DER 800-MILLIONEN-DOLLAR-MYTHOS
… Was kostet die Entwicklung eines Arzneimittels wirklich?
Die pharmazeutische Industrie wird nicht müde zu betonen, wie aufwändig und kostspielig die Entwicklung eines neuen Arzneimittels ist. Von 5.000 bis 10.000 gescreenten Verbindungen soll letztlich nur eine zur Marktreife und Zulassung gelangen1,2 - und Milliardenaufwand erfordern. Dahinter verbirgt sich die Botschaft, mit welch hohem finanziellen Risiko und geringer Erfolgswahrscheinlichkeit geforscht wird und dass Arzneimittel daher keineswegs zu teuer sind. Da aber für das Marketing doppelt so viel ausgegeben wird wie für Forschung
(a-t 2008; 39: 23),3 erscheinen Zweifel angebracht, dass sich die Ausgaben für Forschung und Entwicklung tatsächlich nennenswert auf die Verkaufspreise von Arzneimitteln auswirken.4
Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. (vfa) geht von "durchschnittlich" 802 Millionen Dollar (Wertbasis 2000) aus, um ein neues Arzneimittel zu entwickeln,1 der amerikanische Herstellerverband PHRMA von mehr als 1 Milliarde Dollar.2 Für Biologika sollen 1,2 Milliarden Dollar erforderlich sein.5 Es werden sogar Beträge bis zu annähernd 1,7 Milliarden Dollar pro neues Arzneimittel hochgerechnet,6 dann aber inklusive Marketingkosten.
Der vom vfa verbreitete, exakt berechnet erscheinende Betrag von 802 Mio. Dollar wurde erstmals 2001 der Öffentlichkeit vorgestellt.7 Aus den erst 2003 publizierten Schätzungsgrundlagen8 wird jedoch deutlich, dass die Summe weder exakt noch realistisch ist. Die Berechnungen stammen aus einem US-amerikanischen Institut, das sich selbst als "unabhängig" bezeichnet,9 jedoch zwei Drittel der Gelder aus Industrie-assoziierten Quellen erhält.10 Sie beruhen auf vertraulichen Angaben von 10 Firmen.* Weder die Namen der einzelnen Hersteller und Präparate noch die jeweils erfassten Kosten sind der Publikation zu entnehmen. Es fehlen Hinweise, dass die Auskünfte der Firmen verifiziert wurden.4,11
* | Insgesamt 24 Firmen wurden angefragt, 12 haben geantwortet, Daten von 10 Firmen waren verwertbar. Von ursprünglich 76 Wirkstoffen werden 8 wegen unzureichender Angaben ausgeschlossen.8 |
Aus solchen vertraulich mitgeteilten Angaben errechnen die Autoren zunächst Entwicklungskosten von durchschnittlich 403 Millionen Dollar, die die Hersteller "aus eigener Tasche" für eine komplette eigene Entwicklung aufbringen. Hierauf schlagen sie einen Betrag auf, den die Firmen hätten erlösen können, wenn sie das Geld gewinnbringend investiert hätten, statt es in die Forschung zu stecken.8 So kommt die Fantasiesumme von 802 Millionen Dollar zustande. Diese Kalkulation ist mehr als gewagt: Spekulationen am Kapitalmarkt sind keine Alternative für Pharmahersteller, die ihre Existenz auf den Vertrieb innovativer Arzneimittel gründen. Sie sind Pharmaproduzenten und keine Investmentbanken, kommentiert die ehemalige Herausgeberin des New England Journal of Medicine Marcia ANGELL.4 Die einberechnete 11%ige Jahresrendite ist zudem unrealistisch hoch. Solch hohe Renditen am Kapitalmarkt bergen auch das Risiko einer verlustreichen Fehlinvestition. Darüber hinaus ist die einkalkulierte Entwicklungszeit von 11,8 Jahren (davon 4,3 Jahre präklinische Forschung)8,11 hoch gegriffen. Angeblich benötigt die Pharmaindustrie inzwischen sogar 15 Jahre.2 Auf der Basis unabhängig erhobener Daten zeichnet sich hingegen ein gegenteiliger Effekt ab: Nach einer Auswertung zu 168 Arzneimitteln ist die Zeitspanne, die für die klinische Prüfung und Zulassung durch die FDA erforderlich ist, zwischen 1992 und 2001 von 8 Jahren auf unter 5 Jahre geschrumpft.12
Aber selbst die Basisschätzung von 403 Millionen Dollar ist nicht seriös kalkuliert. Keinesfalls handelt es sich um "durchschnittliche Aufwendungen", sondern allenfalls um die hochgerechneten Kosten für das teuerste Fünftel, also nur für die Wirkstoffe, die von den Firmen komplett selbst entwickelt werden.11 Einem unveröffentlichten Appendix der Studie zufolge sollen die Kosten für solche Eigenentwicklungen 4,4-fach höher liegen als für die häufiger zur Marktreife gebrachten Arzneimittel, bei denen auf öffentlich finanzierte Forschung bzw. Lizenzen zurückgegriffen wird. Offen bleibt zudem, was die Firmen den Forschungskosten zurechnen, in welchem Ausmaß Kosten für Grundlagenforschung einbezogen werden sowie für Patentverfahren, Managergehälter, an Studien beteiligte Ärzte, Meinungsbildner u.a.11
Während die Autoren einerseits die Aufwendungen durch fiktive entgangene Gewinne verdoppeln, lassen sie die tatsächlich anfallenden Steuereinsparungen unberücksichtigt. Diese lagen im Berechnungszeitraum bei durchschnittlich 39%. Zudem nutzen multinationale Firmen nationale Steuerbesonderheiten zur Kostenminimierung. Konkrete Daten zu den Größenordnungen sind nicht öffentlich. Schätzungen erscheinen jedoch realistisch, dass etwa die Hälfte der Ausgaben für Forschung und Entwicklung langfristig von den Steuerzahlern aufgebracht wird.11
Viele bedeutende Entdeckungen entstammen nicht zielgerichteter Forschung, sondern dem Zufall, vom Penizillin bis zu Sildenafil (VIAGRA), bei dessen Erprobung als - absehbar irrelevantes - Herz-Kreislauf-Mittel eine Nebenwirkung, die Zunahme von Erektionen, aufgefallen war und zur teuer verkauften Hauptwirkung gemacht wurde (a-t 1989; Nr. 5: 50).
