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NICHT VERORDNEN: GLP-1-ANALOG LIRAGLUTID (VICTOZA) BEI TYP-2-DIABETES

Seit Juli wird mit Liraglutid (VICTOZA) ein neues Inkretinmimetikum zur Behandlung bei Typ-2-Diabetes angeboten. Wie bei dem älteren Exenatide (BYETTA; a-t 2007; 38: 43-5) handelt es sich um einen Rezeptoragonisten des Glucagon-like Peptid 1, ein Inkretinhormon, das die Insulinsekretion stimuliert. Liraglutid muss einmal täglich subkutan gespritzt werden. Es ist ausschließlich als Zusatz bei unzureichender Wirksamkeit von Metformin (GLUCOPHAGE, Generika), einem Sulfonylharnstoff, der Kombination aus beiden oder der Kombination aus Metformin und einem Glitazon zugelassen.1

EIGENSCHAFTEN: Das körpereigene Glucagon-like Peptid 1 (GLP 1), das als Reaktion auf die Nahrungszufuhr von Darmzellen, Zellen der Bauchspeicheldrüse und Neuronen im Hirnstamm freigesetzt wird, stimuliert Glukose-abhängig die Insulinsekretion, fördert die Insulinsynthese, hemmt die Glukagonsekretion, verzögert die Magenentleerung und die Sekretion von Magensäure und mindert den Appetit. Seine Effekte werden durch den GLP-1-Rezeptor vermittelt, der in vielen Organen des Körpers zu finden ist, so in der Bauchspeicheldrüse, im Magen, an anderen Stellen des Magen-Darm-Trakts, im peripheren und zentralen Nervensystem, am Herzen, an den Nieren oder in der Lunge. Die systemische Aktivität von GLP 1 ist begrenzt, da es rasch verstoffwechselt wird mit einer Plasmahalbwertszeit von wenigen Minuten.2-4

Liraglutid ist ein Analog des körpereigenen GLP 1, bei dem die Aminosäure Lysin in Position 34 durch Arginin ersetzt und an Lysin in Position 26 über eine Glutamylbrücke Palmitinsäure gebunden wurde. Diese Veränderungen verursachen eine verlängerte Wirkdauer durch verzögerte Absorption aus der Injektionsstelle, hochgradige Plasma-Eiweiß-Bindung und verzögerten Abbau.5,6 Die Halbwertszeit von 13 Stunden ist länger als die von Exenatide (2 Stunden), das zweimal täglich gespritzt werden muss.

KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Fünf randomisierte, doppelblinde Phase-III-Studien (LEAD* 1-5) mit insgesamt 3.992 Patienten bilden die Grundlage der Zulassung.6-11 Mit Ausnahme von LEAD 3, in der Liraglutid als Monotherapie mit dem Sulfonylharnstoff Glimepirid (AMARYL, Generika) verglichen wird, prüfen alle anderen Liraglutid als Zusatztherapie im Vergleich mit zusätzlichem Plazebo bzw. zusätzlichen anderen Antidiabetika (vgl. Tabelle). Die Teilnehmer sind im Mittel 56 Jahre alt. Sie haben seit durchschnittlich 7,7 Jahren einen Typ-2-Diabetes. Der mittlere HbA1c-Wert liegt initial bei 8,4%,12 das durchschnittliche Körpergewicht bei 80 kg bis 100 kg.6 Bei 67% besteht ein Bluthochdruck. Relevante kardiovaskuläre Erkrankungen sind Ausschlussgrund. Nur 3% der Patienten haben einen Herzinfarkt in der Vorgeschichte.12 Primärer Endpunkt ist jeweils die Veränderung des HbA1c, in den vier Add-on-Studien nach 26 Wochen, in der Monotherapiestudie nach einem Jahr.6

* LEAD = Liraglutide Effect and Action in Diabetes

Als Add-on senkt Liraglutid in den empfohlenen Dosierungen (1,2 mg bzw. 1,8 mg/d) das HbA1c signifikant um 0,9% bis 1,4% stärker als Plazebo. Es wirkt in der Monotherapie stärker als Glimepirid (HbA1c-Differenz 0,3% bis 0,6%), als Zusatz aber ähnlich wie der Sulfonylharnstoff. Als Zusatz wirkt es in den empfohlenen Dosierungen außerdem besser als Rosiglitazon (AVANDIA; HbA1c-Differenz 0,6% bis 0,7%) sowie Insulin glargin (LANTUS; 0,2%). Rosiglitazon war jedoch mit höchstens 4 mg pro Tag unterdosiert. Die Differenz zu Insulin glargin ist klinisch irrelevant. Eine Dosis-Wirkungsbeziehung ist nur in der (nicht zugelassenen) Monotherapie erkennbar, nicht aber in der Kombinationsbehandlung.6 Während das mittlere Körpergewicht unter den Vergleichsantidiabetika ansteigt, nehmen Patienten unter Liraglutid ab oder weniger stark zu. Die Differenz beträgt in den Add-on-Studien unter den empfohlenen Dosierungen in 26 Wochen 1,8 kg bis 3,7 kg.

