Als Probiotika werden Zubereitungen mit vermehrungsfähigen Mikroorganismen bezeichnet, die die Darmflora beeinflussen und dadurch positive
gesundheitliche Auswirkungen entfalten sollen. Der Glaube an die Heilwirkung dieser Produkte hat Tradition: Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die hohe
Lebenserwartung bulgarischer Bauern auf den Verzehr Laktobacillus-haltiger Milchprodukte zurückgeführt.1
Probiotika markieren eine Grauzone zwischen "Lifestyle" und Medizin. Sie werden entweder als Milchprodukte, denen lebende Mikroorganismen
zugesetzt werden (Werbeslogan: "ACTIMEL activiert Abwehrkräfte"),2 oder als Arzneimittel in den Handel gebracht.
Milchsäurebakterien wie Laktobacillus rhamnosus (INFECTODIARRSTOP LGG) und Bifidobakterium-Stämme (in: OMNIFLORA N) werden ebenso wie
Escherichia coli "Nissle 1917" (MUTAFLOR u.a.), Enterococcus faecalis oder Hefepilze wie Saccharomyces boulardii (PERENTEROL u.a.) als Probiotika
verwendet.1 Die Eigenschaften der einzelnen Mikroorganismen sind nicht auf andere übertragbar. Selbst innerhalb der Gruppe der Laktobacillus-
Stämme können sich Säure- und Gallensaftstabilität ebenso wie Adhärenz an die Darmschleimhaut und biologische Auswirkungen
untereinander deutlich unterscheiden.1 Neben potenziellen Anwendungsgebieten wie Allergien wird vor allem der Nutzen bei Antibiotika-bedingten und akut
infektiösen Durchfallerkrankungen geprüft. Die Wirkmechanismen sind nicht geklärt. Sowohl Verdrängung pathologischer Keime und Sekretion
antimikrobieller Substanzen als auch immunologische Auswirkungen wie veränderte Phagozytosetätigkeit weißer Blutzellen und Anstieg bestimmter
Immunglobuline sollen eine Rolle spielen.1,3
PROPHYLAXE VON ANTIBIOTIKA-ASSOZIIERTEN DURCHFÄLLEN: Durchfall ist eine typische Störwirkung von Antibiotika. Die Beschwerden
reichen von geringer Befindlichkeitsstörung bis zur lebensbedrohlichen pseudomembranösen Kolitis. Nicht immer liegt eine Störung der Darmflora zu
Grunde. Durchfälle können auch auf allergischen oder toxischen Wirkungen der Antibiotika beruhen.4
Die Häufigkeit Antibiotika-assoziierter Durchfälle ist nur wenig systematisch untersucht. In Therapiestudien mit ausgewählten Patientengruppen
werden Inzidenzen zwischen 10% und 30% angegeben.4 In einer großen schwedischen Erhebung mit 2.462 stationär behandelten Patienten
entwickeln 5% während oder innerhalb von 45 Tagen nach Beginn der Antibiotikabehandlung Durchfälle (drei oder mehr flüssige Stühle pro
Tag an mindestens zwei Tagen).4 Leichtere Symptome betreffen weitere 7%. Schwere Begleiterkrankungen und eine Behandlungsdauer von mehr als zwei
Tagen scheinen das Risiko zu erhöhen. In einer anderen Erhebung werden Zytostatikatherapie und Sondenernährung als Risikofaktoren
genannt.5 Clostridium difficile findet sich bei bis zu einem Drittel der Ereignisse. Allerdings tritt der Keim auch bei asymptomatischen Patienten auf, sodass
nicht immer ein kausaler Zusammenhang besteht. Bei einigen der Betroffenen kommt es nach zunächst erfolgreicher Behandlung mit Metronidazol (CLONT
u.a.) oder Vancomycin (VANCOMYCIN ENTEROCAPS u.a.) zu rezidivierenden Clostridien-induzierten Durchfällen.6
Die parallel zur Antibiotika-Einnahme durchgeführte Prophylaxe mit Probiotika soll Durchfälle verhindern. Die Datenlage ist relativ umfangreich: Sechs
systematische Übersichtsarbeiten zu dem Thema wurden allein seit 2002 veröffentlicht.7-12 Zwischen 4 und 33 Studien sind in den Analysen
eingeschlossen, von denen eine nur Studien bei Kindern,12 die umfangreichste8 hingegen alle Altersgruppen und zusätzlich andere
Indikationen wie Reisediarrhöen berücksichtigt. Es werden unterschiedliche Mikroorganismen geprüft (Laktobacillus-Stämme, Saccharomyces
boulardii, Enterokokken, Bifidobakterien u.a.). Die Dosierungen und Zusammensetzungen unterscheiden sich deutlich. Die Therapiedauer reicht von sieben Tagen
