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Korrespondenz

IMPFUNG GEGEN ROTAVIREN

Unsere Tochter ist jetzt sieben Wochen alt und es besteht die Frage, ob sie gegen Rotaviren geimpft werden soll. Wie bewerten Sie diese Impfung?

Dr. med. M. OLESZOWSKY (Internistin, Diabetologin)
D-51105 Köln
Interessenkonflikt:keiner

Seit 2006 sind mit ROTARIX und ROTATEQ zwei Schluckimpfstoffe gegen Rotaviren im Handel, dem häufigsten Auslöser schwerer Durchfallerkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern (siehe Kasten).1 Beide wurden in umfangreichen Sicherheitsstudien mit jeweils mehr als 60.000 Säuglingen geprüft, da in den USA 1999 ein anderer Schluckimpfstoff gegen Rotaviren weniger als ein Jahr nach Markteinführung wieder zurückgezogen werden musste, nachdem ein erhöhtes Risiko von Invaginationen aufgefallen war. Bei diesem seltenen lebensbedrohlichen Ereignis stülpt sich ein Darmabschnitt in einen anderen. Die Mehrzahl der Betroffenen soll bei der ersten Impfung vier Monate und älter gewesen sein.2 Ob das Risiko aber tatsächlich mit zunehmendem Alter der Impflinge steigt, bleibt umstritten.3 ROTARIX und ROTATEQ dürfen jedenfalls aus diesem Grund nur bis zur 24. bzw. 26. Lebenswoche verwendet werden.4,5 Nach US-amerikanischen Daten erhält ein beträchtlicher Teil der Säuglinge das dort sogar bis zur 32. Lebenswoche zugelassene ROTATEQ allerdings jenseits dieses Alters und damit Off-Label.6

HINTERGRUND: Epidemiologische Bedeutung haben vor allem Rotaviren der Gruppe A. Die Antigenität wird von zwei Oberflächenproteinen, dem Protease-sensitiven VP4 ("P") und dem Glykoprotein VP7 ("G") bestimmt, anhand derer die Einteilung in unterschiedliche Serotypen nach einem binären System erfolgt. Bei VP4 werden zudem verschiedene Genotypen unterschieden. Dabei unterliegen Rotaviren einer ständigen genetischen Variation, ähnlich den Influenzaviren. Derzeit sind 14 G-Serotypen, 14 P-Serotypen und 23 P-Genotypen in zahlreichen Kombinationen bekannt.7 Weltweit am häufigsten kommen die Typen G1P[8], G2P[4], G3P[8] und G4P[8] vor. Sie sind für 88,5% der durch Rotaviren hervorgerufenen Durchfälle bei Kindern verantwortlich, wobei erhebliche regionale Unterschiede bestehen: Während in Europa, Nordamerika und Australien über 90% der Rotavirus-Infektionen auf diese Typen zurückgehen (davon allein auf G1P[8] über 70%), sind es in Afrika nur 50% (G1P[8] 23%). Allerdings können die in einer Region vorherrschenden Serotypen von Jahr zu Jahr wechseln. Seit einigen Jahren gewinnt der Serotyp G9 an Bedeutung.7

BEDEUTUNG VON ROTAVIRUS-INFEKTIONEN

Infektionen mit Rotaviren sind weltweit die häufigste Ursache schwerer Durchfallerkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Besonders betroffen sind Kinder zwischen sechs Monaten und zwei Jahren.1,2 Bis zum dritten Lebensjahr haben sich mehr als 90% infiziert, bis zum fünften Lebensjahr ist in der Regel bei allen Kindern eine Infektion abgelaufen.24 In gemäßigten Klimazonen wie Deutschland kommen Erkrankungen mit Rotaviren vor allem in den Monaten Februar bis April vor.1 Die Übertragung erfolgt in erster Linie durch Schmierinfektion. Nach einer Inkubationszeit von ein bis drei Tagen treten akut wässrige Durchfälle und zumeist auch Erbrechen auf, oft begleitet von Fieber und Bauchschmerzen sowie unspezifischen respiratorischen Symptomen. Die Beschwerden klingen in der Regel nach zwei bis sechs Tagen wieder ab. Neben asymptomatischen Verläufen sind vor allem im frühen Kindesalter schwere Erkrankungen mit Dehydratation möglich, die eine stationäre Behandlung erfordern können.1 Nach begrenzten US-amerikanischen Daten soll das Risiko einer Hospitalisierung wegen viraler Gastroenteritis bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien größer sein.25

