYA, G.F., SMITH-McCUNE, K.: N. Engl. J. Med. 2007; 356: 1991-3

 

8

Dt. Ärztebl. Online vom 11. Mai 2007;
http://www.aerzteblatt.de/v4/news/newsdruck.asp?id=28442

 

9

MAUGH, T.H., CHONG, J.-R.: Los Angeles Times vom 10. Mai 2007

 

10

Sanofi Pasteur MSD: Pressemitteilung vom 1. Juni 2007

M

11

FUTURE II Study Group: Lancet 2007; 369: 1861-8

 

12

DUNNE, E.-F. et al.: JAMA 2007; 297: 813-9

M

13

JOURA, E.A. et al.: Lancet 2007; 369: 1693-702

 

14

Medical News Today vom 27. Febr. 2007;
http://www.medicalnewstoday.com/medicalnews.php? newsid=64007

R

15

BLOCK, S.L. et al.: Pediatrics 2007; 118: 2135-45

 

16

Dt. Ärzteblatt Online vom 25. Mai 2007;
http://www.aerzteblatt.de/v4/news/newsdruck.asp?id=28591

 

17

Canberra Times vom 23. Mai 2007;
http://canberra.yourguide.com.au/ printerFriendlyPage.asp?story_id=587650

 

18

CHAPMAN, S., McKENZIE, R.: BMJ 2007; 334: 1195

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