STATINTHERAPIE: LDL-ZIELWERT ODER FIXE DOSIS?
Zur korrekten Dosierung von Statinen und den LDL-Zielwerten kursieren widersprüchliche Informationen. Einerseits werden die Zielwerte mit "Rückendeckung" der Fachgesellschaften immer weiter abgesenkt, andererseits gibt es Hinweise, dass eine fixe Dosis z.B. Simvastatin (ZOCOR, Generika) 40 mg prognostisch günstig ist, unabhängig von den erreichten LDL-Werten.
Wie ist Ihre Einschätzung der Evidenz für und wider das Erreichen eines bestimmten LDL-Grenzwertes (bei koronarer Herzkrankheit 100 oder sogar 70 mg/dl) versus einer fixen Statindosierung?
Dr. med. B. LEHMANN (Facharzt für Innere Medizin)
D-68239 Mannheim
Interessenkonflikt: wegen Labor- und Arzneimittelbudgetierung eher Präferenz für fixe Dosis und weniger Laborkontrollen
Die Frage der optimalen Strategie der Statintherapie - fixe Dosis (auch "fire and forget")1 oder Titration auf einen LDL-Zielwert hin - wird seit Jahren kontrovers diskutiert.2 Prominentester Vertreter der so genannten Titrationsstrategie ist die zuletzt 2004 überarbeitete große Leitlinie des US-amerikanischen National Heart Lung and Blood Institute. Nach dieser Leitlinie soll das LDL-Cholesterin in der Primärprävention bei Vorliegen mehrerer Risikofaktoren auf unter 130 mg/dl gesenkt werden. In der Sekundärprävention der koronaren Herzkrankheit (KHK) und bei einem der KHK äquivalenten Risiko von über 20% in zehn Jahren wird ein LDL-Zielwert von unter 100 mg/dl empfohlen, für Patienten mit sehr hohem Risiko sogar ein Zielwert von unter 70 mg/ dl.3,4 Ähnlich lautet die Empfehlung der europäischen kardiologischen Gesellschaft.5 Die Nationale Versorgungsleitlinie "Chronische KHK", die die Frage der optimalen Statinstrategie ausführlich diskutiert, empfiehlt für Patienten mit koronarer Herzkrankheit ebenfalls einen LDL-Zielwert unter 100 mg/dl.6 Begründet wird die Empfehlung in der US-amerikanischen Leitlinie in erster Linie mit der in epidemiologischen Studien beobachteten kontinuierlichen Assoziation des LDL mit dem koronaren Risiko über eine große Bandbreite von Serumkonzentrationen. Jeder LDL-Wert über 100 mg/dl soll nach Einschätzung der Autoren atherogen wirken, das Risiko mit zunehmenden Werten aber nicht linear, sondern exponentiell ansteigen.3,4
Wie bei anderen Biomarkern, die in Beobachtungsstudien mit erhöhtem Krankheitsrisiko assoziiert sind, ist der Umkehrschluss, dass die medikamentöse Senkung dieser Marker auch das Erkrankungsrisiko mindert, auch beim LDL ohne Belege aus randomisierten Interventionsstudien nicht zulässig. Dies vor allem deshalb nicht, weil Arzneimittel, in diesem Fall Lipidsenker, neben ihrem Einfluss auf den Zielparameter komplexe Wirkungen haben, die die erwünschten Effekte überwiegen und in der Bilanz die Patienten schädigen können.7 Eindrückliches Beispiel hierfür ist die ILLUMINATE*-Studie mit mehr als 15.000 Patienten, in der der experimentelle Wirkstoff Torcetrapib trotz Senkung der mittleren LDL-Spiegel um 25% Morbidität und Mortalität der Patienten steigert (a-t 2008; 39: 19-21).8
* | ILLUMINATE = Investigation of Lipid Level Management to understand its Impact in Atherosclerotic Events |
