logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
vorheriger Artikela-t 2011; 42: 110 
Netzwerk aktuell

ACHTUNG - FEHLERHAFTE INR-BESTIMMUNG UNTER DABIGATRAN (PRADAXA)

Ein 61-Jähriger mit intermittierendem Vorhofflimmern erhält in einer Universitätsklinik zur Antikoagulation den Thrombinhemmer Dabigatran (PRADAXA; zweimal täglich 150 mg; vgl. a-t 2011; 42: 74-7). Wegen anhaltender Übelkeit leitet der Hausarzt Umstellung auf Phenprocoumon (MARCUMAR, Generika) ein. Zwei Tage nach Absetzen von Dabigatran kann die INR* in der Praxis nicht bestimmt werden, das Point-of-Care-Gerät (INRATIO2) zeigt wiederholt "error". Die gleichzeitig im Labor bestimmte INR liegt bei 1,2 (NETZWERK-Bericht 16.012).

* INR = International Normalized Ratio

Aus der Literatur sind Berichte über falsch hohe INR-Werte bis über 8 in Point-of-Care-(Vor-Ort-)Messungen unter Einnahme von Dabigatran bekannt, die durch Kontrollmessungen im Labor jeweils nicht bestätigt werden. Der falsche Alarm hat aber zum Teil zu potenziell gefährlichen falschen Konsequenzen wie Absetzen der Antikoagulation geführt.1,2 Hinweise auf Fehlermeldungen von Messgeräten im Zusammenhang mit Dabigatran finden wir in der Literatur nicht, sie scheinen aber plausibel, wenn der Messbereich überschritten wird (im Fall des vom NETZWERK-Melder verwendeten Gerätes 0,7 bis 7,5 INR). Boehringer Ingelheim bestätigt auf Anfrage das Auftreten falsch hoher INR-Werte unter Dabigatran bei Point-of-Care-Messungen, die auch in einer bislang unveröffentlichten firmeneigenen Untersuchung um ein Vielfaches höher liegen als in Laborkontrollen.3

Aber auch die im Labor gemessene INR wird durch Dabigatran erhöht. Nach Daten des Herstellers würden allerdings Konzentrationen oberhalb des therapeutischen Bereichs benötigt, damit der Wert auf 2 steigt.4 Anders als die hiesige Fachinformation weist die US-amerikanische Produktinformation darauf hin, dass INR-Messungen unter Dabigatran erhöht sein können, und zwar offenbar bis mindestens zwei Tage nach Absetzen.5

Zur Überwachung der Antikoagulation unter Dabigatran ist die INR ungeeignet - Routinetests stehen hierfür derzeit gar nicht zur Verfügung (siehe auch Seite 103). Wegen unter Umständen gefährlicher falscher Konsequenzen aus falsch hohen INR-Werten sollten entsprechende Messungen unter der Einnahme daher unterbleiben. Auch zuvor marcumarisierte Patienten, die die Antikoagulation bisher durch Selbstmessung überwacht haben, müssen dies wissen.

Der Einfluss des Thrombinhemmers auf die INR-Werte ist aber insbesondere in Situationen wie der im NETZWERK-Bericht geschilderten relevant, nämlich bei Umstellung von Dabigatran auf Vitamin-K-Antagonisten: In diesem Fall müssen die Antikoagulanzien je nach Nierenfunktion zwei oder drei Tage überlappend eingenommen werden.6 Die üblicherweise am dritten Tag nach Beginn der Cumarineinnahme einsetzende regelmäßige INR-Überwachung7 kann bei Point-of-care-Messung völlig verfälscht sein, spiegelt aber auch bei Labormessung den Cumarineffekt nicht unbedingt zuverlässig wider. Empfehlungen hiesiger Behörden für das Vorgehen bei der Überwachung der Umstellung fehlen. Nach Auskunft der europäischen Arzneimittelbehörde EMA werden die falsch hohen INR-Werte unter Dabigatran und die Frage, ob ein entsprechender Hinweis in die Fachinformation aufgenommen werden soll, derzeit untersucht.8 Auf unsere Anfrage zur Aussagekraft der Labor-INR bei der Umstellung hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme abgegeben.

∎  Die INR eignet sich nicht zur Überwachung der Antikoagulation von Dabigatran (PRADAXA). Sie soll daher unter der Einnahme nicht gemessen werden.

∎  Point-of-Care-INR-Messungen unter Dabigatran können falsch hohe Extremwerte liefern. Wegen potenziell gefährlicher falscher Konsequenzen müssen Patienten und medizinisches Personal dies wissen.

∎  Bei Umstellung von Dabigatran auf Vitamin-K-Antagonisten ist zu berücksichtigen, dass Dabigatran auch zur Erhöhung der im Labor gemessenen INR-Werte beitragen kann und dass diese Werte daher bis mindestens zwei Tage nach Absetzen den Cumarineffekt nicht unbedingt zuverlässig spiegeln.

∎  Auch drei Monate nach Zulassung bei Vorhofflimmern gibt es in Deutschland keine offizielle Empfehlung, wie angesichts der Schwierigkeiten bei der Interpretation der INR-Werte die Antikoagulation bei Umstellung von Dabigatran auf Vitamin-K-Antagonisten überwacht werden soll.

1 BARUCH, L., SHERMAN, O.: Ann. Pharmacother. 2011; 45: e40
2 DeREMER, C. E. et al.: Am. J. Med. 2011; 124: e5-6
3 Boehringer Ingelheim: Schreiben vom 22. Nov. 2011
4 VAN RYN, J. et al.: Thromb. Haemost. 2010; 103: 1116-27
5 Boehringer Ingelheim: US-Produktinformation PRADAXA, Stand Sept. 2011
http://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2011/022512s007lbl.pdf
6 Boehringer Ingelheim: Fachinformation PRADAXA, Stand Aug. 2011
7 Meda Pharma: Fachinformation MARCUMAR, Stand Dez. 2010
8 FARRELL, B. et al.: J. Neurol. Neurosurg. Psychiatry 1991; 54: 1044-54
9 EMA: Schreiben vom 24. Nov. 2011

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 2. Dezember 2011

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.

vorheriger Artikela-t 2011; 42: 110