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vorheriger Artikele a-t 07/2011 
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WAS BRINGT DER MENINGOKOKKEN-KONJUGATIMPFSTOFF MENVEO?

Invasive Meningokokkenerkrankungen werden in Deutschland nach wie vor hauptsächlich durch Erreger der Serogruppen B (zwei Drittel) und C (ein Viertel) hervorgerufen.1 Gegen B-Meningokokken ist kein Impfstoff verfügbar. Drei seit Anfang der 2000er Jahre eingeführte monovalente Konjugatimpfstoffe gegen C-Meningokokken (MENINGITEC u.a.) werden seit 2006 für die Impfung aller Kinder im zweiten Lebensjahr empfohlen (a-t 2006; 37: 100-1).2 Darüber hinaus gibt es seit langem als Indikationsimpfstoffe für gefährdete Personen bi- und tetravalente Polysaccharidvakzinen gegen die Serogruppen A und C (MENINGOKOKKEN-IMPFSTOFF A + C MERIEUX) bzw. A, C, W135 und Y (MENCEVAX ACWY). Vor einem Jahr wurde der tetravalente Konjugatimpfstoff MENVEO (A, C, W135, Y) zur Prophylaxe gefährdeter Personen von mindestens elf Jahren3 in den Handel gebracht.

Im Juli 2010 hat die Ständige Impfkommission (STIKO) ihre Impfempfehlung geändert: Bei Indikation für eine Impfung gegen Meningokokken der Serogruppen A, W135 und Y empfiehlt die Kommission jetzt den vierwertigen Konjugatimpfstoff anstelle des Polysaccharidimpfstoffes, sofern die Konjugatvakzine für die Altersgruppe zugelassen ist.4 Mit der Bevorzugung des vierwertigen Konjugat- gegenüber dem Polysaccharidimpfstoff steht die STIKO nicht allein: Auch in den USA, Frankreich oder Großbritannien wird in offiziellen Empfehlungen der Konjugatimpfstoff favorisiert.5-8

ARGUMENTE FÜR DEN KONJUGATIMPFSTOFF: Für das Prinzip der Konjugation der Polysaccharidantigene an ein Trägerprotein, im Fall von MENVEO an ein Diphtherietoxoid, werden verschiedene Vorteile angeführt: Im Unterschied zu alleinigen Polysaccharidimpfstoffen lässt sich mit Konjugatimpfstoffen auch bei sehr kleinen Kindern eine Immunität gegen bekapselte Bakterien wie Meningokokken erzeugen.9 Der starke Rückgang invasiver C-Meningokokkeninfektionen in Ländern wie Großbritannien nach Einführung einer allgemeinen Impfung von Kindern und Jugendlichen gegen C-Meningokokken mit Konjugatimpfstoff7,10 dürfte den klinischen Nutzen dieses Impfstoffes spiegeln. Für den therapeutischen Stellenwert von MENVEO ist dieser Vorteil jedoch derzeit ohne Relevanz, da MENVEO für kleine Kinder weder zugelassen ist noch empfohlen wird.

Konjugatimpfstoffe erzeugen im Gegensatz zu reinen Polysaccharidvakzinen eine T-Zell-abhängige Immunantwort einschließlich der Entwicklung eines immunologischen Gedächtnisses. Inwieweit damit - abgesehen von kleinen Kindern - ein klinischer Vorteil verbunden ist, ist unklar. Für einen zuverlässigen Schutz scheint jedenfalls der Antikörpertiter selbst relevanter zu sein als das immunologische Gedächtnis, da sich invasive Meningokokkenerkrankungen in der Regel innerhalb von drei bis vier Tagen nach Infektion entwickeln, während die anamnestische Immunantwort nach erneuter Antigenexposition mehreren Studien zufolge vier bis fünf Tage benötigt.9,11

