50 JAHRE ARZNEIMITTELINFORMATION – START DES a-t IN BEWEGTEN ZEITEN
Das arznei-telegramm® entstand 1969/1970 aus Flugblättern einer Gruppe junger Ärzte und Studenten, die sich Unabhängiger Arbeitskreis Arzneimittelpolitik Berlin (UAAB) nannte. Die Zeit war reif für Informationen, die nicht die Sichtweise der Pharmaindustrie widerspiegeln. Arzneimittelskandale wie CONTERGAN* und MENOCIL** hatten erhebliche Zweifel am verantwortungsbewussten Handeln der pharmazeutischen Industrie geweckt. Es war offensichtlich, dass für Pharmafirmen wie Grünenthal Umsatz und Gewinn wichtiger waren als das Wohl der Patienten. Zu einer Zeit, als bereits weit über 100 Nervenschäden unter dem laut Werbung „gefahrlosen“ Schlafmittel bekannt waren, schrieb die kaufmännische Leitung:
„CONTERGAN stellt zurzeit fast 50 Prozent unseres gesamten Inlandumsatzes, und es geschieht alles, um diesen Augapfel ... abzusichern.“ (Grünenthal, kaufmännische Leitung. Dez. 1960)1
* | Thalidomid (CONTERGAN) war vom 1. Okt. 1957 bis zum 27. Nov. 1961 überwiegend als rezeptfreies Schlafmittel im Handel. Nach Einnahme in der Frühschwangerschaft brachten weltweit mehr als 10.000 Mütter Kinder mit Fehlbildungen zur Welt, vornehmlich mit verkürzten bzw. fehlenden Gliedmaßen (Phokomelie), aber auch mit schwerwiegenden Schäden innerer Organe. Weniger bekannt ist, dass bereits frühzeitig unter CONTERGAN Nervenschäden bekannt geworden sind. |
** | Der Appetithemmer Aminorex (MENOCIL; auf den Tablettengläschen stand: „zur angenehmen Gewichtsreduktion“) musste 1968 vom Markt genommen werden. Allein in Deutschland erkrankten 850 Personen – meist junge Frauen – nach Einnahme von Aminorex an lebensbedrohlicher pulmonaler Hypertonie, die auch tödlich verlief. Eine Schadens-Chronik der bislang vermarkteten Appetithemmer – „ein Blick zurück mit Schrecken“ – erschien als e a-t 2/2015. |
Der CONTERGAN-Prozess wurde im Dezember 1970 – trotz eindeutig erkennbarer Schuld der Angeklagten – nach 283 Verhandlungstagen eingestellt, ohne dass die Verantwortlichen verurteilt wurden. Ein Sachverständiger bezeichnete die völlig ungeregelte klinische Arzneimittelprüfung als dunkelsten Punkt in der Medizin der Bundesrepublik Deutschland (UAAB, Flugblatt 4/69). Der Prozess hat deutlich gemacht, wie wichtig verbindliche gesetzliche Regelungen für die Sicherheit von Arzneimitteln sind. Im CONTERGAN-Einstellungsbeschluss betonen die Richter, dass Arzneimittelhersteller bei Verdacht auf Arzneimittelrisiken bereits dann tätig werden müssen, wenn gegen ein Präparat begründete Bedenken bestehen. Seitdem zieht sich die Strategie des vorbeugenden Verbraucherschutzes wie ein roter Faden durch die Arbeit des arznei-telegramm®: Die Gesundheit der Patienten ist höher zu bewerten als die Vermarktungsinteressen der Arzneimittelanbieter. Daher sind im Zweifelsfall zügig Maßnahmen zur Risikoabwehr durchzuführen. Auch auf diesen Sonderseiten, auf denen wir Ereignisse und Erkenntnisse der letzten 50 Jahre Revue passieren lassen, werden an verschiedenen Stellen die Bedeutung des CONTERGAN-Verfahrens und des vorbeugenden Verbraucherschutzes thematisiert.
Das halbe Jahrhundert seit Start des arznei-telegramm® brachte viele Veränderungen, etwa durch Arzneimittelgesetzgebung und Nachzulassungen, Bestrebungen nach Produkt- und Kostentransparenz, evidenzbasierte Medizin, Internet, Verlagerung von Zulassungen und Risikoabwehr auf die europäische Arzneimittelbehörde (EMA), Rabattverträge, Nutzenbewertungen des IQWiG/G-BA, Globalisierung, Biologika, personalisierte Medizin und vieles mehr. Entsprechend haben wir auch die Arbeit des a-t weiterentwickelt, systematisiert und beispielsweise die Methoden der evidenzbasierten Medizin einbezogen.