bis vier Wochen oder umfasst die Zeitdauer des Krankenhausaufenthaltes. Die Definitionen für Durchfall sind uneinheitlich. Die Studien werden dennoch in den
Metaanalysen gemeinsam ausgewertet, was bei der erheblichen, auch statistisch nachweisbaren Heterogenität12 fragwürdig ist. Abhängig
vom Datenpool wird für die Prophylaxe mit Probiotika ein verringertes relatives Risiko für das Auftreten von Durchfällen um etwa 50% bis 70%7-
10 errechnet. Die beiden am häufigsten untersuchten Keime Saccharomyces boulardii und Laktobacillus rhamnosus sollen nach einer getrennt erfolgten
Auswertung einen vergleichbaren Effekt haben (Risikoreduktion um 69% beziehungsweise 63%).7
Kein sicherer Nutzen wird in einer Auswertung für die gezielte Verhinderung von Clostridium-difficile-induzierten Durchfällen gesehen.11
Folgt man den Autoren der "positiven" Metaanalysen,7-10 so sind die jeweils eingeschlossenen Studien von befriedigender bis guter
Qualität. Eine aktuelle Leitlinie hält den Nutzen von Laktobacillus rhamnosus und Saccharomyces boulardii in dieser Indikation daher für "klar
belegt".3 Ein Blick in die Originalarbeiten führt jedoch zur Ernüchterung: Übliche Standards wie Beschreibung des
Randomisierungsverfahrens, das eine unbeeinflusste zufällige Zuordnung der Patienten zu den Behandlungsgruppen ermöglichen soll, fehlen in allen
Arbeiten. Primäre Endpunkte werden entweder nicht angegeben oder nicht klar definiert. Hauptmangel aller Studien ist jedoch, dass nicht alle jeweils
eingeschlossenen Patienten ausgewertet werden ("Intention-to-treat"), wie es etablierter Standard ist. Stattdessen werden Studienausscheider generell
nicht berücksichtigt oder es gehen nur die Patienten in die Auswertung ein, die mindestens eine gewisse Zeit in der Studie verblieben sind. Bei Abbruchraten
bis 40%, die insbesondere angesichts der kurzen Studiendauer inakzeptabel sind, halten die Ergebnisse daher Robustheitsanalysen nicht stand.
In einer systematischen Übersicht werden die Intention-to-treat-Auswertungen zumindest für pädiatrische Studien nachgeholt. Der zunächst in
diesen Arbeiten für die bis zum Schluss in den Studien verbliebenen Patienten beschriebene "Per-Protokoll"-Effekt (relatives Risiko [RR] 0,49; 95%
Konfidenzintervall [CI] 0,32-0,74) lässt sich dann nicht mehr statistisch sichern (RR 0,90; 95% CI 0,5-1,63). Es ergeben sich zudem Hinweise auf das
Vorhandensein unveröffentlichter Negativstudien (Publication bias).12
Auch neuere, noch nicht in die Metaanalysen eingeschlossene Studien zeigen erhebliche Probleme: In einer aktuellen von der Firma Danone unterstützten
britischen Arbeit wird der Nutzen eines probiotisch aufbereiteten Joghurt-Drinks (ACTIMEL, enthält Laktobacillus casei imunitass, Laktobacillus bulgarus und
Streptococcus thermophilus) bei 135 erwachsenen, antibiotisch behandelten Krankenhauspatienten mit einem "normalen" Milchshake verglichen. Die
Inzidenz von Durchfällen soll bis vier Wochen nach Entlassung aus dem Krankenhaus unter ACTIMEL mit 12% deutlich niedriger liegen als bei den Kontrollen
(34%; Number needed to treat [NNT] = 5). Allerdings scheitert die Studie bereits an einfachen methodischen Voraussetzungen wie einer adäquaten
Verblindung: Die beiden Zubereitungen gelangen lediglich umetikettiert in den kommerziell erhältlichen unterschiedlich großen Packungen (ACTIMEL: 100
ml/Kontrolle: 200 ml) auf die Station und werden dann vom Pflegepersonal an die Studienteilnehmer verteilt. 22 Teilnehmer (16%) brechen die Studie ab und bleiben
bei der Auswertung unberücksichtigt. 16 von ihnen sollen trotz mehrerer Versuche nicht mehr kontaktierbar gewesen sein.13
Die Datenlage zum prophylaktischen Gebrauch von Probiotika ist somit trotz der zum Teil eindrucksvoll erscheinenden Ergebnisse wenig zuverlässig. Klinisch
relevante Fragestellungen wie Einfluss auf die Inzidenz schwerer, lebensbedrohlicher Durchfälle, Verhinderung rezidivierender Verläufe und Reduktion von
Krankenhausaufenthalten sind zudem nicht untersucht.