Die Dauer des Impfschutzes durch Polysaccharidimpfstoff ist begrenzt. Er hält bei älteren Kindern und Erwachsenen etwa drei bis fünf Jahre an, bei kleineren deutlich kürzer.5,7 Vom Konjugatimpfstoff wird ein länger anhaltender Schutz erhofft. Zu MENVEO gibt es dazu bislang jedoch keine hinreichenden Daten.4 Ein schon länger erprobter tetravalenter Konjugatimpfstoff in den USA (MENACTRA) bietet nach aktuellen Daten der dortigen Impfkommission ACIP* allerdings ebenfalls keinen dauerhaften Schutz: Die Impfeffektivität sinkt von 95% im ersten Jahr auf 58% nach zwei bis fünf Jahren.6 Während die ACIP bei dauerhaft gefährdeten älteren Kindern und Erwachsenen eine Wiederholungsimpfung mit dem Polysaccharidimpfstoff nach drei bis fünf Jahren angeraten hatte,12 wird für den Konjugatimpfstoff bei Patienten mit bestimmten Immunerkrankungen jetzt ein Impfintervall von fünf Jahren empfohlen.6

Die Minderung der Schleimhautbesiedlung mit pathogenen Meningokokken und der damit einhergehende Infektionsschutz Nichtgeimpfter (so genannte Herdenimmunität), die als Vorteil der Konjugatimpfstoffe gelten, sind im Rahmen einer Indikationsimmunisierung weniger relevant13 und für MENVEO bislang auch nicht belegt.4

Gegen die reinen Polysaccharidimpfstoffe könnte schließlich ein in mehreren serologischen Studien beobachtetes Phänomen sprechen, dass nämlich nach früherer Impfung mit diesen Vakzinen bei Wiederholungsimpfungen die Immunantwort verringert ist (so genannte Hyporesponsiveness). Auch hier ist die klinische Relevanz unklar. Nach Einschätzung der ACIP gibt es keine Belege für eine reduzierte klinische Effektivität bei Personen, die wiederholt mit dem Polysaccharidimpfstoff immunisiert wurden.5

STUDIENLAGE: Da wegen der Seltenheit invasiver Meningokokkenerkrankungen Interventionsstudien mit klinischen Endpunkten als nicht machbar gelten, gibt es als Wirksamkeitsnachweise aus randomisierten Studien nur Daten zur Immunogenität. Die Hauptzulassungsstudie13-15 vergleicht MENVEO zudem nicht mit einem Polysaccharidimpfstoff, sondern mit dem US-amerikanischen Konjugatimpfstoff MENACTRA. Primärer Endpunkt dieser Studie, an der insgesamt 3.539 Impflinge zwischen 11 und 55 Jahren teilnehmen, ist die Nichtunterlegenheit gegenüber MENACTRA im Hinblick auf den Prozentsatz der Probanden mit serologischem Ansprechen.* Für alle vier Serogruppen wird sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen Nichtunterlegenheit nachgewiesen. Bei den Serogruppen A und C schneidet MENVEO jeweils in einer Altersgruppe signifikant besser ab, bei den Serogruppen W und Y jeweils in beiden Altersgruppen.13-16 MENACTRA wiederum ist auf der Basis der nachgewiesenen serologischen Nichtunterlegenheit gegenüber dem US-amerikanischen tetravalenten Polysaccharidimpfstoff MENOMUNE in den USA zugelassen worden und wirkt numerisch bei Jugendlichen besser, bei Erwachsenen aber schlechter als MENOMUNE.17

