NEUE DATEN ZUR WIRKSAMKEIT VON SCHUTZMASSNAHMEN GEGEN COVID-19
SARS-CoV-2 wird nach aktueller Kenntnis hauptsächlich durch feine Tröpfchen, zum Teil in der Größe von Aerosolen (≤ 5 µm Durchmesser) übertragen, die Infizierte – auch bereits vor dem Auftreten von Symptomen – beim Atmen, Sprechen, Husten oder Niesen freisetzen. Maßnahmen wie Abstand halten und Bedecken von Mund und Nase erscheinen daher sinnvoll, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.1,2
Eine von der Weltgesundheitsorganisation WHO geförderte Metaanalyse3 untersucht nun die Wirksamkeit solcher Schutzmaßnahmen erstmals ausschließlich gegen Infektionen mit SARS-CoV-2 oder den verwandten SARS- und MERS-Coronaviren. Da randomisierte Studien zur Frage fehlen, werden nur Beobachtungsstudien einbezogen. Geprüft wird das Risiko der Übertragung von Patienten mit bestätigter oder wahrscheinlicher COVID-19-, SARS- oder MERS-Erkrankung auf enge Kontaktpersonen. Die Untersuchungen finden sowohl während der aktuellen Pandemie (7 Studien) als auch während früherer SARS- und MERS-Ausbrüche (26 bzw. 11 Studien) hauptsächlich in Krankenhäusern statt. Sie betrachten überwiegend die Kombination von Maßnahmen.3 Die für die jeweiligen Einzelmaßnahmen berechneten Effekte sind daher mit Vorsicht zu interpretieren.
Das Einhalten eines physischen Abstandes von 1 m oder mehr mindert demnach im Vergleich zu einer geringeren Distanz das Infektionsrisiko von 12,8% auf 2,6% (Adjustierte Odds Ratio [OR] 0,18; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,09-0,38). Mit größerem Abstand nimmt der Effekt zu. Tragen Personen im Kontakt mit Infizierten eine Maske, sinkt die Übertragungswahrscheinlichkeit gegenüber Nichtanwendung von 17,4% auf 3,1% (OR 0,15; 95% CI 0,07-0,34). Dabei scheint der Effekt im Krankenhaus größer zu sein als außerhalb (Relatives Risiko [RR] 0,30 versus 0,56), was nach Ansicht der Autoren darauf beruhen könnte, dass medizinisches Personal häufiger Atemschutzmasken mit stärkeren Filtereigenschaften wie FFP2 oder N95 verwendet. Für diese ergibt sich gegenüber anderen Masken eine größere Wirkung (OR 0,04 vs. 0,33). Einschichtige Masken sollen wiederum schlechter schützen als chirurgische und stärker filternde, Daten dazu werden aber nicht genannt. Bedecken Kontaktpersonen ihre Augen, z.B. mit einer Brille oder einem Schild, nimmt das Infektionsrisiko von 16,0% auf 5,5% ab (OR 0,22; 95% CI 0,12-0,39). Nach Subgruppenanalysen scheinen größere Abstände und Gesichtsmasken bei SARS-CoV-2 – das vermutlich ansteckender ist als SARS- und MERS-Viren4 – etwas besser wirksam zu sein als bei den anderen untersuchten Virustypen.3
Eine Anfang Juni 2020 von einem Wirtschaftsforschungsinstitut als so genanntes Diskussionspapier publizierte Studie aus Deutschland5 untersucht den Nutzen der Mund-Nase-Bedeckung im öffentlichen Nahverkehr und beim Einkaufen. Verglichen werden die SARS-CoV-2-Infektionszahlen der Stadt Jena, die hierzulande am 6. April 2020 als erste eine Maskenpflicht einführte, mit gewichteten Mittelwerten anderer deutscher Regionen, die um den 27. April 2020 damit begonnen haben. In die Kontrollgruppe gehen Kommunen ein, die sowohl hinsichtlich des Verlaufs der Infektionen bis zur Maskenpflicht als auch bei Merkmalen wie Bevölkerungsdichte und Altersverteilung möglichst mit Jena übereinstimmen. In den 20 Tagen nach Beginn der Maßnahme nimmt die Gesamtzahl der Infizierten in Jena von 142 auf 158 zu, in der Vergleichsgruppe