Bei Erwachsenen verlaufen Rotaviruserkrankungen meist milder und treten z.B. als Reisediarrhö in Erscheinung. Seit 2001 besteht eine Meldepflicht.1

In Entwicklungsländern tragen Rotavirus-Erkrankungen maßgeblich zur Mortalität im Kindesalter bei.1 Hierzulande verlaufen sie aufgrund der gesicherten medizinischen Versorgung nur selten tödlich.24 Das Robert Koch-Institut dokumentiert für 2004 sechs und für 2005 vier Todesfälle (alle Altersgruppen) in Zusammenhang mit einer Rotavirusinfektion.24 Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese häufig als nosokomiale Infektionen auftreten und daher als Todesursache auch weitere schwere Erkrankungen in Betracht kommen.

Obwohl mehrfache Infektionen mit Rotaviren möglich sind, kommen schwere Verläufe vor allem bei Erstinfektion im frühen Kindesalter vor. Nach einer natürlichen Infektion sind 40% der Kinder vor weiteren Infektionen geschützt, 75% vor Rotavirus-Gastroenteritiden aller Schweregrade und 88% vor schweren Erkrankungen. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind wenig bekannt.25

* Rinderbestandteile sollen natürliche Abschwächung bewirken.10

WIRKSAMKEIT: In einer Studie mit 3.994 Säuglingen aus sechs europäischen Ländern senkt ROTARIX die Zahl der Rotavirus-Gastroenteritiden aller Schweregrade gegenüber Plazebo im ersten Beobachtungszeitraum (mittlere Dauer 5,7 Monate) um 87%. Die Wirksamkeit hinsichtlich schwerer Erkrankungen und Hospitalisierungen beträgt 96% bzw. 100% (siehe Tabelle). In der zweiten Follow-up-Phase (mittlere Dauer 1 Jahr) werden Rotavirus-Gastroenteritiden insgesamt um 72% verringert, schwere Erkrankungen um 86% und Krankenhauseinweisungen um 92%.11 Die Daten lassen für einige Serotypen im zweiten Jahr ein Nachlassen der Immunität erkennen.12 Todesfälle treten in der Studie nicht auf.

Eine zweite Studie,13,14 an der mehr als 20.000 Säuglinge aus einer großen plazebokontrollierten Sicherheitsstudie zum Invaginationsrisiko mit insgesamt etwa 63.000 Säuglingen aus elf lateinamerikanischen Ländern teilnehmen, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Auch in dieser Untersuchung lässt der Schutz gegen einzelne Serotypen laut europäischem Arzneispezialitätenausschuss CHMP im zweiten Jahr "klar" nach.12 Ein Einfluss auf die Sterblichkeit lässt sich nicht nachweisen.13,14

Daten zum Nutzen von ROTATEQ stammen im Wesentlichen aus einer Substudie der großen plazebokontrollierten Sicherheitsstudie REST**15 mit etwa 70.000 Säuglingen aus elf Ländern, überwiegend Industrienationen, an der 5.673 Säuglinge aus den USA und Finnland teilnehmen. Ausgewertet werden Erkrankungen durch die im Impfstoff enthaltenen Serotypen G1 bis G4, die während der der Immunisierung folgenden vollen Rotavirus-Saison auftreten. Ein Teil der Kinder wird noch eine weitere Saison beobachtet. Der Schutz vor Rotavirus-Gastroenteritiden aller Schweregrade durch vom Impfstoff abgedeckte Serotypen beträgt in der ersten Saison 74% (2. Saison: 63%) und der vor schweren Erkrankungen 98% (2. Saison: 88%).15 Eine kleinere unveröffentlichte Studie kommt zu ähnlichen Ergebnissen.2

** REST = Rotavirus Efficacy and Safety Trial

Krankenhausaufnahmen wegen Rotavirus-Gastroenteritis durch G1 bis G4 nehmen unter ROTATEQ nach einer nachträglichen2 Analyse, in die die Daten aller 70.000 Säuglinge der Sicherheitsstudie über bis zu zwei Jahre eingehen, um 95% ab.8,15 Die Sterblichkeit wird nicht beeinflusst (0,07% versus 0,06% unter Plazebo).15

Offen bleibt, inwieweit die natürliche Variabilität der Rotaviren, aber auch eine mögliche Verdrängung derzeit vorherrschender Serotypen durch die Impfung (Replacement) den Nutzen künftig beeinträchtigen können.