In einer weiteren offen durchgeführten randomisierten Studie mit 464 Patienten senken täglich 1,8 mg Liraglutid zu sätzlich zu Metformin, Sulfonylharnstoff oder beiden das HbA1c in 26 Wochen signifikant, aber klinisch irrelevant um 0,33% stärker als der Zusatz des GLP-1-Rezeptoragonisten Exenatide (zweimal täglich 10 µg).5 Der klinische Nutzen von Liraglutid im Hinblick auf Folgeerkrankungen des Diabetes und seine Langzeitsicherheit sind nicht geprüft.

UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Unter Liraglutid sind mehr Patienten von Störwirkungen betroffen als in den Kontrollgruppen. Auch die Abbruchrate wegen unerwünschter Effekte ist unter dem GLP-1-Analog höher als unter den Vergleichspräparaten (7,8% vs. 3,4%). Magen-Darm-Störungen kommen am häufigsten vor, insbesondere zu Beginn der Therapie.1,6 Unter den empfohlenen Dosierungen klagen 21% der Anwender über Übelkeit, 11% bis 14% über Durchfall, 8% bis 9% über Erbrechen, 4% bis 6% über dyspeptische Beschwerden und 6% über Verstopfung. Auch Kopfschmerzen (10%) kommen etwas häufiger vor als in den Vergleichsgruppen. Immunreaktionen, hauptsächlich Urtikaria, aber auch zwei Angioödeme und eine anaphylaktische Reaktion, nehmen unter Liraglutid zu (12,2 vs. 6,3 pro 1.000 Patientenjahre).13 Die Häufigkeit von neutralisierenden oder mit GLP 1 kreuzreagierenden Antikörpern unter Liraglutid ist gering. Allerdings wurde in der Mehrzahl der Zulassungsstudien eine andere Formulierung verwendet, als jetzt vermarktet wird.6

Leichte Hypoglykämien sind häufig, aber seltener als unter Sulfonylharnstoff,8 schwere Hypoglykämien kommen gelegentlich vor und hauptsächlich bei Kombination mit Sulfonylharnstoff.1,6 Ähnlich wie unter Exenatide sind unter Liraglutid Entzündungen der Bauchspeicheldrüse beschrieben mit einer Rate von 2,2 pro 1.000 Patientenjahre im Vergleich zu 0,6 in den Kontrollgruppen.13

Unter den schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen dominieren neben kardialen Komplikationen (pro 1.000 Patientenjahre 17,4 [Liraglutid] versus 16,7 [Vergleichsgruppen]) vor allem Neoplasien (pro 1.000 Patientenjahre 8,9 vs. 5,3), und hier insbesondere Schilddrüsen- und Prostatakarzinome. Für die Autoren des europäischen Beurteilungsberichts (EPAR) bleibt bei der derzeitigen Datenlage offen, ob der GLP-1-Rezeptoragonist einen wachstumsfördernden oder sogar einen direkten karzinogenen Effekt hat.6

Im Tierversuch verursacht Liraglutid in Konzentrationen im Bereich oder nur wenig oberhalb der therapeutischen Blutspiegel gutartige und bösartige C-Zell-Tumoren der Schilddrüse sowohl bei Ratten als auch bei Mäusen und jeweils bei beiden Geschlechtern.14 Ein solches Risikosignal ist alarmierend und nach Einschätzung der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA für zugelassene Arzneimittel extrem ungewöhnlich.12 Auch Exenatide ruft bei weiblichen Ratten C-Zell-Adenome hervor, nicht aber bei männlichen und nicht bei Mäusen. Tierversuche mit anhaltend infundiertem Exenatide und mit experimentellen langwirksamen GLP-1- Rezeptoragonisten legen nahe, dass die Förderung von C-Zell-Tumoren bei Nagern wahrscheinlich ein Klasseneffekt langwirksamer GLP-1-Rezeptoragonisten ist.2,14 Der Liraglutid-Hersteller NovoNordisk ordnet die Tumoren einem GLP-1-Rezeptor-vermittelten, mit Calcitonin-Anstieg einhergehenden Effekt zu, für den Nager besonders empfindlich sein sollen, Menschen aber nicht.13 Nach Auffassung der Reviewer und der überwiegenden Mehrheit der Berater der FDA ist beim derzeitigen Kenntnisstand jedoch nicht belegt, dass der C-Zell-Tumor-fördernde Effekt von Liraglutid keine Relevanz für Menschen hat.2,12,15

Eine Zunahme medullärer (C-Zell-) Karzinome der Schilddrüse wird unter Liraglutid in Zulassungsstudien zwar nicht gefunden, die Nachbeobachtung dürfte dafür jedoch zu kurz gewesen sein. Unerwünschte Ereignisse an der Schilddrüse nehmen insgesamt unter Liraglutid aber zu, darunter Anstieg des Calcitoninspiegels (der in allen Phase-III-Studien überwacht wurde), Strumen und meist sehr kleine papilläre Karzinome. Offen bleibt, ob das GLP-1-Analog papilläre Schilddrüsenkarzinome fördert oder ob das Ungleichgewicht auf einem Detektions-Bias beruht,15,16 indem etwa wegen häufigerer Calcitoninanstiege die weiterführende Diagnostik und damit Operationsindikationen gefördert werden.

