OPIOIDANALGETIKUM TAPENTADOL (PALEXIA RETARD)
Seit Mitte September ist ein neues zentral wirkendes Analgetikum im Handel: Tapentadol (PALEXIA RETARD). Es ist für die Therapie starker chronischer Schmerzen zugelassen, die nur mit Opioiden angemessen behandelt werden können.1 Ähnlich wie bei Tramadol (TRAMAL, Generika) wird die analgetische Wirkung auf einen dualen Mechanismus zurückgeführt: Tapentadol ist sowohl ein Opioid als auch ein Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Anders als Tramadol ist Tapentadol als Betäubungsmittel eingestuft.2
EIGENSCHAFTEN: Tapentadol wirkt als Agonist am µ-Opioidrezeptor und gleichzeitig als Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer.1,3 Ihm werden außerdem schwache anticholinerge und 5-HT3-antagonistische Wirkungen sowie ein hemmender Effekt auch auf die Serotoninwiederaufnahme zugeschrieben.4 Im Tierversuch hat Tapentadol die Hälfte bis ein Drittel der analgetischen Potenz von Morphin.3 Im indirekten Vergleich wäre es somit stärker als Tramadol, das laut Fachinformation ein Sechstel bis ein Zehntel der analgetischen Wirkung von Morphin hat.5
KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Zwei doppelblinde randomisierte plazebo- und verumkontrollierte Phase-III-Studien6,7 mit insgesamt 2.011 Patienten liegen vollständig veröffentlicht vor. Die Patienten leiden an chronischen nicht tumorbedingten Rückenschmerzen bzw. Schmerzen wegen Arthrose des Kniegelenks. Die Liste der Ausschlussgründe ist lang, relevante Begleiterkrankungen dürfen die Studienteilnehmer nicht haben. Sie nehmen nach Absetzen ihrer bisherigen Analgetika und einer dreiwöchigen Titrationsphase zwölf Wochen lang jeweils zweimal täglich mindestens 100 mg retardiertes Tapentadol, 20 mg retardiertes Oxycodon (OXYGESIC RETARD, Generika) oder Plazebo ein. Die Dosis darf bis jeweils zweimal täglich 250 mg Tapentadol bzw. 50 mg Oxycodon gesteigert, die Mindestdosis jedoch nicht unterschritten werden. Zusätzliche Analgetika sind nicht erlaubt. In der Studie zu Rückenschmerzen sinkt der mittlere Schmerzpunktwert (11-Punkte-Skala*) von initial 7,5 bis 7,6 in den zwölf Wochen unter Plazebo um 2,1 und unter Tapentadol bzw. Oxycodon jeweils signifikant um weitere 0,7 bzw. 0,8 Punkte.6 Ähnlich sind die Ergebnisse der zweiten Studie, in der jedoch wesentliche Daten nur grafisch dargestellt werden (Differenz zu Plazebo 0,7 bzw. 0,3 Punkte).7 Eine dritte zwölfwöchige Phase-III-Studie mit rund 1.000 Arthrosepatienten, die seit mehr als zwei Jahren abgeschlossen ist8 und in der Tapentadol (ebenso wie Oxycodon) nicht signifikant besser wirkt als Plazebo,9 ist bis heute nicht vollständig publiziert.**
Die durch das Studiendesign vorgeschriebene Mindestdosis von täglich 40 mg Oxycodon entspricht der Tagesdosis, die laut Fachinformation für die Behandlung nicht tumorbedingter Schmerzen im Allgemeinen bereits als ausreichend gilt.11 Ein Teil der Patienten dürfte mit dieser Wirkstoffmenge, die nicht unterschritten werden durfte, überdosiert gewesen sein. Eine prophylaktische Behandlung der Opioid-induzierten Obstipation, wie sie in Leitlinien empfohlen wird,12 war zudem in den Studien nicht systematisch vorgesehen. Dass die Abbruchquoten, vor allem wegen unerwünschter Effekte, in beiden Studien unter Oxycodon am höchsten sind (58% bzw. 65%), kann eine Konsequenz dieser nicht standardgemäßen Behandlung sein. Dies wirkt sich besonders auf die Responderanalysen aus, in denen alle Abbrecher als Nonresponder gezählt werden. Während unter Tapentadol eine mindestens 50%ige Schmerzlinderung mit 27% bzw. 32% der Patienten signifikant häufiger erreicht wird als unter Plazebo (19% bzw. 24%), schneidet Oxycodon in diesem Endpunkt in einer Studie nicht besser, in der zweiten sogar signifikant schlechter ab als das Scheinmedikament (23% bzw. 17%).6,7 Aus den oben genannten Gründen bleiben diese Daten ohne Aussagekraft.