Endpunktstudien, die den Nutzen der Titrierung auf LDL-Zielwerte prüfen, wie sie heute empfohlen werden, gibt es aber nicht.7 Einige plazebokontrollierte Langzeitstudien mit Statinen in Standarddosis haben die Therapie zwar zumindest zeitweise an Cholesterinzielwerten ausgerichtet. Die angestrebten Konzentrationen liegen aber erstens alle höher als die heute in der Sekundärprävention empfohlenen, und zweitens wird das Ziel nicht sehr konsequent verfolgt: So ist beispielsweise in der 4-S**- und der AFCAPS/TexCAPS**-Studie mit Simvastatin (ZOCOR, Generika) bzw. Lovastatin (MEVINACOR, Generika) nur eine einmalige Steigerung der Dosis von 20 mg auf 40 mg pro Tag vorgesehen, obgleich die Werte bei einem großen Teil der Patienten anschließend weiterhin außerhalb des Zielbereichs liegen.9,10 Ein Vorteil der Statintherapie in diesen Studien gegenüber der Mehrheit der plazebokontrollierten Studien, in denen von vornherein ohne LDL-Zielwert ausschließlich mit einer fixen Statindosis behandelt wird, ist nicht erkennbar. Nach der Heart Protection Study scheint der Nutzen von Simvastatin zudem von der individuellen LDL-Senkung unabhängig zu sein: In einer mehrwöchigen Run-in-Phase vor der Randomisierung wurde das Ansprechen aller Teilnehmer auf Simvastatin im Sinne des LDL-Abfalls erfasst. Im Studienverlauf ergibt sich zwischen denen mit geringer und denen mit starker LDL-Senkung kein Unterschied im Hinblick auf den klinischen Nutzen von Simvastatin, das in der Studie als feste Dosis von täglich 40 mg eingenommen wurde (a-t 2002; 33: 83-4).11
** | 4-S = Scandinavian Simvastatin Survival Study; AFCAPS/Tex CAPS = Air Force/Texas Coronary Atherosclerosis Prevention Study |
Auch in den fünf großen Studien zur intensivierten Statintherapie im Vergleich mit Standarddosis wurden in den Prüfgruppen fixe Dosierungen verwendet.12-16 Lediglich in der A to Z***-Studie13 und in den Kontrollgruppen von zwei weiteren Studien12,15 sind zusätzliche Interventionen bzw. einmalige Dosisverdoppelungen bei Überschreiten bestimmter, relativ gemäßigter Cholesterin-Grenzwerte vorgesehen (vgl. Tabelle, Seite 29).
*** | A to Z = Aggrastat-to-Zocor |
Der Zusatznutzen der intensivierten Statintherapie ist zweifelhaft: Bei Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit14-16 mindern hochdosierte im Vergleich zu niedriger dosierten Statinen das koronare Risiko um absolut 0,6% (SEARCH****-Studie)16 bis 1,6% (TNT**-Studie; vgl. Tabelle).14 Der Unterschied ist jedoch nur in einer der drei Studien, der TNT-Studie, signifikant.14 Vor allem aber bringt die intensivierte Therapie gegenüber der Standarddosierung, für die in mehreren plazebokontrollierten Studien ein lebensverlängernder Nutzen belegt ist,9,11,17 keinen weiteren Vorteil im Hinblick auf die Sterblichkeit: TNT Hazard Ratio (HR) 1,01; 95 Konfidenzintervall (CI) 0,85-1,19, IDEAL**** HR 0,98; 95% CI 0,85-1,13, SEARCH Risk ratio 0,99; 95% CI 0,91-1,09.14-16 Beim akuten Koronarsyndrom12,13 soll die intensivierte Statintherapie im Vergleich zur Standardbehandlung laut einer Metaanalyse nicht nur das koronare Risiko (Odds Ratio [OR] 0,84; 95% CI 0,72-0,97), sondern auch die Gesamtsterblichkeit (OR 0,75; 95% CI 0,61-0,93) signifikant mindern.18 Die Ergebnisse einer der beiden ausgewerteten Studien, der PROVE-IT****-Studie,12 sind wegen einer hohen Verlustrate in der Nachbeobachtung jedoch nicht robust und wegen auffälliger Ungereimtheiten in den Angaben zur Nachbeobachtung, für die auch nach einer Stellungnahme der Erstautoren auf eine entsprechende Anfrage des IQWiG**** eine nachvollziehbare Erklärung fehlt,19 nicht hinreichend glaubwürdig (vgl. a-t 2005; 36: 86-7). Nach der aktuellen systematischen Übersicht der CTT****, die auch alle fünf Studien zur intensivierten Statintherapie mit auswertet, soll das relative kardiovaskuläre Risiko angeblich pro LDL-Reduktion um 1 mmol/l (39 mg/dl) um etwa 20% sinken.20 Aus dieser Arbeit lässt sich jedoch unseres Erachtens aus methodischen Gründen keine belastbare Aussage über die Validität des LDL als Surrogatparameter ableiten.