KOSTEN: Liraglutid (VICTOZA) wird mit monatlichen Kosten von 119 € für die übliche Dosierung von 1,2 mg pro Tag auf dem Kostenniveau des Konkurrenzprodukts Exenatide (BYETTA; 118 € pro Monat für 2 x tgl. 10 µg) angeboten. Gegenüber humanem Mischinsulin (30/70; HUMINSULIN PROFIL III, monatlich 27 € bei tgl. 25 I.E.) verteuert sich die Therapie auf mehr als das Vierfache.

∎  Das neu eingeführte Inkretinmimetikum Liraglutid (VICTOZA) senkt als Add-on bei Patienten mit Typ-2-Diabetes in Kurzzeitstudien das HbA1c um etwa 1% im Vergleich mit Plazebo und das Körpergewicht um 2 kg bis 4 kg im Vergleich mit anderen Antidiabetika.

∎  Ein klinischer Nutzen im Hinblick auf Folgeerkrankungen des Diabetes und die Langzeitsicherheit sind nicht geprüft.

∎  Liraglutid wird schlecht vertragen mit häufigen Abbrüchen wegen unerwünschter Effekte. Im Vordergrund stehen Magen-Darm-Beschwerden.

∎  Liraglutid steht im Verdacht, karzinogen zu wirken. Im Tierversuch erzeugt es bei Ratten und Mäusen im Bereich therapeutischer Dosierungen C-Zell-Adenome und -Karzinome. Eine Relevanz dieses Befundes für Menschen ist nicht auszuschließen. Auch in klinischen Studien kommen Neoplasien unter dem GLP-1-Analog insgesamt häufiger vor.

∎  Wir erachten die Nutzen-Schaden-Bilanz von Liraglutid als negativ und warnen vor der Anwendung.

  (R = randomisierte Studie)
 1NovoNordisk: Fachinformation VICTOZA, Stand Juni 2009
 2PAROLA, A.: Advisory Committee Nonclinical Briefing Document NDA22-341, VICTOZA;
http://www.fda.gov/downloads/AdvisoryCommittees/CommitteesMeetingMaterials/ Drugs/EndocrinologicandMetabolicDrugsAdvisoryCommittee/UCM148645.pdf
 3HAMEED, S. et al.: Oral Diseases 2009; 15: 18-26
 4ABU-HAMDAH, R. et al.: J. Clin. Endocrinol. Metab. 2009; 94: 1843-52
R5BUSE, J.B. et al.: Lancet 2009; 374: 39-47
 6EMEA : Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) VICTOZA, Stand Juli 2009
http://www.emea.europa.eu/humandocs/PDFs/EPAR/victoza/H-1026-en6.pdf
 7RUSSEL-JONES, D. et al.: Diabetologia 2009; online publ. am 14. Aug. 2009
R8NAUCK, M. et al.: Diabetes Care 2009; 32: 84-90
R9GARBER, A. et al.: Lancet 2009; 373: 473-81
R10MARRE, M. et al.: Diabet. Med. 2009 26: 268-78
R11ZINMAN, B. et al.: Diabetes Care 2009; 32: 1224-30
 12MAHONEY, K.M., DERR, J.: Diavortrag Advisory Committee Meeting 2. Apr. 2009;
http://www.fda.gov/downloads/AdvisoryCommittees/CommitteesMeetingMaterials/Drugs/ EndocrinologicandMetabolicDrugsAdvisoryCommittee/UCM151147.pdf
 13NovoNordisk : Briefing Document Advisory Committee Meeting 2. Apr. 2009;
http://www.fda.gov/downloads/AdvisoryCommittees/ CommitteesMeetingMaterials/Drugs/EndocrinologicandMetabolicDrugsAdvisoryCommittee/UCM148659.pdf
 14PAROLA, A.: Diavortrag Advisory Committee Meeting 2. Apr. 2009
http://www.fda.gov/downloads/AdvisoryCommittees/ CommitteesMeetingMaterials/Drugs/EndocrinologicandMetabolicDrugsAdvisoryCommittee/UCM151129.pdf
 15FDA: Official Transcript. Endocrinologic and Metabolic Drugs Advisory Committee Meeting, 2. Apr. 2009;
http://www.fda.gov/downloads/AdvisoryCommittees/CommitteesMeetingMaterials/Drugs/ EndocrinologicandMetabolicDrugsAdvisoryCommittee/UCM151176.pdf
 16MAHONEY, K.M.: Clinical Briefing Document VICTOZA, 3. März 2009
http://www.fda.gov/downloads/AdvisoryCommittees/CommitteesMeetingMaterials/Drugs/ EndocrinologicandMetabolicDrugsAdvisoryCommittee/UCM148645.pdf

© 2009 arznei-telegramm, publiziert am 11. September 2009

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