Veröffentlichte Vergleiche mit Morphin (MST MUNDIPHARMA u.a.) oder dem ebenfalls von Grünenthal entwickelten Tramadol finden wir nicht, ebenso wenig Studien zur Behandlung von Tumorschmerzen mit Tapentadol. Laut Fachinformation gibt es zu Tapentadol bei Tumorschmerzen keine ausreichenden Daten, weshalb die Anwendung nicht empfohlen wird.1 Warum das Mittel dann überhaupt uneingeschränkt für starke chronische Schmerzen zugelassen wurde, ist nicht nachvollziehbar.
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Wie bei einem starken Opioid zu erwarten, gehören Magen-Darm-Beschwerden zu den häufigsten unerwünschten Effekten. In einem bis zu zwölfmonatigen offenen randomisierten Sicherheitsvergleich mit Oxycodon klagen 23% der knapp 900 Tapentadol-Anwender über Obstipation, 18% über Übelkeit und 7% über Erbrechen. Diese Störwirkungen kommen alle unter Oxycodon häufiger vor (39%, 33% bzw. 14% der Patienten). Zu berücksichtigen ist aber auch hier das oben skizzierte inadäquate Design. Auch Schwindel (15% versus 19%) und Juckreiz (5% vs. 10%) sind unter Oxycodon häufiger. Mundtrockenheit (9% vs. 5%), Durchfall (8% vs. 5%), Somnolenz (15% vs. 11%), Kopfschmerzen (13% vs. 8%) und Schlafstörungen (7% vs. 4%) werden dagegen unter Tapentadol häufiger berichtet.13
Gelegentlich oder selten sind u.a. Herzfrequenzsteigerung und -senkung, Blutdruckabfall, Synkope, Harnverhalt, Krampfanfall oder Atemdepression beschrieben. Tapentadol hat wie andere µ-Agonisten ein Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzial. Beim Absetzen können Entzugssymptome auftreten. Unter anderen monoaminergen Mitteln (vor allem Antidepressiva) ist ein erhöhtes suizidales Risiko beschrieben (a-t 2005; 36: 45-7 und 2007; 38: 92-3).1 In US-amerikanischen Produktinformationen des älteren Tramadol wird vor Suizid unter dem Mittel gewarnt.14
Neben den typischen Wechselwirkungen eines Opioids mit anderen zentraldämpfenden Arzneimitteln wie Benzodiazepinen sind bei Tapentadol Interaktionen mit serotoninergen Stoffen wie selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) und Monoaminooxidase (MAO)-Hemmern zu beachten. Bei Kombination mit serotoninergen Mitteln ist Auftreten eines Serotonin-Syndroms beschrieben. Die gleichzeitige Anwendung von MAO-Hemmern ist wegen der Gefahr kardiovaskulärer Störwirkungen wie hypertensiver Krise kontraindiziert.1
KOSTEN: Tapentadol (PALEXIA RETARD, monatlich 169 € für täglich 200 mg) verteuert die Behandlung chronischer Schmerzen im Vergleich zu einem Oxycodon-Generikum auf das 1,8fache (z.B. OXYCODON HCL AL RETARD, monatlich 92 € für täglich 40 mg) und im Vergleich zu einem Morphin-Generikum auf knapp das Fünffache (z.B. MORPHANTON RETARD, monatlich 36 € für täglich 60 mg).