Direkte Vergleiche von MENVEO mit dem hierzulande verfügbaren viervalenten Polysaccharidimpfstoff MENCEVAX ACWY finden wir nicht. Einen direkten Vergleich mit dem US-amerikanischen Polysaccharidimpfstoff MENOMUNE gibt es für die zugelassenen Altersgruppen nur in zwei kleineren Studien mit Jugendlichen18 bzw. älteren Erwachsenen zwischen 56 und 65 Jahren.19 In beiden schneidet MENVEO zum Teil besser ab als MENOMUNE. Die Aussagekraft der Ergebnisse ist in beiden Fällen jedoch deutlich eingeschränkt, da in einem Fall zwei Substudien so gepoolt werden, dass der Randomisierungseffekt verloren geht,18 im anderen Fall nur die Daten einer Per-Protokol-Analyse mit 125 Teilnehmern vorliegen, die mehr als 40% der ursprünglich randomisierten Probanden ausschließt.19

Direkte Vergleiche mit den monovalenten Konjugatimpfstoffen gegen C-Meningokokken gibt es in den für MENVEO zugelassenen Altersgruppen nicht. Nach Einschätzung der STIKO ist aufgrund indirekter Vergleiche der Immunogenitätsdaten nicht von Gleichwertigkeit mit den monovalenten Impfstoffen auszugehen. Die STIKO empfiehlt daher MENVEO ausdrücklich nur als Indikationsimpfstoff z.B. bei Reisen in Endemiegebiete, nicht aber für Jugendliche, die bisher nicht gegen C-Meningokokken geimpft sind.4

UNERWÜNSCHTE EFFEKTE: Das Störwirkungsprofil von MENVEO ähnelt dem des Konjugatimpfstoffes MENACTRA. Sehr häufig sind Lokalreaktionen wie Rötung, Schmerzen und Verhärtung, aber auch systemische Effekte wie Kopfschmerzen, Muskelschmerzen oder Krankheitsgefühl.20 In den kleinen Direktvergleichen lassen sich nur geringe Verträglichkeitsunterschiede zum Polysaccharidimpfstoff erkennen.18,19 Der Konjugatimpfstoff MENACTRA wurde allerdings in Studien mit insgesamt rund 5.800 Jugendlichen und Erwachsenen deutlich schlechter vertragen als der Polysaccharidimpfstoff MENOMUNE,21 ein indirekter Hinweis auf mögliche schlechtere Verträglichkeit auch von MENVEO.8

Im zeitlichen Zusammenhang mit dem Konjugatimpfstoff MENACTRA ist nach Markteinführung in den USA über Guillain-Barré-Syndrom berichtet worden.22 Der Verdacht soll sich in zwei großen epidemiologischen Studien jedoch nicht bestätigt haben.23 In Verbindung mit MENVEO ist die Komplikation unseres Wissens bislang nicht beschrieben.

KOSTEN: Der tetravalente Meningokokkenkonjugatimpfstoff MENVEO wird mit 61 € pro Injektionsflasche für knapp das Doppelte der Kosten des Polysaccharidimpfstoffs MENCEVAX AWCY (33 € pro Injektionsflasche) angeboten.

∎  Der neue tetravalente Meningokokkenkonjugatimpfstoff MENVEO wird von der Ständigen Impfkommission für Jugendliche ab 11 Jahren und Erwachsene als Indikationsimpfstoff bei Reisen in Endemiegebiete oder bei beruflich Gefährdeten dem älteren vierwertigen Polysaccharidimpfstoff MENCEVAX ACWY inzwischen vorgezogen.

∎  Für Konjugatimpfstoffe werden vor allem immunbiologische Vorteile angeführt, deren klinische Relevanz aber nicht hinreichend geklärt ist.

∎  Den vorliegenden randomisierten kontrollierten Studien lassen sich allenfalls Hinweise auf Vorteile von MENVEO gegenüber einem Polysaccharidimpfstoff im Hinblick auf die Höhe der Antikörpertiter entnehmen. Direkte Vergleiche mit dem hierzulande verfügbaren MENCEVAX ACWY finden wir zudem nicht.

∎  Nach indirektem Vergleich könnte MENVEO schlechter verträglich sein als ein Polysaccharidimpfstoff.