THERAPIE AKUTER INFEKTIÖSER DIARRHÖEN: Akute infektiöse Durchfälle bedrohen vor allem Kleinkinder in Ländern der
Dritten Welt. Im Jahr 2003 wird die Zahl der dadurch verursachten Todesfälle bei unter fünfjährigen Kindern trotz rückläufiger Tendenz
nach wie vor auf 2 Millionen geschätzt.14 Etablierter Standard der Durchfalltherapie sind selbst hergestellte oder kommerziell erhältliche orale
Rehydratationslösungen (ELOTRANS u.a.), die vor Exsikkose schützen, aber keinen Einfluss auf die Krankheitsdauer haben.
Der Nutzen probiotischer Zubereitungen zur Verkürzung akuter Durchfallepisoden wurde in zahlreichen, meist kleinen Studien (weniger als 100 Patienten)
geprüft, vorwiegend in industrialisierten Ländern. In einem Cochrane Review15 werden 23 Studien mit insgesamt 1.917 Teilnehmern, davon
1.449 Kinder und Jugendliche (unter 18 Jahren) ausgewertet. In zwölf der Arbeiten wird die Dauer der Durchfallepisode berechnet. Diese wird unter Probiotika
gegenüber Kontrollen um im Mittel 30,5 Stunden verkürzt. Die Zahl der Patienten, deren Durchfall länger als zwei Tage dauert, soll durch Probiotika
um etwa ein Drittel verringert sein. Geprüft wurden vor allem unterschiedliche Laktobacillus-Stämme, daneben Enterokokkus und Saccharomyces
boulardii. In zwei weiteren Metaanalysen, die ausschließlich Kinder berücksichtigen, wird für Saccharomyces boulardii16 und Laktobacillus
rhamnosus17 ebenfalls eine Krankheitsverkürzung von etwa einem Tag errechnet.
Die methodischen Probleme der Prophylaxestudien setzen sich auch bei den Untersuchungen zur Therapie fort: Die Randomisierung wird nur in sechs Studien des
Cochrane Reviews beschrieben. Nur in einer Arbeit werden alle eingeschlossenen Patienten in die Auswertung einbezogen.18 Der größte
Therapieeffekt wird in einer offen durchgeführten Arbeit19 mit unbehandelten Kontrollen beschrieben. In einer anderen Studie wird das
enttäuschende Gesamtergebnis gar nicht erst dargestellt, sondern lediglich die Ergebnisse einer offensichtlich nachträglich definierten Subgruppe als
Erfolg errechnet.20 Nur diese Subgruppenauswertung geht in die systematische Übersicht der Cochrane-Arbeitsgruppe ein. Die mangelnde
Qualität vieler Probiotikastudien wird auch von den Autoren zweier Metaanalysen pädiatrischer Untersuchungen moniert.16,17
Es gibt zudem Hinweise auf Unwirksamkeit bei schweren Durchfällen: In zwei Arbeiten findet sich erst dann ein Erfolg der Behandlung mit Laktobacillus, wenn
Studienteilnehmer mit blutigen Durchfällen ausgeschlossen werden. Für die Gesamtgruppe lässt sich kein Therapieeffekt nachweisen.20,21
In einer Studie mit Jungen unter zwei Jahren, die an akuten schweren Durchfällen mit deutlichen Zeichen der Exsikkose leiden, ist die Behandlung mit
Laktobacillus wirkungslos.22 Schwere Krankheitsverläufe sind ansonsten in vielen Studien ein Ausschlussgrund.