Das neue zentral wirkende Analgetikum Tapentadol (PALEXIA RETARD), ein Opioid und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, der dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt, lindert in zwei Kurzzeitstudien nicht tumorbedingte chronische Schmerzen besser als Plazebo. In einer dritten, bisher nicht vollständig publizierten Studie findet sich kein Vorteil gegenüber Scheinmedikament.
Ein Wirkvorteil gegenüber einem reinen Opioid ist nicht belegt. Vergleiche mit dem Standard Morphin (MST MUNDIPHARMA u.a.) und mit Tramadol (TRAMAL, Generika), das einen ähnlichen dualen Wirkmechanismus hat, liegen nicht vor.
Bei Tumorschmerzen ist Tapentadol unzureichend geprüft.
Opioid-typische Störwirkungen wie Obstipation und zentralnervöse Effekte kommen sehr häufig vor.
Ob Tapentadol bei standardgemäßer Behandlung Verträglichkeitsvorteile hat gegenüber einem reinen Opioid, bleibt offen. Die vorliegenden Studien lassen aufgrund ihres Designs, das unter anderem eine unangemessen hohe Mindestdosis in den Kontrollgruppen mit retardiertem Oxycodon (OXYGESIC, Generika) vorsah, einen aussagekräftigen Vergleich nicht zu.
Die Langzeitsicherheit von Tapentadol bleibt zu klären.
Wir sehen beim derzeitigen Kenntnisstand keine Indikation für das überteuerte Mittel.
(R =randomisierte Studie) | |
1 | Grünenthal: Fachinformation PALEXIA RETARD, Stand Aug. 2010 |
2 | BfArM: Betäubungsmittel, 22. Jan. 2010 ; http://www.bfarm.de/cln_103/DE/Bundesopiumstelle/BtM/btm-inhalt.html |
3 | Ortho-McNeil-Janssen Pharmaceuticals: US-amerikanische Produktinformation NUCYNTA, Stand März 2009 |
4 | GUAY, D.R.P.: Consult. Pharm. 2009; 24: 833-40 |
5 | Grünenthal: Fachinformation TRAMAL LONG; Stand Febr. 2010 |
R 6 | BUYNAK, R. et al.: Expert Opin. Pharmacother. 2010; 11: 1787-804 |
R 7 | AFILALO, M. et al.: Clin. Drug Investig. 2010; 30: 489-505 |
8 | Grünenthal: ClinicalTrials.gov, Stand Dez. 2009 http://www.clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00486811 |
9 | RAUSCHKOLB, C. et al.: Präsentation EULAR-Kongress, Rom, Juni 2010 |
10 | Johnson & Johnson: ClinicalTrials.gov, Stand Febr. 2010 http://www.clinicaltrials.gov/ct2/show/results/NCT00455520 |
11 | Mundipharma: Fachinformation OXYGESIC RETARD, Stand März 2010 |
12 | Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes et al.: S3-Leitlinie Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS), Stand Juni 2009; http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/041-003.pdf |
R 13 | WILD, J.E. et al.: Pain Pract. 2010; 10: 416-27 |
14 | FDA: Important Drug Warning, Apr. 2010 http://www.fda.gov/downloads/Safety/
MedWatch/SafetyInformation/SafetyAlertsforHumanMedicalProducts/UCM213265.pdf |
* | Von 0 = kein Schmerz bis 10 = stärkster vorstellbarer Schmerz |
** | Eine vierte ebenfalls seit zwei Jahren unveröffentlichte plazebokontrollierte Kurzzeitstudie10 mit der Retardformulierung lässt aufgrund ihres Absetzdesigns (Plazebophase nach offener Behandlung aller Patienten mit Tapentadol) einen primären Wirknachweis unseres Erachtens nicht zu. |
© 2010 arznei-telegramm, publiziert am 8. Oktober 2010
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