ASS PLUS CLOPIDOGREL NACH HERZINFARKT: WIE LANGE?
Ich bitte um Kommentierung der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie zur mindestens zwölfmonatigen Kombinationstherapie von Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) plus Clopidogrel (PLAVIX, Generika) bei Zustand nach Herzinfarkt. Inwieweit basiert die Leitlinie auf eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen?
Dr. med. H.J. WILHELMI (Facharzt für Innere Medizin)
D-50765 Köln
Interessenkonflikt: keiner
Beim Gebrauch von Clopidogrel (PLAVIX, Generika) als Zusatz zu Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) nach akutem Herzinfarkt stecken die behandelnden Ärzte in einem Dilemma: Die Empfehlungen in Leitlinien, z.B. der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie1,2 (DGK), und die gängige Praxis sind nicht durch belastbare Studiendaten abgesichert und stehen in Teilen im Widerspruch zum Zulassungsstatus von Clopidogrel. Ähnliches trifft in abgemilderter Form auch für das akute Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung zu.
ZULASSUNGSSTATUS UND G-BA-BESCHLUSS: Clopidogrel ist in Kombination mit ASS bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung, also bei instabiler Angina oder Nicht-ST-Streckenhebungsinfarkt (NSTEMI), unabhängig davon zugelassen, ob eine perkutane Koronarintervention (PCI) mit Stenteinlage durchgeführt wird oder nicht. Dagegen ist die Kombination beim akuten Myokardinfarkt mit ST-Streckenhebung (STEMI) nur für solche Patienten zugelassen, "für die eine thrombolytische Therapie infrage kommt".3,4 Die etwas kryptisch anmutenden Formulierungen zur Anwendungsdauer lauten in den Fachinformationen bei instabiler Angina/NSTEMI: "Klinische Studiendaten belegen eine Anwendung bis zu 12 Monaten, und der maximale Nutzen wurde nach 3 Monaten gesehen", und beim STEMI: "Der Nutzen der Kombination von Clopidogrel plus ASS über vier Wochen hinaus wurde nicht untersucht".3,4
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat Ende 2010 beschlossen, die Verordnungsfähigkeit von Clopidogrel in Kombination mit ASS zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bei instabiler Angina/NSTEMI auf maximal zwölf Monate und beim STEMI, der für eine Thrombolyse infrage kommt, auf maximal 28 Tage zu begrenzen. Dieser Beschluss ist im Februar 2011 in Kraft getreten. Der G-BA weist darauf hin, dass die Anwendung von Clopidogrel plus ASS bei Patienten mit STEMI, bei denen im Rahmen einer PCI ein Stent implantiert wurde, durch diese Regelung nicht erfasst wird.5 Nach Auskunft der europäischen Arzneimittelbehörde EMA stellt die Anwendung von Clopidogrel plus ASS bei diesen Patienten einen Off-label-Gebrauch dar. Es werden von verschiedenen Seiten Zweifel daran geäußert, dass dieser derzeit weithin praktizierte Off-label-Gebrauch von Clopidogrel zu Lasten der GKV rechtmäßig ist.6
NUTZENBEWERTUNG DURCH DAS IQWIG: Grundlage des G-BA-Beschlusses ist die entsprechende Nutzenbewertung der zugelassenen Anwendungsgebiete durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).7 Diese Nutzenbewertung stützt sich bei instabiler Angina/NSTEMI vor allem auf die CURE*-Studie,8 die unter Clopidogrel plus ASS über maximal zwölf Monate 2,1% (p < 0,001) weniger kardiovaskuläre Todesfälle, Infarkte oder Insulte findet als unter ASS allein, aber auch eine Zunahme schwerwiegender Blutungen um 1% (p < 