Grundlagenforschung, beispielsweise zu Krankheiten und potenziellen Angriffspunkten für Interventionen, ist eine Domäne universitärer bzw. öffentlich geförderter Forschung. So wurde der nukleosidale Reverse-Transkriptase-Hemmer Zidovudin (RETROVIR; AZT) im Wesentlichen mit öffentlichen Forschungsgeldern entwickelt, zunächst aber erfolglos als Krebsmittel getestet, bevor an einem Max-Planck-Institut antivirale Effekte entdeckt wurden. Schließlich übernahm Burroughs Wellcome (später in GlaxoSmithKline aufgegangen) die Substanz und testete sie als Herpesmittel. Die relevanten Wirkbelege gegen AIDS stammen hingegen aus dem US-amerikanischen National Cancer Institute (NCI). Borroughs Wellcome ließ das Mittel daraufhin zur Therapie gegen AIDS patentieren und erhielt nach kurzer klinischer Prüfung die Zulassung für AZT als erstes AIDS-Mittel.4 Die Behauptung des damaligen Präsidenten von Burroughs Wellcome, seine Firma habe das Mittel entdeckt und komplett entwickelt, war so dreist, dass die Forscher der öffentlichen Institutionen diese richtig stellten. Sie beschreiben minutiös, was die Firma alles nicht gemacht hat und bemerken abschließend: "Eines der wesentlichen Hindernisse bei der Entwicklung von AZT war, dass Burroughs Wellcome weder mit lebenden AIDS-Viren gearbeitet hat noch Proben von AIDS-Patienten erhalten wollte."13
Zahlreiche andere umsatzstarke Arzneimittel wurden mit öffentlicher Förderung entwickelt,14 so etwa das Krebsmittel Paclitaxel (TAXOL) vom NCI sowie Erythropoese stimulierende Mittel (Epoetine) und der Tyrosinkinase-Hemmstoff Imatinib (GLIVEC). Hier schafften universitäre Forschungen wesentliche Grundlagen.4 Der Anteil öffentlicher Investitionen an solchen Arzneimitteln bleibt bei den Angaben zu Entwicklungskosten jedoch intransparent. Ein preismindernder Einfluss lässt sich nicht erkennen.
Unabhängige US-amerikanische Mediziner und Gesundheitsökonomen haben 2009 eine Gegenrechnung aufgemacht.15 Sie erfassen die Forschungsaufwendungen auf der Basis öffentlich zugänglicher Quellen aus Behörden und Wissenschaft sowie semistrukturierter Interviews mit Wissenschaftlern, die selbst forschen. Sie errechnen so die Entwicklungskosten für die beiden Rotavirusimpfstoffe ROTARIX und ROTATEQ. Die Hersteller konnten hierfür zwar auf relevante Vorarbeit öffentlicher Einrichtungen zurückgreifen, mussten andererseits aber ungewöhnlich umfangreiche klinische Prüfungen mit jeweils über 60.000 Kindern finanzieren, um das Risiko intestinaler Invaginationen abschätzen zu können, die zur Marktrücknahme eines früheren Schluckimpfstoffes gegen Rotaviren geführt hatten (a-t 2008; 39: 111-4). Die Autoren schlüsseln die Kostenschätzungen für die Studien der Phasen I bis III auf und deklarieren jeweils die niedrigsten und höchsten Aufwendungen. Insgesamt kommen sie - ohne Einberechnung fiktiver entgangener Gewinne - auf einen Gesamtaufwand für ROTARIX zwischen 128 und 192 Millionen Dollar und für ROTATEQ zwischen 137 und 206 Millionen Dollar. Die Autoren überschlagen, dass die Firmen innerhalb eines Verkaufsjahres ihre Forschungskosten - und mehr - wieder hereinholen müssten.15
Da üblicherweise Phase-III-Studien beträchtlich kleiner sind als bei den Rotavirus-Vakzinen, diese aber den Löwenanteil der Forschungskosten ausmachen, entsprechen die Kalkulationen für die Impfstoffe dem Maximum. Dies veranschaulichen realistische Neuberechnungen auf der Basis der 802-Millionen-Dollar-Kalkulation. Ohne Einberechnung der fiktiven entgangenen Gewinne sowie unter Berücksichtigung der Steuerersparnisse und der überwiegenden Zahl der weniger aufwändigen Lizenzprodukte und Molekülvarianten ergeben sich bei der Neukalkulation durchschnittliche Entwicklungskosten von 58,7 Millionen Dollar bzw. bei Berechnung des der Realität näher kommenden Medianwertes von 43,4 Millionen Dollar (jeweils Wertbasis 2000).11 Dies entspricht einem Achtzehntel der vom vfa behaupteten Aufwendungen.