Aktuell ist die größte Studie mit Probiotika zur Therapie akuter Durchfälle bei Kindern ohne ausgeprägte Exsikkose veröffentlicht worden:
Eine alleinige orale Rehydratation wird bei 571 Kindern mit zusätzlicher Einnahme fünf verschiedener Probiotikazubereitungen verglichen: zwei
Laktobacilluspräparate, Saccharomyces boulardii, Bacillus clausii und Enterococcus faecium SF68. Die beiden Laktobacilluspräparate sollen die
Durchfalldauer gegenüber der alleinigen Rehydratation von 115 auf 70 bis 79 Stunden verkürzen. Für die anderen Zubereitungen wird kein Effekt
gesehen.23 Die Studie ist zwar groß, leidet jedoch ebenfalls unter mangelhafter Durchführung. Die Patienten erhalten die Zubereitungen
unverblindet, lediglich die Auswertung der Patiententagebücher erfolgt ohne Kenntnis der Zuteilung. Trotz der Wahl mehrerer Endpunkte und multipler
Vergleiche wird dies bei der statistischen Berechnung nicht durch Korrekturverfahren berücksichtigt. Die Wirksamkeit von Laktobacilluspräparaten
lässt sich auch mit dieser Studie demnach nicht belegen.
SICHERHEIT: Probiotika werden in den Studien als weitgehend nebenwirkungsfrei beschrieben, sofern Störwirkungen überhaupt erfasst werden.
Nur in 12 der 23 Therapiestudien des Cochrane-Reviews15 werden Störeffekte erwähnt. Es gibt jedoch eine Reihe von Berichten zu
Laktobacillus-induzierten Septikämien24-26 und Endokarditis.26 Saccharomyces-Stämme können Fungämien
verursachen,27-29 die sich klinisch kaum von einer Candidasepsis unterscheiden lassen. Bei mehreren Ereignissen konnte ein Zusammenhang mit der
Einnahme probiotischer Arzneimittel mittels DNA-Vergleich gesichert werden.25 In anderen Fallserien wird zum Teil ein zeitlicher Zusammenhang mit der
Einnahme beschrieben.28,29 Betroffen sind nahezu ausschließlich schwerkranke Patienten mit geschwächtem Immunsystem (AIDS, Zustand
nach Organtransplantation, Diabetes mellitus, Frühgeborene). Dies sind jedoch gleichzeitig die Patienten, die am stärksten durch Clostridum-difficile-
assoziierte Diarrhöen vital gefährdet sind. Versorgung mit einem zentralvenösen Katheter scheint ein weiterer Risikofaktor zu sein. Selbst iatrogen
übertragene Infektion bei liegendem Venenkatheter und benachbarten Patienten, die Probiotika erhalten, scheint möglich.27
Die Septikämien können lebensbedrohlich verlaufen: Von 89 Patienten mit Laktobacillus-Septikämie stirbt ein Viertel innerhalb eines
Monats.26 In einer weiteren Erhebung mit 60 Patienten mit Saccharomyces-Fungämie, von denen 26 Probiotika eingenommen haben, sterben 17
(28%).28 Ob es Unterschiede hinsichtlich der Pathogenität verschiedener Probiotika gibt, lässt sich aus den Fallsammlungen nicht ableiten. Die
potenziell schwere Störwirkung wird in Fachinformationen erwähnt.30,31 Wir raten grundsätzlich davon ab, Probiotika bei schwerkranken
oder immunsupprimierten Patienten anzuwenden.
Zur Prophylaxe Antibiotika-assoziierter Diarrhöen
beschreiben zwar eine Reihe randomisierter kontrollierter Studien mit Probiotika wie Saccharomyces boulardii (PERENTEROL u.a.) oder Laktobacillus-Stämmen
(INFECTODIARRSTOP LGG u.a.) eine eindrucksvolle Senkung des relativen Durchfallrisikos um rund 50% bis 70%. Aufgrund der zahlreichen methodischen
Schwächen sind diese Befunde jedoch nicht valide. Zum Einfluss auf schwere Verläufe fehlen Daten.
Bei der Therapie akuter infektiöser Diarrhöen wird in
Metaanalysen eine Verkürzung der Krankheitsdauer um durchschnittlich etwa einen Tag errechnet. Der beschriebene Nutzen bei leichteren Verläufen ist
aufgrund der erheblichen Studienmängel fraglich. Bislang vorliegende Daten sprechen gegen eine Wirksamkeit bei schweren Durchfallerkrankungen.
Eine differenzierte Bewertung der verschiedenen Probiotika, Dosierungen und
Therapiedauer ist aufgrund der unbefriedigenden Datenqualität nicht möglich.
Septische Komplikationen mit Probiotikakeimen kommen bei schwerkranken,
immunsupprimierten sowie mit zentralem Venenkatheter versorgten Patienten vor. Diese sind von einer Behandlung auszuschließen.
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