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Korrespondenz

EXZESSIVE VITAMIN-D-DOSEN: „COIMBRA-PROTOKOLL“ BEI MULTIPLER SKLEROSE

Ich betreue eine junge Patientin mit Multipler Sklerose (MS), die von einer anderweitigen Institution mit einer mir unbekannten Therapiestrategie, dem COIMBRA-Protokoll, behandelt wird. Ich bin irritiert, da ich keine Informationen habe, aber ständig gebeten werde, einen Wust von mir unerklärlichen Laboruntersuchungen vorzunehmen, und ich mir zunehmend unsicher bin, hier eine wirklich medizinisch-ärztlich-ethisch vertretbare Therapiestrategie zu begleiten.

N.N. (Name und Anschrift der Redaktion bekannt)
Interessenkonflikt: keiner

Bei dem so genannten COIMBRA-Protokoll werden exzessiv hohe Dosierungen von Vitamin D zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) angewendet. Die Vitamin-D-Dosen sind so hoch (beispielsweise bei MS bis zu 150.000 I.E./Tag),1 dass gleichzeitig eine strikte kalziumarme Diät mit Vermeidung etwa von Milch oder Käse, aber auch von Nüssen, Sardinen u.a. eingehalten werden muss und eine tägliche Trinkmenge von mindestens 2,5 l vorgeschrieben wird. Zum Protokoll gehört zudem ein umfangreiches Labormonitoring.1

Nach der „Hypothese“ der Anwender des COIMBRA-Protokolls soll der Entstehung von Autoimmunerkrankungen eine erworbene Vitamin-D-Resistenz zu Grunde liegen, die nur mit Vitamin-D-Hochdosierungen zu überwinden sei.1,2 Wieso sich bei einer „erworbenen Vitamin-D-Resistenz“ nicht in erster Linie eine Störung des Kalzium- und Knochenstoffwechsels entwickelt, bleibt unbeantwortet. Eine derartige „erworbene Vitamin-D-Resistenz“ ist außerhalb der Gruppe der COIMBRA-Anhänger unseres Wissens nicht bekannt.

Randomisierte kontrollierte Studien zum Nutzen dieses Protokolls finden wir nicht und liegen auch nach Aussage seines Erfinders, des brasilianischen Arztes C. COIMBRA, nicht vor.3 Dass solche Studien unmöglich wären, weil jeder Patient nach diesem Protokoll eine individuelle Dosierung erhalten soll, wie COIMBRA behauptet,3 trifft allerdings nicht zu. Selbstverständlich können auch komplexe Interventionen in randomisierten kontrollierten Studien geprüft werden. Manchmal kann dann eine Verblindung der behandelnden Ärzte und/oder der Patienten nicht vorgenommen werden, eine randomisierte Zuteilung, das Entscheidende bei einer randomisierten kontrollierten Studie, ist jedoch trotzdem möglich.

Auch unabhängig von dem Protokoll ist ein günstiger Einfluss von Vitamin D auf den Verlauf einer MS unseres Wissens nicht belegt. In einem Cochrane-Review mit Stand vom Oktober 2017 findet sich auf der Basis der bis dahin vorliegenden zwölf randomisierten kleinen bis sehr kleinen Studien mit insgesamt 933 Patienten keine Evidenz für einen Effekt von Vitamin D (2.860-14.000 I.E./Tag,* 10 Studien) oder Vitamin-D-Derivaten (2 Studien) auf relevante Endpunkte bei MS wie Schubrate oder Zunahme von Behinderungen.4 Für die Zeit seither finden wir drei weitere kleine Studien,5-7 in denen ein Nutzen von Vitamin D (5.000-10.200 I.E./Tag) im Hinblick auf diese Endpunkte ebenfalls ausbleibt. In zwei sehr kleinen Studien mit 40 bzw. 58 Teilnehmern zeigen sich widersprüchliche Ergebnisse zu Effekten auf Fatigue, Lebensqualität und Symptome einer Depression.8,9

*Tagesdosis zum Teil berechnet aus Wochen- oder Monatsdosis, in einer Studie anfangs 4 Wochen lang 40.000 I.E./Tag.