ohne Maskenpflicht im selben Zeitraum von 143 auf 205. Daraus wird für die Anwendung von Masken ein Rückgang der Neuinfektionen pro Tag um 1,32% oder relativ um 60% ermittelt. Auffällig ist, dass die Fallzahlen erstmals bereits etwa drei Tage nach Einführung der Maskenpflicht in Jena voneinander abweichen – ein sehr kurzer Abstand, auch nach Ansicht der Autoren, die von einer medianen Inkubationszeit von fünf Tagen und einer Meldeverzögerung für Laborergebnisse von weiteren zwei bis drei Tagen ausgehen. Sie vermuten, dass schon die Ankündigung der Maskenpflicht durch eine öffentliche Kampagne ab dem 30. März 2020 zum Maskentragen und zu Verhaltensänderungen animiert haben könnte.5,6 Dies erscheint zwar plausibel und wird durch Auswertung von Internetsuchanfragen nach Masken gestützt, bleibt aber letztlich spekulativ. Untermauert werden die Ergebnisse jedoch durch ergänzende Analysen für alle Landkreise und kreisfreien Städte, die das Maskentragen bis zum 22. April 2020, also ebenfalls vor flächendeckender Einführung, zur Pflicht gemacht haben. Nach den Berechnungen der Autoren sind hier zehn Tage nach Einführung die kumulativen Fallzahlen gegenüber einer jeweils angepassten Kontrollgruppe mit späterer Maskenpflicht niedriger, z.B. um 4% bei kreisfreien Städten, entsprechend einer Abnahme der Neuinfektionen pro Tag um 0,42% oder relativ um 37%.5,6
Drei aktuelle Beobachtungsstudien aus China7,8 und Thailand9 zu SARS-CoV-2 deuten ebenfalls auf eine Wirksamkeit von Masken hin, in der einen von N95-Masken bei medizinischem Personal,7 in den beiden anderen8,9 von Masken (ohne Spezifizierung) in der Allgemeinbevölkerung (bei Haushaltsangehörigen von Infizierten8,9 sowie in anderen Situationen mit engem physischen Kontakt9). Die beiden letzteren Studien ermitteln zudem häufigen engen Kontakt (≥ 4 mal unter 1 m) als Risikofaktor für Ansteckung8 bzw. eine Senkung des Risikos bei Einhalten eines Abstandes von über 1 m, häufigem Händewaschen und Begrenzung enger Kontakte auf höchstens 15 Minuten.9
Beobachtungsdaten sprechen in der Zusammenschau für die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Einhalten eines Mindestabstands und Bedecken von Mund und Nase zur Verhinderung von Infektionen mit SARS-CoV-2.
Angesichts des Fehlens eines Impfstoffs und einer effektiven Behandlung sollten nichtpharmakologische Schutzmaßnahmen gegen COVID-19 unseres Erachtens für die Dauer der Pandemie so gut wie möglich eingehalten werden.
(M = Metaanalyse) | ||
1 | Robert Koch-Institut: SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19), Stand 12. Juni 2020; http://www.a-turl.de/?k=lute | |
2 | PRATHER, K.A. et al.: Science, online publ. am 27. Mai 2020; doi: 10.1126/science.abc6197 (4 Seiten) | |
M | 3 | CHU, D.K. et al.: Lancet, online publ. am 1. Juni 2020; doi: 10.1016/S0140-6736(20)31142-9 (15 Seiten) |
4 | TANG, D. et al.: PLOS Pathog. 2020; 16: e1008536 (24 Seiten) | |
5 | MITZE, T. et al.: IZA Discussion Paper No. 13319, Juni 2020; http://www.a-turl.de/?k=elow | |
6 | MITZE, T. et al.: Studienzusammenfassung, 3. Juni 2020; http://www.a-turl.de/?k=lbis | |
7 | WANG, X. et al.: J. Hosp. Infect. 2020; 105: 104-5 | |
8 | WANG, Y. et al.: BMJ Glob. Health 2020; 5: e002794 (9 Seiten) | |
9 | DOUNG-NGERN, P. et al.: medRxiv, online publ. am 15. Juni 2020; https://doi.org/10.1101/2020.06.11.20128900 |
© 2020 arznei-telegramm, publiziert am 19. Juni 2020
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