Manche Entwicklungen im Arzneimittelbereich verliefen und verlaufen allmählich, zunächst fast unbemerkt, wie die Zunahme der Generika oder derzeit das Vordringen von Biologika in immer mehr Anwendungsbereiche (so genannte Schwellenabsenkung), andere dagegen brachten rasch spürbare Einschnitte, wie die Maßnahmen gegen die ehemals zahlreichen irrationalen Kombinationspräparate. Solche Entwicklungen – darunter viele positive, aber auch tendenziell negative – wollen wir anlässlich der fünf Jahrzehnte, die das arznei-telegramm® den Arzneimittelmarkt nicht nur kritisch begleitet, sondern auch dazu beigetragen hat, Fehlentwicklungen zu korrigieren (vgl. a-t 2019; 50: 103-5), fokussiert auf einige Schwerpunkte beleuchten.
VOM FLUGBLATT ZUM a-t – DIE ERSTEN JAHRE: Die ersten Flugblätter erschienen 1969 unter den Pseudonymen Peter Witt und Emil Stress, da die Reaktionen der Pharmaindustrie und ihrer Rechtsabteilungen nicht absehbar waren. Der lockere Zusammenschluss der Kollegen im UAAB stieß allerdings bald an seine Grenzen. Die Arbeit blieb vor allem an Ulrich MOEBIUS*** hängen, anfangs unterstützt von Klaus Werner WENZEL, bis dieser als Oberarzt seinen Arbeitsschwerpunkt in der Klinik sah. Aufgrund der zahlreichen Nachfragen und Ermunterungen durch Kollegen, die sich weitere Informationen jenseits der Pharmaindustrie wünschten, ersetzte das regelmäßig erscheinende arznei-telegramm® 1970 die unregelmäßig verbreiteten Flugblätter.
*** | U.M. MOEBIUS war zunächst in den 1960er Jahren bei Schering und bei Gründung des a-t als Stationsarzt tätig. |
Die ersten a-t-Ausgaben enthielten überwiegend telegrammartig kurze Meldungen, die – untypisch für diese Zeit – auch Arzneimittelpreise, Unterschiede in verschiedenen Ländern sowie Marketingmethoden der Pharmaindustrie thematisierten. Ab und zu gab es auch längere Artikel mit Hintergrundinformationen, beispielsweise zu den Preisunterschieden in Deutschland und der Schweiz (a-t 1971; Nr. 4: 25-7). Kostenvergleiche sahen Pharmafirmen auch in jener Zeit nicht gern, denn schon damals neigten sie dazu, kräftig an der Preisschraube zu drehen (s. a-t 2019; 50: 105-8).
Arzneimittelherstellern gingen die Berichte und Kommentare des a-t spürbar gegen den Strich, zumal diese spezielle Art, eine zweite Meinung zu verbreiten, sich in Form und Inhalt deutlich von den durchweg schöngefärbten Industrieverlautbarungen abhob. Die Reaktionen der Firmen ließen nicht lange auf sich warten. Darauf angesprochen, steigt bei den a-t-Gründern auch heute noch der Adrenalinspiegel: Klageandrohungen, einstweilige Verfügungen und eine Schadenersatzforderung der Firma Pfizer am 20. Dez. 1970 über 2,3 Millionen DM, die schlaflose Weihnachten bereitete.**** Hinzu kamen persönliche Diffamierungen, die zur Vorladung des Stationsarztes und a-t-Mitbegründers K.W. WENZEL beim Klinikchef zur Aufklärung angeblicher „Machenschaften“ führten bzw. zur Gefährdung der Facharztstelle nach einem Fernsehinterview. Die zum Teil nichtigen Anlässe für heftige Gegenreaktionen und Verleumdungen machten deutlich, wie tief der Stachel „a-t“ im Selbstverständnis der Pharmaindustrie saß, die alleinige Informationshoheit zu haben, Arzneimittel zu erklären.