Auch in zwei noch nicht vollständig publizierten randomisierten Studien mit 17210 bzw. 204 Teilnehmern11 soll sich Vitamin D (täglich 5.000 I.E.10 bzw. 1.000-10.000 I.E.11) auf die Schubrate bei MS10 bzw. auf das Fortschreiten hin zu einer definitiven MS bei klinisch isoliertem Syndrom11** nicht besser auswirken als niedrig dosiertes Vitamin D (täglich 600 I.E.)10 bzw. Plazebo.11

**Mutmaßlich erste klinische Manifestation einer MS, charakterisiert durch einen Schub mit neurologischem Defizit, bei dem aber die Diagnose einer MS noch nicht gestellt werden kann, da das Kriterium der zeitlichen Dissemination nicht erfüllt ist.12

Wir sehen zudem gravierende Sicherheitsbedenken im Hinblick auf die von dem Protokoll vorgegebenen ultrahohen Dosierungen von Vitamin D. Aus der Schweiz kommen zwei Berichte über eine bedrohliche Vitamin-D-Intoxikation bei MS-Patienten nach Einnahme exzessiver Dosierungen.13,14 Bei einem der beiden ist ausdrücklich Behandlung nach dem COIMBRA-Protokoll beschrieben. Bei Letzterem kann eine MEN-1-Mutation mit leichtem primären Hyperparathyreoidismus zum Schweregrad der Vergiftung beigetragen haben. Vor Beginn der COIMBRA-Behandlung waren die Serumkalziumwerte jedoch immer normal.13

Die Verfechter des COIMBRA-Protokolls sind sich über die potenziellen Haftungsfolgen bei Anwendung der nicht zugelassenen Vitamin-D-Hochdosierungen ohne hinreichende Nutzenbelege offensichtlich im Klaren. Sie lassen die Patienten einen Behandlungsvertrag „auf eigenen Wunsch und eigenes Risiko“15 unterschreiben.

Angesichts fehlender aussagekräftiger Evidenz für einen Nutzen und gravierender Sicherheitsbedenken raten wir von der Anwendung des „COIMBRA-Protokolls“ dringend ab.

(R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1AMON, U. et al.: Nutrients 2022; 14: 1575 (20 Seiten)
2LEMKE, D. et al.: Front. Immunol. 2021; 12: 655739 (11 Seiten)
3ROTTER, D.: Vitamin D – Heilmittel für MS und Autoimmunerkrankungen? Interview mit Dr. COIMBRA über hochdosiertes Vitamin D für Multiple Sklerose und andere Autoimmunerkrankungen, ohne Datum; https://a-turl.de/wcz5
M4JAGANNATH, V.A. et al.: Vitamin D for the management of multiple sclerosis. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Okt. 2017; https://a-turl.de/9trm
R5O’CONNELL, K. et al.: Mult. Scler. J. Exp. Transl. Clin. 2017; 3; https://a-turl.de/h8wy (11 Seiten)
R6CAMU, W. et al.: Neurol. Neuroimmunol. Neuroinflamm. 2019; 6: e597 (7 Seiten)
R7DÖRR, J. et al.: Mult. Scler. J. Exp. Transl. Clin. 2020; 6; https://a-turl.de/e7dc (8 Seiten)
R8BAHMANI, E. et al.: Sci. Sports 2022; 37: 710-9
R9ROLF, L. et al.: J. Neurol. Sci. 2017; 378: 30-5
10Johns Hopkins University: ClinicalTrials.gov, Stand Sept. 2022; https://a-turl.de/dn6d
11MS Australia: Pressemitteilung vom 27. Okt. 2022; https://a-turl.de/k2br
12Deutsche Gesellschaft für Neurologie et al.: Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, Stand Febr. 2021; https://a-turl.de/yc4m
13LUTZ, N. et al.: Swiss Med. Forum 2020; 20: 230-3
14FREI, A. et al.: Swiss Med. Forum 2018; 18: 885-8
15Coimbraprotokoll gemeinnützige UG: Das CoimbraProtokoll, ohne Datum, Zugriff Apr. 2023; https://a-turl.de/ffqj

© 2023 arznei-telegramm, publiziert am 17. April 2023

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