0,001). Der IQWiG-Bericht hält zudem fest, dass vaskuläre Ereignisse nahezu ausschließlich in den ersten drei Monaten vermindert werden, während die Zahl der Blutungen proportional zur Behandlungsdauer weiter steigt. Rein numerisch lässt sich die Nutzen-Schaden-Bilanz von Clopidogrel bei instabiler Angina/NSTEMI, wie auch in den Fachinformationen angegeben, durch Begrenzung der Therapie auf 90 Tage optimieren. Da die CURE-Studie jedoch auf eine solche Frage nicht angelegt war, hat diese Schlussfolgerung keinen letzten Beweischarakter.7
* CURE = Clopidogrel in Unstable Angina to Prevent Recurrent Events
Ähnliche Analysen auf der Basis der PCI-CURE**-Studie9 weisen darauf hin, dass bei Patienten, die im Rahmen einer instabilen Angina pectoris bzw. eines NSTEMI eine PCI mit unbeschichteten Stents erhalten, eine bis zu 30-tägige Einnahme von Clopidogrel zusätzlich zu ASS nach der PCI die beste Nutzen-Schaden-Bilanz hat.7
Für die Nutzenbewertung beim STEMI stützt sich der IQWiG-Bericht auf die Ergebnisse der CLARITY**- und COMMIT**-Studie,10,11 in denen die Patienten für eine primäre Thrombolysetherapie10 bzw. für eine konservative Therapie und explizit nicht für eine PCI11 vorgesehen sind und Clopidogrel höchstens bis zur Entlassung aus stationärer Behandlung oder über acht10 bzw. 28 Tage11 eingesetzt wird. Der Bericht findet einen Beleg dafür, dass Reinfarkte unter Clopidogrel plus ASS seltener auftreten als unter ASS allein (Odds Ratio 0,81; p = 0,034), und Hinweise dafür, dass auch Insulte und Todesfälle seltener sind, ohne dass relevante Blutungen zunehmen. Er sieht die Anwendbarkeit der Ergebnisse auf die Versorgungssituation in Deutschland für gegeben, obwohl die COMMIT-Studie ausschließlich in China durchgeführt wurde und nur 55% der Patienten eine Thrombolyse erhielten.7 Dies steht im Widerspruch zu unserer letzten Bewertung (a-t 2006; 37: 101-2 und 107-9), geht aber auf weitergehende eigene Auswertungen der Studien durch das IQWiG zurück, die uns nachvollziehbar erscheinen.
EMPFEHLUNG DER DGK: Die Empfehlung einer zwölfmonatigen Einnahme von Clopidogrel nach instabiler Angina/NSTEMI1 oder STEMI2 in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) wurde aus den entsprechenden Leitlinien der European Society of Cardiology12,13 übernommen. Während sich die Empfehlung beim NSTEMI auf die CURE-Studie stützt, wird sie bei STEMI mit einem "Expertenkonsensus" zur "Vereinheitlichung der Handhabung von Patienten nach Herzinfarkt mit und ohne ST-Streckenhebung" sowie zur "Vermeidung von Verwirrungen nach Implantation von DES" [= beschichtete Stents, -Red] begründet.2 Für diese undifferenzierte Empfehlung beim STEMI existieren keine belastbaren Daten. Auch der in der Leitlinie genannten post hoc durchgeführten Subsubgruppenanalyse der CHARISMA**-Studie kommt keine Beweiskraft zu: Die CHARISMA-Studie selbst zeigte keinen Vorteil für Clopidogrel plus ASS gegenüber ASS allein bei 15.603 Patienten mit chronischen vaskulären Erkrankungen oder multiplen Risikofaktoren hierfür (a-t 2006; 37: 39).14 In der Subsubgruppenanalyse wurden dann von 5.397 Patienten mit früherem Infarkt 3.846 ausgewählt, deren Infarkt mindestens 6 Monate und im Median 24 Monate zurücklag. Bei diesen ergab sich unter Clopidogrel plus ASS nach 28 Monaten eine Reduktion des kombinierten Endpunkts aus kardiovaskulären Todesfällen, Infarkten und Insulten von 