**** | Nachdem sich die Presse, insbesondere der Spiegel, für diesen massiven Einschüchterungsversuch interessiert hatte, verlief die juristische Intervention im Sande. |
MIT SCHERE UND LAYOUTKLEBER
Anfangs residierte das a-t in einem Wohnwagen mit Telefonanschluss, Mitte der 1970er Jahre dann in einem kleinen Laden in der Nähe des Klinikums Steglitz, Berlin. Die Texte entstanden zunächst auf einer konventionellen Schreibmaschine, aber bald schon mithilfe einer Kugelkopfschreibmaschine, die verschiedene Schriftgrößen und Schriftarten ermöglichte: Unseres Wissens ist das a-t die erste Zeitschrift, die für den Versand als Postvertriebsstück akzeptiert worden ist, obwohl sie im Flattersatz* gesetzt wurde und die Post noch Blocksatz als Voraussetzung für die kostenreduzierte Versandart ansah.
Von Anfang an erscheint das a-t im Selbstverlag mit eigener Aboverwaltung. Das schafft Unabhängigkeit auch von möglichen Einflussnahmen durch Verleger.
Das Layout, mit Papiermesser, Layoutkleber und Kopierer, erfolgte ebenfalls in Eigenregie, nach einiger Zeit schon professioneller auf einem selbst gebastelten Leuchttisch. Und es hat Spaß gemacht, das a-t in allen Schritten, abgesehen vom Druck, selbst handwerklich fertigzustellen. Korrekturen, Textumstellungen oder Einschübe neuester Nachrichten machten die geklebten und überklebten Druckvorlagen manchmal – im wahrsten Sinne des Wortes – so vielschichtig, dass sich der Drucker beschwerte. Schließlich durften die vielen Schnittkanten im gedruckten Heft nicht sichtbar werden.
Einige Erleichterung brachte später eine Kugelkopfschreibmaschine (Composer), mit der einzelne Texte und Korrekturen auf Magnetkarten gespeichert werden konnten und auch Blocksatz möglich war – ein sanfter Einstieg in die elektronische Textverarbeitung. Das Layout mit den zuvor auf den Magnetkarten korrigierten Texten ging fortan beträchtlich zügiger. Die Techniker des Schreibmaschinen-Anbieters taten uns allerdings leid. Selbst im Hochsommer mussten sie die Geräte in dunklem Anzug mit weißem Hemd und Schlips warten und reparieren.
In den 1980er Jahren kam der erste Computer hinzu – mit zwei waschschüsselgroßen Wechselplatten zu jeweils 10 Megabyte –, der später um einen in der äußerlichen Dimension riesigen, nach heutigen Ansprüchen mickrigen Festspeicher mit 480 Megabyte erweitert wurde. Dieser war so schwer, dass er von zwei Leuten transportiert werden musste. Die erste Aufgabe dieser Neuanschaffung war das Stichwortverzeichnis unseres Arzneimittelverzeichnisses transparenz-telegramm (s. Seite a-t 2019; 50: 95-98).
* | Beim Flattersatz laufen (im Gegensatz zum heute bei Zeitschriften üblichen Blocksatz) die Zeilen ungleichmäßig aus. |
Bis 1971 verschickte das a-t bei strittigen Fragen Artikel betroffenen Firmen oder Institutionen vorab zur Durchsicht auf Richtigkeit bzw. zur Stellungnahme zu. Dies gab den Anbietern jedoch auch Zeit für juristische Schritte. So reagierte Albert-Roussel Pharma auf die Zusendung eines vorgesehenen Textes mit einer einstweiligen Verfügung mit hohem Streitwert, die das Erscheinen der aktuellen a-t-Ausgabe gefährdete und möglicherweise sogar das noch junge a-t insgesamt. Seitdem verzichtet das a-t grundsätzlich auf Vorabinformationen über geplante Inhalte.