STÖRWIRKUNGEN: In keiner der beiden Sicherheitsstudien ergibt sich ein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko an Invaginationen (primärer Sicherheitsendpunkt).13,15 Nach Einschätzung der europäischen Arzneimittelbehörde EMEA können aber selbst Studien dieser Größe ein solches Risiko nicht ausschließen.2 Weitere Überwachung und Postmarketingstudien sind daher geplant. Zwei Jahre nach Einführung von ROTATEQ in den USA lassen die dort dokumentierten Berichte über Invaginationen zwar keinen Hinweis auf ein erhöhtes Risiko innerhalb von drei Wochen nach jeder Dosis erkennen. Es fällt aber eine gewisse Häufung von Ereignissen innerhalb der 1. Woche nach der ersten Dosis im Vergleich zur 2. und 3. Woche auf. Sicherheitsbedenken leiten die US-amerikanischen Behörden daraus derzeit nicht ab.16

Da die Impfviren mit dem Stuhl ausgeschieden werden, ist eine Übertragung auf Kontaktpersonen möglich bzw. wurde unter ROTARIX bereits beobachtet. Gefährdet sind besonders immungeschwächte Personen im engen Umfeld des Impflings.4,5

In klinischen Studien mit ROTARIX wird signifikant häufiger als unter Plazebo über Reizbarkeit (21% vs. 17%) und Blähungen (3,8% vs. 2,4%) berichtet.12 In der großen Sicherheitsstudie sind zudem erhöhte Raten an Krampfanfällen und Pneumonie-bedingten Todesfällen aufgefallen. Andere - kleinere - Untersuchungen haben diese Risikosignale nicht bestätigt.17 Auch ein KAWASAKI-Syndrom tritt in plazebokontrollierten Studien unter der Vakzine numerisch häufiger auf.9 Alle drei Ereignisse sollen in einer großen Postmarketingstudie zum Invaginationsrisiko mit 44.000 Säuglingen weiter abgeklärt werden.18

Trotz mehrfacher Hinweise in der Fachinformation von ROTARIX musste der Hersteller aufgrund entsprechender Berichte vor fälschlicher intramuskulärer oder subkutaner Injektion warnen.19 Offenbar verleitet die Konfektionierung in einem spritzenähnlichen Behälter zu falscher Anwendung.

Unter ROTATEQ kommt es signifikant häufiger als unter Plazebo zu Durchfall (24,1% vs. 21,3%), Erbrechen (15,2% vs. 13,6%), Otitis media (14,5% vs. 13,0%), Nasopharyngitis (6,9% vs. 5,8%) und Bronchospasmus (1,1% vs. 0,7%).8 Numerisch häufiger fallen in Phase-III-Studien wie bei ROTARIX Krampfanfälle und KAWASAKI-Syndrom auf.8 Nach Markteinführung wurde über Urtikaria und Hämatochezie*** berichtet.2,5

*** Frisches Blut im Stuhl, tritt unter anderem bei Invaginationen auf.

OFFIZIELLE EMPFEHLUNG? Von der STIKO wird die Impfung gegen Rotaviren bislang nicht offiziell empfohlen. Das Gremium muss neuerdings neben der medizinischen Bewertung auch eine Kosten-Nutzen-Analyse vornehmen. Dies ist derzeit nicht möglich, da für Deutschland unbekannt ist, wie hoch die Krankheitslast aufgrund von Rotavirus-Erkrankungen ist.20 Das hindert einige Mitglieder der Kommission aber nicht daran, sich öffentlich für die Impfung auszusprechen. So "wünscht" sich C. HÜLSSE auf einer Veranstaltung des ROTATEQ-Anbieters Sanofi Pasteur MSD eine "generelle Impfempfehlung für alle Säuglinge in Deutschland"21,22 und äußert überdies in einer Radiosendung: "Der Impfstoff ist ein Schluckimpfstoff und Sie kennen alle sicher immer noch diesen Slogan: Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam und genauso würde ich das eigentlich auch auf die Rotavirus-Infektion übertragen."23 Und F. ZEPP betont: "Wenn für eine Schutzimpfung keine ausdrückliche Empfehlung der STIKO besteht, bedeutet dies kein Votum gegen diese Impfung."20

KOSTEN: ROTARIX und ROTATEQ werden zwar nicht zu identischen Preisen (ROTARIX: 87,60 €/Dosis; ROTATEQ: 58,39 €/Dosis) angeboten, die Immunisierung ist aber dennoch gleich teuer: Für die erforderlichen zwei Dosierungen ROTARIX bzw. drei Dosierungen ROTATEQ sind jeweils 175 € aufzuwenden. Mit einer 10er-Packung lassen sich 5% einsparen.