8,3% auf 6,6% (p = 0,031).15 Weiter zitiert die Leitlinie Daten des deutschen ACOS**-Registers, das bei 5.886 Patienten mit STEMI nach einem Jahr unter ASS plus Clopidogrel im Vergleich zu ASS allein eine Reduktion der Mortalität von 12,4% auf 3,7% findet.16 Diesen Analysen liegen Datenerhebungen aus den Jahren 2000 bis 2002 zugrunde, als Clopidogrel für den STEMI noch gar nicht zugelassen war. Wie fehleranfällig die Daten sind, zeigt sich schon daran, dass im gleichen Register ein Nutzen von Clopidogrel plus ASS bei instabiler Angina/ NSTEMI für Patienten ohne PCI nicht belegt werden kann, ein Befund, der klar im Widerspruch zu den Ergebnissen der randomisierten CURE-Studie steht.17
** | ACOS = Acute COronary Syndrom |
CLARITY = CLopidogrel as Adjunctive ReperfusIon TherapY | |
COMMIT = ClOpidogrel and Metoprolol in Myocardial Infarction Trial | |
CHARISMA = Clopidogrel for High Atherothrombotic Risk and Ischemic Stabilization, Management, and Avoidance | |
PCI-CURE = Percutaneous Coronary Intervention - Clopidogrel in Unstable Angina to Prevent Recurrent Events |
OFF-LABEL-GEBRAUCH NACH STEMI MIT PCI UND STENT: Bei Patienten mit akutem STEMI ist heute die primär interventionelle Therapie mit PCI und Stent Verfahren der Wahl2,12 (a-t 2003; 34: 27-8). Der Nutzen von Clopidogrel in genau dieser Situation ist jedoch nicht belegt, da Studien dazu nie durchgeführt wurden (und vermutlich auch nicht mehr durchgeführt werden). Dies erklärt auch, dass die entsprechende Zulassung fehlt. Medizinisch lässt sich die Anwendung nur mit einem doppelten Analogieschluss begründen: Wenn Clopidogrel bei elektiver PCI mit Stenteinlage effektiv ist, sollte dies auch beim akuten STEMI der Fall sein. Ein Nutzen von Clopidogrel bei elektiven Koronarinterventionen kann allerdings auch nur indirekt aus den Ergebnissen randomisierter Studien mit Ticlopidin (TIKLYD, Generika) abgeleitet werden (a-t 2006; 37: 101-2, 107-9). Wir halten eine solche Argumentation für anfechtbar, aber weiterhin für vertretbar, weil wir bei Gesamtschau der Daten im Verzicht auf eine duale Plättchenhemmung bei Stent nach STEMI die größere Gefährdung für die Patienten sehen. Dies bedeutet dann aber auch, dass die Einnahmedauer bei unbeschichteten Stents auf 30 Tage begrenzt sein sollte, wie sie bei elektiver PCI geprüft wurde*** (a-t 2003; 34: 67-8).
*** | Die optimale Therapiedauer mit Clopidogrel bei beschichteten Stents ist unklar, weil unzureichend untersucht. Anzuraten sind drei (Paclitaxel) bzw. sechs (Sirolimus) bis maximal zwölf Monate (a-t 2005; 36: 30-1 und 2010; 41: 65-6). Beim STEMI sind beschichtete Stents jedoch längerfristig ohnehin ohne klinischen Vorteil (a-t 2006; 37: 90-1). |
Ob der bisher von Fachgesellschaften empfohlene und von den Kassen tolerierte Off-label-Gebrauch von Clopidogrel beim primär interventionell behandelten STEMI haftungs- und sozialrechtlich weiter akzeptiert wird, bleibt abzuwarten: immerhin sind mit Prasugrel (EFIENT; a-t 2009; 40: 34-6) und Ticagrelor (BRILIQUE; a-t 2011; 42: 1-3) mittlerweile zwei für diese Indikation zugelassene Alternativen verfügbar. Aus medizinischer Sicht stellt dies aber keinen Ausweg aus dem Dilemma dar, da die Zulassungen von Prasugrel und Ticagrelor beim primär mit PCI und Stent behandelten STEMI auf der Basis von Vergleichen mit Clopidogrel erfolgten, dessen Stellenwert hierfür nicht geprüft ist.