**** | IDEAL = Incremental Decrease in End Points Through Aggressive Lipid Lowering; PROVE IT = Pravastatin or Atorvastatin Evaluation and Infection Therapy; SEARCH = Study of the Effectiveness of Additional Reductions in Cholesterol and Homocystein; TNT = Treating to New Targets IQWiG = Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen CTT = Cholesterol Treatment Trialists' |
Während demgemäß die Strategie der Statintherapie in fester Standarddosis ohne Therapiesteuerung nach LDL-Werten ("fire and forget") durch eine robuste Datenbasis gestützt wird, ist die Nutzen-Schaden-Bilanz der Titrationsstrategie letztlich nicht bekannt. Die Strategie der festen Dosis ist zudem wegen der fehlenden Laborkontrollen und Therapieadjustierungen einfacher und nicht zuletzt kostengünstiger. Um LDL-Werte unter 100 mg/dl zu erreichen, müssen bei einem großen Teil der Patienten hohe Statindosierungen oder zusätzliche Lipidsenker wie Anionenaustauscher oder Ezetimib (EZETROL, in: INEGY) verwendet werden. Der Zusatznutzen hochdosierter im Vergleich mit standardgemäß dosierten Statinen ist zweifelhaft, die hohen Dosierungen sind aber toxischer. Anionenaustauscher werden schlecht vertragen, und nur für das Altarzneimittel Colestyramin (QUANTALAN, Generika) ist ein Einfluss auf koronare Ereignisse belegt, nicht aber auf die Gesamtsterblichkeit (a-t 2008; 39: 57-8).21,22 Das teure Ezetimib ist hinsichtlich seines klinischen Nutzens gar nicht geprüft (a-t 2008; 39: 19-20).
Der Nutzen einer Statintherapie in fixer Standarddosierung - z.B. 40 mg Simvastatin (ZOCOR, Generika) - ohne Therapiesteuerung nach LDL-Werten ("fire and forget") ist gut durch randomisierte Langzeitstudien gesichert.
Für die Strategie der Titrierung auf bestimmte LDL-Werte hin, wie sie heute in vielen Leitlinien empfohlen wird, gilt dies nicht - im Gegenteil: Randomisierte kontrollierte Endpunktstudien, die diese Strategie konsequent prüfen, gibt es gar nicht.
Um die empfohlenen LDL-Werte zu erreichen, müssen bei einem Großteil der Patienten hohe Statindosierungen von zweifelhaftem Zusatznutzen oder z.B. ein in seinem klinischen Nutzen ungeprüfter Stoff wie Ezetimib (EZETROL, in: INEGY) verwendet werden.
Die Strategie der festen Dosis ist zudem einfacher und nicht zuletzt kostengünstiger als die Titrationsstrategie. Die Strategie der Statintherapie in fixer Standarddosierung ist daher unseres Erachtens Strategie der Wahl.
(R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse) | |
1 | DONNER-BANZHOFF, N., SÖNNICHSEN, A.: BMJ 2008; 336: 288-9 |
2 | DONNER-BANZHOFF, N. et al.: Dt. Ärzteblatt 2004; 101: A1649-51 |
3 | National Cholesterol Education Program: Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Cholesterol in Adults (Adult Treatment Panel III), Sept. 2002; http://www.nhlbi.nih.gov/guidelines/cholesterol/atp3full.pdf |
4 | GRUNDY, S.M. et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2004; 44: 720-32 |
5 | European Society of Cardiology et al.: Eur. J. Cardiovasc. Prev. Rehabil. 2007; 14 (Suppl. 2): e1-e40 |
6 | Bundesärztekammer et al.: Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK. Version 1.10, Dez. 2010 http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/khk/pdf/nvl_khk_lang.pdf |
7 | KRUMHOLZ, H., HAYWARD, R.: BMJ 2010; 341: 332-3 |
R 8 | BARTER, P.J. et al.: N. Engl. J. Med. 2007; 357: 2109-22 |
R 9 | Scandinavian Simvastatin Survival Study Group: Lancet 1994; 344: 1383-9 |
R 10 | DOWNS, J.R. et al.: JAMA 1998; 279: 1615-22 |
R 11 | Heart Protection Study Collaborative Group: Lancet 2002; 360: 7-22 |
R 12 | CANNON, C.P. et al.: N. Engl. J. Med. 2004; 350: 1495-504 |
R 13 | De LEMOS, J.A. et al.: JAMA 2004; 292: 1307-16 |
R 14 | LAROSA, J.C. et al.: N. Engl. J. Med. 2005; 352: 1425-35 |
R 15 | PEDERSEN, T.R. et al.: JAMA 2005; 294: 2437-45 |
R 16 | SEARCH Collaborative Group: Lancet 2010; 376: 1658-69 |
R 17 | The LIPID Study Group: N. Engl. J. Med. 1998; 339: 1349-57 |
M 18 | JOSAN, K. et al.: Can. Med. Ass. J. 2008; 178: 576-84 |
19 | CANNON, C.P., BRAUNWALD, E.: Schreiben vom 3. Nov. 2005 |
M 20 | CTT Collaboration: Lancet 2010; 376: 1670-81 |
R 21 | Lipid Research Clinics Program: JAMA 1984; 251: 351-64 |
M 22 | STUDER, M. et al.: Arch. Intern. Med. 2005; 165: 725-30 |
© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 4. März 2011
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