Andere Strategien, dem a-t zu schaden, waren subtiler. Beispielsweise wurde kolportiert, das arznei-telegramm® werde von „drüben“ – also von der DDR – finanziert, um so die Kritiker in eine für etablierte Kreise anrüchige linke Ecke zu stellen. Der Ursprung solcher Behauptungen, die dem a-t selbst gegenüber nicht offen geäußert wurden, ließ sich nicht ausmachen. Wohl aber finden wir aktuell in Schering-Akten der 1970er Jahre, die inzwischen über das Landesarchiv Berlin zugänglich sind, interne Schreiben, beispielsweise von einem Anwalt der Rechtsabteilung der Firma:
„M.E. ist es nun auch für uns an der Zeit, Herrn Dr. MOEBIUS überall dort Schwierigkeiten zu machen, wo dies möglich und sachlich begründbar ist.“ Zudem regt der Firmenjurist an, „zu überlegen, ob wir (also Schering, Red.) einen Journalisten finden, den das Thema ‚Herr Dr. MOEBIUS betreibt sein Geschäft mit der Angst? interessiert...“.2
Angebliche Verängstigung von Patienten war – nicht nur damals – ein gängiger Vorwurf, um öffentliche Diskussionen über Risiken von Arzneimitteln zu diskreditieren. Schering – und sehr wahrscheinlich auch eine Reihe weiterer Firmen – überlegte auch, wie man das a-t „vom Informationsfluss abschalten“2 könne. Anlass war eine Anfrage des a-t zu DUOGYNON, einer Hormonkombination, die unter Verdacht stand, Fehlbildungen auszulösen. Zwar hatte Schering die Indikation als Schwangerschaftsfrühdiagnostikum 1973 gestrichen, die Fachkreise jedoch darüber nicht hinreichend informiert (a-t 1978; Nr. 9: 83-6). In diesem Kontext teilte der Chef des Pharmabereichs Dr. HANNSE seinen Kollegen mit:
„Sollten wir uns eines Tages zur Freigabe dieses Informationsmaterials entschließen, dann werden wir mit Sicherheit nicht zuerst an Herrn Dr. MOEBIUS denken, sondern an Wissenschafts- oder Medizinjournalisten, von denen wir eine sachliche und abgewogene Information der Öffentlichkeit erwarten können.“2*****
***** | Die Schering-Zitate stehen unseres Erachtens für die damalige Haltung weiter Teile der Pharmaindustrie, für die uns allerdings entsprechende Interna aus den 1970er Jahren nicht zugänglich sind, –Red. |
„Abgewogen“ steht hier eindeutig für „im Sinne der Firma“. Und mangelnde Ausgewogenheit war lange ein gängiger Vorwurf von Arzneimittelanbietern dem a-t gegenüber –, als wären ausgewogene Verlautbarungen bei der Pharmaindustrie Standard. Gerade weil diese oft wesentliche Zusammenhänge verschleiert bzw. Informationen verschweigt, ist das arznei-telegramm® als Gegenpol entstanden.
1 | Monatsbericht der kaufmännischen Leitung, Grünenthal: zit. nach Spiegel Nr. 23; 1968, S. 46-65; http://www.a-turl.de/?k=echo |
2 | Schering: Interne Schreiben vom 10. und 28. Aug. 1978: Landesarchiv Berlin – B Rep. 058. Nr. 13192 |
REPRINT arznei-telegramm® 1970-1975
Wir haben noch einige Exemplare unserer Dokumentation „arznei-telegramm 1970-1975“, die auch die vorangegangenen Flugblätter des Jahres 1969 sowie ein Schlagwortverzeichnis enthält (Format 17 x 24 cm; ca. 500 Seiten). Bis Ende 2019 können Sie den Reprintband zum Sonderpreis von 5 € inkl. Porto und Verpackung (bei Lieferung ins Ausland 10 €) per Vorkasse bestellen. Bitte überweisen Sie 5 €* auf unser unten genanntes Konto (Verwendungszweck „Reprintband“ und, falls zur Hand, Ihre Kundennummer) und senden uns zusätzlich eine E-Mail mit Ihrer Post-/Lieferanschrift (sowie dem Namen des Kontoinhabers, falls nicht mit Ihnen identisch). Sie erhalten das Buch nach Zahlungseingang. Alternativ können Sie Ihrer schriftlichen formlosen Bestellung per Post einen 5-€-Schein* beilegen (auch hier bitte die Post-/Lieferanschrift nicht vergessen).
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* | Bei Lieferung ins Ausland: 10 € (inkl. Porto und Verpackung) |
Zugang zu a-t-Quellen vor 1990: In dieser Sonderbeilage erwähnen wir viele a-t-Quellen aus den Jahren 1969 bis 1989, die über unsere Internetseiten nicht elektronisch zugänglich sind. Damit Sie auch Zugang zu diesen alten Quellen bekommen, haben wir sie eingescannt und über Links in den elektronischen Versionen zugänglich gemacht. Im Unterschied zu regulären a-t-Ausgaben verzichten wir in dieser Sonderbeilage auf viele Quellenzitate – immer dann, wenn diese über die a-t-Zitate, die in den elektronischen Versionen verlinkt sind, leicht zu finden sind.
Interessenkonflikt: Soweit es auf diesen Sonderseiten um das arznei-telegramm® und seine Produkte geht, besteht natürlich ein Interessenkonflikt, –Red.
© 2019 arznei-telegramm, publiziert am 15. November 2019
Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten
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