Die beiden Schluckimpfstoffe gegen Rotaviren ROTARIX und ROTATEQ verhindern schwere Rotavirus-Gastroenteritiden und deswegen erforderliche Hospitalisierungen in der ersten Rotavirus-Saison zu über 95% und in der zweiten Saison zu etwa 90%. Beide Impfstoffe scheinen damit etwa gleich wirksam zu sein. Die Nutzendokumentation von ROTARIX erscheint uns jedoch robuster.

Ein erhöhtes Risiko von Invaginationen, Ursache der Marktrücknahme eines früheren Schluckimpfstoffes gegen Rotaviren, lässt sich unter den beiden Vakzinen nicht feststellen, nach Einschätzung der Europäischen Arzneimittelbehörde aber auch nicht ausschließen.

Eine vollständige Immunisierung kostet rund 170 €, die Durchimpfung eines Jahrgangs mit 700.000 Säuglingen etwa 120 Mio. €.

Durchfallerkrankungen verlaufen hierzulande nur ausnahmsweise tödlich und hinterlassen in der Regel auch keine Folgeschäden. Da eine Senkung der Sterblichkeit für ROTARIX oder ROTATEQ ohnehin nicht belegt ist und die Höhe der Krankheitslast aufgrund von Rotavirus-Erkrankungen für Deutschland unbekannt ist, erscheint uns eine generelle Impfung aller Säuglinge gegen Rotaviren derzeit nicht begründbar. Eine Empfehlung der STIKO gibt es bislang nicht.

  (R = randomisierte Studie)
 1Robert Koch-Institut: Rotaviren. Merkblätter für Ärzte, Stand Sept. 2008
 2EMEA: Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) ROTATEQ, Stand Juni 2008; zu finden unter:
http://www.emea.europa.eu/htms/human/epar/r.htm
 3GLASS, R.I., PARASHAR, U.D.: N. Engl. J. Med. 2006; 354: 1750-1
 4GlaxoSmithKline: Fachinformation ROTARIX, Stand Dez. 2007
 5Sanofi Pasteur MSD: Fachinformation ROTATEQ, Stand April 2008
 6DASKALAKI, I. et al.: Pediatrics 2008; 122: e33-8
 7SANTOS, N., HOSHINO, Y.: Rev. Med. Virol. 2005; 15: 29-56
 8Merck & Co.: US-am. Produktinformation ROTATEQ, Stand April 2008
 9GlaxoSmithKline (USA) : US-am. Produktinformation ROTARIX, Stand April 2008
 10GLASS, R.I., PARASHAR, U.D.: N. Engl. J. Med. 2006; 354: 75-7
R11VESIKARI, T. et al.: Lancet 2007; 370: 1757-63
M12EMEA: Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) ROTARIX, Stand Aug. 2008; zu finden unter:
http://www.emea.europa.eu/htms/human/epar/r.htm
R13RUIZ-PALACIOS, G.M. et al.: N. Engl. J. Med. 2006; 354: 11-22
R14LINHARES, A.C. et al.: Lancet 2008 ; 371: 1181-9
R15VESIKARI, T. et al.: N. Engl. J. Med. 2006; 354: 23-33
 16CDC/ACIP: Treffen vom 25. Juni 2008 (Summary);
http://www.cdc.gov/vaccines/recs/acip/downloads/min-jun08.pdf
 17FDA News vom 3. Apr. 2008
http://www.fda.gov/bbs/topics/NEWS/2008/NEW01814.html
 18FDA: ROTARIX Approval letter, 3. Apr. 2008
http://www.fda.gov/cber/approvltr/rotarix040308L.htm
 19GlaxoSmithKline: Schreiben vom 19. Okt. 2006
 20Ärzte Ztg. vom 10. Juni 2008
 21HÜLSSE, C.: zit. nach Ärzte Ztg. vom 10. Dez. 2007
 22HÜLSSE, C.: zit. nach Ärzte Ztg. vom 10. Jan. 2008
 23HÜLSSE, C. in: Rotaviren-Erkrankung - starke Belastung für Familien; Radio Melodie vom 18. März 2008
 24Epidem. Bull. 2007; Nr. 2: 9-11
 25CDC: MMWR 2006; 55 (RR-12): 1-13

© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 7. November 2008

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