Leitlinienempfehlungen zur Anwendungsdauer von Clopidogrel (PLAVIX, Generika) bei instabiler Angina und akutem Infarkt ohne (NSTEMI) und mit ST-Streckenhebung (STEMI) stehen teils im Widerspruch zur Datenlage sowie zum Zulassungsstatus und zur Erstattungsfähigkeit.
Bei instabiler Angina/NSTEMI ist Clopidogrel in Kombination mit Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) für bis zu zwölf Monate zugelassen und erstattungsfähig.
In der Nutzen-Schaden-Bilanz erscheint für nichtinterventionell behandelte Patienten eine dreimonatige Therapie optimal.
Erfolgt eine PCI und wird ein (unbeschichteter*) Stent implantiert, reicht im Anschluss jedoch eine Therapie für vier Wochen.
Für den STEMI mit Lysetherapie ist Clopidogrel in Kombination mit ASS nur für 28 Tage zugelassen und erstattungsfähig. Für eine längere Einnahme existieren keine Nutzenbelege.
Beim STEMI, der primär mit PCI und Stent versorgt wird, ist Clopidogrel zusammen mit ASS weder geprüft noch zugelassen.
Wir halten hier eine vierwöchige Verwendung als Off-label-Gebrauch aber weiterhin für vertretbar, sofern unbeschichtete Stents*** verwendet werden.
(R =randomisierte Studie) | |
1 | HAMM, C. W.: Kardiologe 2009 (16 Seiten); http://leitlinien.dgk.org/ images/pdf/leitlinien_volltext/2009-04_koronar-st.pdf |
2 | SILBER, S. et al.: Kardiologe 2010; 4: 84-92 http://leitlinien.dgk.org/images/pdf/leitlinien_volltext/2010-14_st.pdf |
3 | Bristol-Myers Squibb: Fachinformation ISCOVER, Stand Januar 2011 |
4 | Sanofi-Aventis: Fachinformation PLAVIX, Stand April 2010 |
5 | Bundesministerium für Gesundheit: BAnz vom 4. Febr. 2011 http://www.g-ba.de/downloads/39-261-1261/2010-12-16_AM-RL-3_ Clopidogrel-ASS_BAnz.pdf |
6 | Deutsche Krankenhausgesellschaft: Änderung der Arzneimittelrichtlinie in Anlage III (Übersicht der Verordnungseinschränkungen und -ausschlüsse), 20. Jan. 2011; http://www.dkgev.de/dkg.php/cat/44/aid/7909/title/ AEnderung_der_Arzneimittelrichtlinie_in_Anlage_III_%2528UEbersicht_ der_Verordnungseinschraenkungen_und_-ausschluesse%2529 |
7 | IQWiG: Clopidogrel plus Acetylsalizylsäure bei akutem Koronarsyndrom, Abschlussbericht Jan. 2009; https://www.iqwig.de/download/A04-01B_AB_ Clopidogrel_plus_ ASS_bei_akutem_Koronarsyndrom.pdf |
R 8 | YUSUF, S. et al.: N. Engl. J. Med. 2001; 345: 494-502 |
R 9 | MEHTA, S.R. et al.: Lancet 2001; 358: 527-33 |
R 10 | SABATINE, M. S. et al.: N. Engl. J. Med. 2005; 352: 1179-89 |
R 11 | COMMIT Collaborative Group: Lancet 2005; 366: 1607-21 |
12 | Van de WERF, F. et al.: Eur. Heart J. 2008; 29: 2909-45 |
13 | BASSAND J. P. et al.: Eur. Heart J. 2007; 28: 1598-1660 |
R 14 | BHATT, D. L. et al.: N. Engl. J. Med. 2006; 354: 1706-17 |
15 | BHATT, D. L. et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2007; 49: 1982-28 |
16 | ZEYMER, U. et al.: Eur. Heart J. 2006; 27: 2661-6 |
17 | ZEYMER, U. et al.: Acute Cardiac Care 2008; 10: 43-8 |
© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 4. März 2011
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