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Harnröhrenverschluss nach "Zelltherapie" mit UROCELL

Ein 69-jähriger Patient leidet seit der Operation eines Prostatakarzinoms im Jahre 2004 an Inkontinenz. Im März 2006 erhält er in einer Innsbrucker Klinik nach vorheriger Entnahme von Muskelgewebe aus dem Oberarm und getrennter Anzüchtung von Myoblasten und Fibroblasten Injektionen des Zellmaterials transurethral ("UROCELL"-Therapie). Danach bessert sich die Inkontinenz nur gering, andererseits nehmen aber Schwierigkeiten beim Entleeren der Blase zu. Zehn Wochen nach Zellimplantation besteht ein totaler Verschluss der Harnröhre, sodass die Anlage eines Dauerkatheters erforderlich wird. Zystoskopisch werden Stenosen im Bereich des Zellimplantats festgestellt, die mehrfache operative Eingriffe, unter anderem mit Erweiterung der Harnröhre, erforderlich machen. Die Anlage eines künstlichen Blasensphinkters wird erwogen (NETZWERK-Bericht 14.990). Bei einem 70-jährigen Patienten kommt es nach Implantation der Myoblasten zu einer Blasenruptur, die operativ versorgt werden muss. Neun Wochen später entwickelt sich auch bei ihm ein kompletter Harnröhrenverschluss (15.025).

EXPERIMENTELL: INKONTINENZTHERAPIE MIT AUTOLOGEN MYOBLASTEN/FIBROBLASTEN

Bei dem in einer Innsbrucker Klinik entwickelten und nach Angaben des Anbieters1,2 auch in Deutschland praktizierten Verfahren sollen die aus einer Muskelbiopsie innerhalb von sechs bis acht Wochen angezüchteten und anschließend in den Blasenschließmuskel injizierten Myoblasten und Fibroblasten zu einer Regeneration des Blasenschließmuskels führen. Die Myoblasten werden in den Rhabdosphinkter, die Fibroblasten zusammen mit Rinderkollagen (CONTIGEN) in die urethrale Submukosa infiltriert. Der Anbieter behauptet, dass "bisher keine Nebenwirkungen der Zelltherapie UROCELL bekannt" seien,1 obwohl ihm die im NETZWERK-Bericht 14.990 beschriebene Störwirkung vorliegen muss. Aus der "Patienteninformation"3 wird zudem nicht ersichtlich, dass es sich um ein bislang nur unzureichend untersuchtes experimentelles Verfahren handelt. Es ist in den letzten Wochen in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt,4-6 da ein Patient wegen Wirkungslosigkeit und Verschweigens des experimentellen Charakters der Therapie auf Schadenersatz klagt.

Außerdem wurden Ungereimtheiten einer im Lancet durch die Innsbrucker Arbeitsgruppe veröffentlichten Studie7 zu dieser Therapie offenbar. In der Arbeit mit 63 Frauen mit Stressinkontinenz wird eine sehr gute Wirksamkeit des Verfahrens behauptet: Bei 38 (90%) von 42 Patientinnen sei es nach einem Jahr zu einem vollständigen Verschwinden der Symptome gekommen, hingegen nur bei 2 (10%) von 21 Patientinnen, denen statt des Zellsubstrats lediglich Rinderkollagen injiziert wurde. Nach Angaben von Mitgliedern der zuständigen Ethikkommission und einer aktuellen Stellungnahme der österreichischen Gesundheitsministerin8 hätte diese Studie wegen des fehlenden Votums der Ethikkommission jedoch nicht durchgeführt werden dürfen. Zudem ist die in der Publikation angegebene Studienregistrierungsnummer falsch,9 und es gibt Unklarheiten, ob das in der Publikation angegebene Randomisierungsverfahren bei Beginn der Studie geplant war.10 Ergebnisse aus anderen Kliniken, in denen UROCELL angewandt wird, sind deutlich schlechter,11,12 was zusätzliche Zweifel an der Validität der Resultate aufkommen lässt.

Allein die Zellkultivierung kostet knapp 9.000 € (inkl. Mehrwertsteuer), die nicht von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Zwei Autoren der im Lancet erschienenen Studie sind gleichzeitig Miteigentümer der Firma, bei der die Zellen angezüchtet werden.7

Wir erachten das Verfahren als eine rein experimentelle, keineswegs nebenwirkungsfreie Methode. Sie sollte allenfalls im Rahmen prospektiv geplanter randomisierter kontrollierter Studien durchgeführt werden.

  (R = randomisierte Studie)
 1http://www.innovacell.at Leistungen Urocell FAQ
 2Schreiben der Firma Innovacell vom 16. Juni 2008
 3Patienteninformation Zell-Therapie UROCELL: http://www.uro-basel.ch/pdf/Patienteninformation_stammzelle.pdf
 4Österreichische Ärzteztg. 9/2008:
http://root.aerztezeitung-oesterreich.at/riscompany/artikel_detail.asp?onr=176842&imenuonr=28565&cnr=106
 5Focus online vom 25. Mai 2008:
http://www.focus.de/gesundheit/arzt_medikamente/medizinskandal-in-oesterreich-deutsche-fallen-auf-aerzte-herein_aid_304025.html
 6ABBOTT, A.: Nature 2008; 453: 6-7
R7STRASSER, H. et al.: Lancet 2007; 369: 2179-86
 8KDOLSKY, A.: Schreiben vom 5. Juni 2008 (GZ: BMGFJ-11001/0067-I/A/ 3/2008)
 9Editors of Lancet: Lancet 2008; 371: 1490
 10Brief von SPENCER, S. an H. STRASSER vom 25. Sept. 2007
 11MAY, F., STIEF, C.: J. Urol. Urogynäkol. 2008; 15 (Sonderheft 2): Seite 52, V10.10 (Abstract)
 12Zeugenvernehmung von Prof. Dr. A. SCHEIL vor dem Bezirksgericht Innsbruck-Stadt

© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 4. Juli 2008

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