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Arzneimittelversorgung

PRODUKTION VON ARZNEIMITTELN ZURÜCK NACH DEUTSCHLAND BZW. IN DIE EU?
... ein Milliarden-Euro-Projekt

Die Versorgung mit Arzneimitteln läuft seit Langem nicht mehr rund. Noch nie gab es derart viele Lieferdefizite wie heute. Die – bei Weitem nicht vollständige – Liste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nennt derzeit 437 Lieferengpässe (Stand 23. Apr. 2020).1 Innerhalb von zwölf Tagen musste die Liste um 40 Arzneimittel erweitert werden (Stand am 11. Apr.: 397). Auch versorgungsrelevante Arzneimittel, die angesichts der COVID-19-Pandemie benötigt werden, darunter Narkosemittel wie Propofol und Sedativa wie Midazolam für künstlich Beatmete, werden knapp, und zwar so knapp, dass die europäische Kommission an Hersteller appelliert, die Produktion relevanter Medikamente zu steigern und dafür die der weniger wichtigen zurückzufahren.2,3

In vielen Bereichen geht das allerdings nicht so einfach, denn über Jahrzehnte wurde international ein Großteil der Produktion von Arzneimitteln zentralisiert und insbesondere bei Generika in Niedriglohnländer wie Indien und China ausgelagert, um so billig wie möglich zu produzieren. Die Preise von Generika wurden im Zuge der Bemühungen um Kostendämpfung unter anderem mit Hilfe von Festbeträgen und Rabattverträgen sowie durch die Nachfragemacht von Einkaufsgemeinschaften der Klinikkonzerne kontinuierlich gesenkt. Die Anbieter streben zudem danach, eine möglichst hohe Gewinnspanne zu erzielen. Durch systematisches Drücken der Preise von Generika wurde versucht, die Kosten für die Grundversorgung mit Arzneimitteln gering zu halten, auch um die zunehmend exorbitanten Preise für neue patentgeschützte Arzneimittel finanzieren zu können (a-t 2019; 50: 105-8), die allerdings nur selten derart relevante Fortschritte bringen wie beispielsweise die neueren Hepatitis-C-Mittel (z.B. a-t 2016; 47: 79-80).

Durch die Produktionsverlagerungen in den asiatischen Raum sind dort Großbetriebe entstanden, die inzwischen erhebliche Bereiche des Weltmarktes beliefern und dank hoher Auslastung billig produzieren können – zudem begünstigt durch niedrige Investitionskosten, bescheidene Löhne sowie geringe behördliche Auflagen und Kontrollen, etwa beim Umweltschutz (a-t 2019; 50: 110-2).

Die Produktion von Generika in westlichen Industrieländern ist seither zunehmend unrentabel geworden. Länder wie Deutschland hängen somit „am Tropf“4 asiatischer Produzenten – etwa bei Antibiotika. Hierzulande sind Aminopenizilline wie Amoxicillin ohne und mit Clavulansäure sowie Cephalosporine die nach definierten Tagesdosierungen am häufigsten verordneten Antibiotika.5 6-Aminopenicillinansäure (6-APA), das Basismolekül aller synthetischen Penizilline, wird weltweit in sechs globalen Produktionsstätten hergestellt, vier davon in China.4 Bei Cephalosporinen ist die Situation ähnlich: Die Produktion von generischen Cephalosporinen und deren Vorstufen wurde in Deutschland 2017 eingestellt. Der Chemikalienproduzent Corden BioChem konnte trotz einer Produktionskapazität, die für den gesamten Bedarf generischer Cephalosporine in Deutschland gereicht hätte, nicht mehr billig genug anbieten.4

Woher die hierzulande von Generikafirmen vertriebenen Wirkstoffe tatsächlich stammen, wird nicht routinemäßig öffentlich gemacht, obwohl das bereits im Sommer 2019 in Kraft getretene Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) die Veröffentlichung der Wirkstoffproduzenten vorsieht (a-t 2020; 51: 6). Zwar erfolgte im Februar 2020 die Deklaration auf PharmNet.Bund. Die Informationen mussten jedoch aufgrund eines einstweiliges Rechtsschutzverfahrens inzwischen wieder entfernt werden.6 Die Konsequenzen der Auslagerung der Produktion sind jedoch zunehmend spürbar: Wegen produktionsbedingter Verunreinigungen durch kanzerogene Nitrosamine entstanden weltweit anhaltende Lieferdefizite, beispielsweise bei Sartanen (a-t 2019; 50: 110-2). Und Indien – selbst abhängig von der Lieferung von Zwischenprodukten aus China – hat die Ausfuhr von 13 Wirkstoffen, einschließlich Parazetamol und Erythromycin eingeschräkt, um die durch die Pandemie beeinträchtigte Versorgung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen (e a-t 3/2020b).*

*Die Welthandelsorganisation (WTO) berichtet über eine wachsende Zahl von Exportbeschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie.7 In 80 Ländern und Zollterritorien wurden Ausfuhrrestriktionen angeordnet, überwiegend für Medizinprodukte wie Gesichtsmasken, Arzneimittel und Beatmungsgeräte.7,8

Der politische Druck, die Produktion von versorgungsrelevanten Arzneimitteln nach Deutschland bzw. in die EU zurückzuverlagern (e a-t 3/2020b), darunter Analgetika, Anästhetika, Antibiotika, Krebsmittel u.a., nimmt zu. Aktuell scheint es allerdings vorrangig darum zu gehen, die Versorgung mit Schutzausrüstungen einschließlich Gesichtsmasken sicherzustellen. Engpässe bei Schutzkleidung gefährden nicht nur Personal in Kliniken, Arztpraxen und anderen Gesundheitsberufen, sondern auch die Arzneimittelproduktion in Deutschland, insbesondere in Sterilbereichen wie bei der Herstellung von Parenteralia einschließlich Impfstoffen.9