∎  Zumindest bei einmaliger Impfung wegen Reise in ein Endemiegebiet scheint uns beim derzeitigen Kenntnisstand entgegen der STIKO-Empfehlung die Verwendung des Polysaccharidimpfstoffes nach wie vor vertretbar. Die Impflinge müssen aber darüber aufgeklärt werden, dass offiziell ein anderer Impfstoff empfohlen wird.

  (R =randomisierte Studie)
1 HELLENBRAND, W. et al.: Epidemiol. Bull. 2009; Nr. 45: 463-70
2 Ständige Impfkommission (STIKO): Epidemiol. Bull. 2006; Nr. 31: 260-7
3 Novartis: Fachinformation MENVEO, Stand Apr. 2011
4 Ständige Impfkommission (STIKO): Epidemiol. Bull. 2010; Nr. 32: 325-30
5 ACIP: MMWR 2005; 54: Nr. RR-7
http://www.cdc.gov/mmwr/PDF/rr/rr5407.pdf
6 ACIP: MMWR 2011; 60: Nr. 3, 72-6
http://www.cdc.gov/mmwr/PDF/wk/mm6003.pdf
7 Department of Health (UK) et al.: Green Book. Immunisation against infectious disease, Stand Febr. 2011
http://www.dh.gov.uk/prod_consum_dh/groups/dh_digitalassets/ @dh/@en/documents/digitalasset/dh_124456.pdf
8 La Revue Prescrire 2011; 31: 6-10
9 BLANCHARD-ROHNER, G., POLLARD, A.J.: Hum. Vaccines 2008; 4: 309-12
10 CAMPBELL, H. et al.: Clin. Vaccine Immunol. 2010; 17: 840-7
11 GRANOFF, D.M., POLLARD, A.J.: Pediatr. Infect. Dis. J. 2007; 26: 716-22
12 ACIP: MMWR 2000; 49 (RR07): 1-10
http://www.cdc.gov/mmwr/preview/mmwrhtml/rr4907a1.htm
13 EMA: Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) MENVEO, Stand Mai 2010
http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/ EPAR_-_Public_assessment_report/human/001095/WC500090150.pdf
R  14 JACKSON, L.A. et al.: Clin. Infect. Dis. 2009; 49: E1-10
R  15 REISINGER, K.S. et al.: Clin. Vaccine Immunol. 2009; 16: 1810-5
16 FDA: Clinical Review MENVEO, Stand Jan. 2010
http://www.fda.gov/downloads/BiologicsBloodVaccines/Vaccines/ApprovedProducts/UCM204168.pdf
17 FDA: Clinical Briefing Document Menactra, Vaccines and Related Biological Products Advisory Committee Meeting, 22. Sept. 2004
http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/04/briefing/4072B1_2a.pdf
R  18 JACKSON, L.A. et al.: Pediatr. Infect. Dis. J. 2009; 28: 86-91
R  19 STAMBOULIAN, D. et al.: Internat. J. Infect. Dis. 2010; 14: E868-75
20 Novartis: US-amer. Produktinformation MENVEO, Stand Jan. 2011
21 Sanofi-Pasteur: US-amer. Produktinformation MENACTRA, Stand Aug. 2010
22 CDC: MMWR vom 14. Okt. 2005
http://www.cdc.gov/mmwr/preview/mmwrhtml/mm5440a6.htm
23 ACIP: Summary Report, Meeting 23. bis 24. Juni 2010
http://www.cdc.gov/vaccines/recs/acip/downloads/min-jun10.pdf

* ACIP = Advisory Committee on Immunization Practices
** definiert als Antikörpertiter ≥ 1 : 8 bei Ausgangstiter < 1 : 4 bzw. als mindestens vierfacher Titeranstieg bei Ausgangstiter ≥ 1 : 4 (relativ konservative Zielparameter, als schützend werden bei diesem Test mit Humanserum bereits Titer ≥ 1 : 4 angesehen4)

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 8. Juli 2011

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