Doch selbst dieser Betrag ist verschwendet, wenn er für irrelevante Scheininnovationen ausgegeben wird. Zulassungen neuer Arzneimittel auf der Basis von Nichtunterlegenheitsstudien oder Überlegenheitsstudien mit Plazebovergleichen und die Verwendung von Surrogatendpunkten (vgl. a-t 2011; 42: 33-5) haben dazu beigetragen, dass etwa 85% der zugelassenen neuen Arzneimittel keine oder keine nennenswerten Vorteile gegenüber etablierten Arzneimitteln haben.11 Zum Teil erproben Pharmafirmen Arzneimittel trotz absehbar schlechter Erfolgschancen. So verbrannte Pfizer Forschungsgelder für das 2007 vom Markt genommene inhalierbare Insulin EXUBERA (a-t 2007; 38: 105). Lange vor Markteinführung bewerteten wir inhalative Insuline als "unsicher, unnötig und unbezahlbar" (a-t 2001; 32: 29-30).
Arzneimittelforschung ist teuer - keine Frage. Die Eigenangaben der pharmazeutischen Industrie hierzu sind jedoch maßlos übertrieben - nicht zuletzt, um eine Rechtfertigung für hohe Preise zu schaffen.
Die Angaben von Pharmaverbänden für Entwicklungskosten von durchschnittlich 800 Millionen Dollar und mehr pro neues Arzneimittel basieren auf unseriösen Hochrechnungen und gehören - ebenso wie angeblich länger werdende Entwicklungszeiten - in den Bereich der Marketing-Fabeln.
Realistisch hochgerechnet dürften die tatsächlichen Kosten im Median eher bei etwa 43 Millionen Dollar liegen, also bei dem Achtzehntel der von Pharmaverbänden verbreiteten Schätzungen.
Für Verkaufsförderung geben Firmen doppelt so viel aus wie für Forschung. Die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung dürften demnach wohl kaum als Begründung für hohe Verkaufspreise herhalten können.
1 | vfa-Broschüre: "Statistics 2009 - Die Arzneimittelindustrie in Deutschland" |
2 | PHRMA (USA): Drug Discovery and Development http://www.phrma.org/research/drug-discovery-development |
3 | GAGNON, M.A., LEXCHIN, J.: PLoS Medicine 2008; 5 (1): e1 (5 Seiten) |
4 | ANGELL, M.: "The Truth About the Drug Companies - How They Deceive Us and What to Do About It", Random House Publishing Group London 2004; deutschsprachige Ausgabe: "Der Pharma Bluff - wie innovativ die Pharmaindustrie wirklich ist", KomPart Bonn 2005 |
5 | DIMASI, J.A., GRABOWSKI, H.G.: Manage. Decis. Econ. 2007; 28: 469-79 |
6 | Bain & Company: Has the Pharmaceutical Blockbuster Model Gone Bust? Pressemitteilung vom 8. Dez. 2003; http://www.bain.com/bainweb/about/press_release_detail.asp?id=14243&menu_url=for_the_media.asp |
7 | PEAR, R.: New York Times vom 1. Dez. 2001 |
8 | DIMASI, J.A. et al.: J. Health Economics 2003; 22: 151-85 |
9 | Tufts Center for the Study of Drug Development: Financial Disclosure: http://csdd.tufts.edu/about/financial_disclosure |
10 | Boston Globe vom 1. Dez. 2001, zit. nach LOVE, J.: Evidence Regarding Research and Development Investments in Innovative and Non-Innovative Medicines, Consumer Project on Technology, 22. Sept. 2003 |
11 | LIGHT, D.W., WARBURTON, R.: BioSocieties 2011; 6: 34-50; published online, 7. Febr. 2011; doi:10.1057/biosoc.2010.40 |
12 | KEYHANI, S. et al.: Health Affairs 2006; 25: 461-8 |
13 | MITSUYA, H. et al.: Schreiben an die New York Times, 28. Sept. 1989 http://lists.essential.org/pharm-policy/msg00106.html |
14 | GOOZNER, M.: "The $ 800 Million Pill - The truth behind the cost of new drugs" - University of California Press, London 2004, S. 160-1 |
15 | LIGHT, D.W. et al.: Vaccine 2009; 27: 6627-33 |
© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 6. Mai 2011
Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten
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