Unsere Fragen nach Strategien und Kostenabschätzung der Rückverlagerung der Produktion versorgungsrelevanter Arzneimittel, um das Problem der Lieferdefizite anzugehen, bleiben weitgehend ohne befriedigende Antwort:

Das Bundesministerium für Gesundheit kann keine Modellrechnungen oder Gutachten übermitteln, steht jedoch wegen des „marktübergreifenden Phänomens ... im Austausch mit den europäischen Partnern“.10

Der Spitzenverband der Krankenkassen sieht „eher grundsätzliche Aspekte der freien Marktwirtschaft“ berührt, wenn es um gesetzliche Vorgaben geht, „wo Unternehmer ihre Produktion ansiedeln und was sie produzieren sollen“.11

Dem Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen (WIdO) fehlt eine Basis für „seriöse Modellierungen“ mangels Erkenntnissen zur Kalkulation der Anbieter.12

Dieses Wissen haben allerdings Generikafirmen. Deren Verband, Progenerika e.V., ließ bereits vor eineinhalb Jahren die Kosten einer Rückverlagerung bzw. des Neuaufbaus der Produktion von Arzneimitteln in Deutschland oder der EU am Beispiel von Antibiotika mit hohem Generikaanteil – Penizilline und Cephalosporine – von der Unternehmensberatungsfirma Roland Berger abschätzen.4 Die Mehrkosten bei heimischer Produktion werden in dem Auftragsgutachten am Beispiel generischer Cephalosporine auf 46 Cent pro Tagesdosis errechnet, das entspricht 55 Mio. € für die rund 120 Mio. Cephalosporin-Tagesdosierungen im Jahr.4

Ausgehend von 33,3 Milliarden Tagesdosierungen13 von Generika zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahr 2018 und einem angenommenen Anteil versorgungsrelevanter Präparate von 20% könnte die Rückverlagerung der Produktion auf Basis der für Cephalosporine abgeschätzten Aufwendungen insgesamt rund drei Milliarden € im Jahr kosten. Dies ist eine auf sehr groben Daten und Annahmen hochgerechnete Größenordnung, die angesichts zahlreicher Faktoren zu modifizieren ist: Beispielsweise beruht die Kalkulation der Unternehmensberater im Wesentlichen auf Interviews von Experten aus dem Bereich der Generikahersteller und dürfte somit eher zu hoch ausgefallen sein. Handelsaufschläge und Steuern verteuern hingegen die Kosten für die GKV, wenn die Herstellerabgabepreise höher angesetzt werden müssen. Andererseits sind Indien und China nicht mehr die typischen Billiglohnländer, da dort seit Jahren Kosten für Lohn und andere Aufwendungen, etwa für Umweltschutz, steigen. Deshalb und aufgrund aktueller Verknappungen steigen Preise für von dort bezogene Wirkstoffe und deren Transport spürbar.14 Dies relativiert die Mehrkosten für Rückverlagerungen der Produktion zumindest etwas. Schaffung von Arbeitsplätzen, Erhalt von Know-how sowie Reduktion der Transporte rund um den Globus sind zudem als positive „Nebeneffekte“ zu berücksichtigen.

Die Dimension der erforderlichen Aufwendungen veranschaulicht jedoch, dass die Verbesserung der Versorgungssicherheit durch Rückverlagerungen nur in Abstimmung aller Beteiligter realisiert werden kann, einschließlich Politik, Krankenkassen und Hersteller – mit kalkulierter Aufgabenteilung innerhalb der EU, statt in Konkurrenz. Dabei sollte auch das Problem der exorbitanten Preise für neue Arzneimittel effektiv angegangen werden, damit die Gesundheitssysteme insgesamt bezahlbar bleiben.

1BfArM: Aktuell offene Lieferengpässe für Humanarzneimittel in Deutschland (ohne Impfstoffe), Stand 23. Apr. 2020; http://www.a-turl.de/?k=iepo
2European Commission: Temporary Framework for accessing antitrust issues related to business cooperation in response to situations of urgency stemming from the current COVID-19 outbreak, 8. Apr. 2020; http://www.a-turl.de/?k=ixen
3DOWIDEIT, A.: EU warnt: Medikamente für Intensivpatienten werden knapp. Die Welt 8. Apr. 2020
4Roland BERGER GmbH: Studie zur Versorgungssicherheit mit Antibiotika, Nov. 2018; http://www.a-turl.de/?k=lada
5KERN, W.V.; in: SCHWABE, U. et al. (Hrsg.): „Arzneiverordnungs-Report 2019“, Springer-Verlag Berlin, 2019, Seite 437
6BfArM: Schreiben vom 6. Apr. 2020
7WTO: Pressemitteilung vom 23. Apr. 2020; http://www.a-turl.de/?k=assn
8WTO: Export prohibitions and restrictions, Report vom 23. Apr. 2020; http://www.a-turl.de/?k=tuer
9Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE): Fehlende Schutzkleidung gefährdet Medikamenten-Produktion in Deutschland (undatiert); http://www.a-turl.de/?k=ilkh
10BMG. Schreiben vom 15. Apr. 2020
11GKV-Spitzenverband: Schreiben vom 6. Apr. 2020
12WIdO: Schreiben vom 8. Apr. 2020
13SCHWABE, U. et al.; in: SCHWABE, U. et al. (Hrsg.) in „Arzneiverordnungs-Report 2019“, Springer-Verlag Berlin, 2019, Seite 6
14BfArM: Lieferengpässe – Kurzinformation zur Sondersitzung des Jour Fixe, 25. März 2020; http://www.a-turl.de/?k=eswe

© 2020 arznei-telegramm, publiziert am 24. April 2020

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