MENINGOKOKKEN-B-IMPFSTOFF BEXSERO
Im Dezember 2013 hat Novartis den ersten Impfstoff gegen Meningokokken der Serogruppe B (BEXSERO) in Deutschland in den Handel gebracht. Ein solcher Impfstoff fehlte bislang, da bei B-Meningokokken die Kapsel wegen geringer Immunogenität nicht als Impfantigen nutzbar ist. Etwa zwei Drittel der invasiven Meningokokkenerkrankungen werden hierzulande durch B-Meningokokken hervorgerufen. Ihre Häufigkeit nimmt allerdings seit Jahren deutlich ab, von 400 bis 570 gemeldeten Erkrankungen pro Jahr in der ersten Hälfte der 2000er Jahre auf durchschnittlich 250 pro Jahr zwischen 2010 und 2012 (etwa 0,3 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner). Das höchste Erkrankungsrisiko haben Säuglinge und Kleinkinder, ein weiterer Gipfel findet sich bei Jugendlichen. Die Inzidenz in Deutschland ist vergleichsweise gering: Bei Säuglingen betrug sie 2011 6 pro 100.000, in Großbritannien bzw. Irland erkrankten im selben Jahr 25 bzw. 39 von 100.000 Säuglingen. 8% der invasiven B-Meningokokkenerkrankungen verlaufen tödlich. 10% der Überlebenden tragen schwerwiegende Schäden wie Hörverlust oder Amputation davon.1
EIGENSCHAFTEN: Anders als bei anderen Serogruppen ist die Polysaccharidkapsel von B-Meningokokken wenig immunogen, weil sie strukturell mit fetalem neuronalen Gewebe verwandt ist. Der jetzt eingeführte aus vier Komponenten bestehende Impfstoff nutzt daher subkapsuläre Proteine des Erregers als Antigene. Eine der vier Antigenkomponenten sind detoxifizierte äußere Membranvesikel (OMV), die in einem Impfstoff in Neuseeland zuvor bereits erfolgreich zur Ausbruchskontrolle verwendet wurden.1-4
WIRKSAMKEIT:
Wegen der Seltenheit der invasiven Meningokokken-Erkrankungen gelten randomisierte kontrollierte Studien zum klinischen Nutzen einer Impfung als nicht durchführbar. Von den Zulassungsbehörden wird daher bei Meningokokkenimpfstoffen als Korrelat für den Impfschutz der Nachweis von Antikörpern anerkannt, die in vitro unter Zusatz von Komplement Meningokokkenstämme mit dem jeweiligen Impfantigen abtöten (so genannter Serum-Bactericidal-Antibody [SBA]-Test). Bei Verwendung von humanem Komplement (hSBA) gelten im Allgemeinen Titer von 1 : 4 oder höher als protektiv.1-3,6 Im Unterschied zu den relativ beständigen Polysaccharidkapseln liegen die in BEXSERO als Antigene verwendeten subkapsulären Proteine bei Meningokokken jedoch in variabler Konzentration und Struktur vor. Die für die Serum-Bactericidal-Antibody-Tests in Zulassungsstudien verwendeten Referenzstämme wurden nicht deshalb ausgewählt, weil sie für zirkulierende virulente Keime repräsentativ sind, sondern weil sie jeweils eines der Impfstoffantigene ausbilden, die anderen aber nicht.2-4,7 Die Ergebnisse lassen daher keinen Schluss auf die Abdeckung der zirkulierenden Stämme durch den Impfstoff zu. Durchführung des SBA mit der Vielzahl der vorhandenen Erregervarianten gilt unter anderem wegen der dafür benötigten großen Mengen an Serum von Impflingen ebenfalls als nicht praktikabel. Die Stammabdeckung durch den Impfstoff muss daher bei BEXSERO derzeit mit einer weiteren "Surrogatbrücke" eingeschätzt werden: dem so genannten Meningococcal Antigen Typing System* (MATS).3,7,8 Auf der Basis der MATS-Analyse von 1.052 invasiven B-Meningokokkenstämmen, die 2007/ 2008 in verschiedenen europäischen Ländern isoliert wurden, wird für Deutschland eine Stammabdeckung von 82% durch BEXSERO geschätzt, die bei Säuglingen jedoch geringer sein könnte.7
In den drei zulassungsrelevanten Phase-IIb- und -III-Studien9-11 mit insgesamt 5.515 zwei Monate alten Säuglingen und 1.631 Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren werden durch die Impfung im hSBA mit spezifischen Referenzstämmen gegen drei der vier Impfantigene hohe Raten als schützend geltender Antikörpertiter erzielt: Bei 80% bis 100% der Säuglinge werden einen Monat nach Grundimmunisierung mit drei Dosierungen im Abstand von ein bis zwei Monaten bzw. nach Boosterdosis im Alter von zwölf Monaten hSBA-Titer von mindestens 1 : 5 gemessen.9,10 Die Titer gegen das vierte Antigen fallen bei zweimonatigen Impfabständen ähnlich, bei einmonatigen Abständen aber deutlich geringer aus (bei 80% versus 40% mindestens 1 : 5).5 Bei Jugendlichen finden sich einen Monat nach zwei Dosierungen hSBA-Titer von mindestens 1 : 4 bei 100%, vier bis fünf Monate später bei 90% bis 100%, wobei etwa 30% bis 40% jeweils schon eingangs entsprechende Titerhöhen aufweisen.11 Die Übertragbarkeit dieser in Chile durchgeführten Studie auf hiesige epidemiologische Verhältnisse ist unklar.12
Die Dauer des Impfschutzes ist nicht bekannt. Bei Säuglingen fallen die Antikörperspiegel sowohl nach der Grundimmunisierung als auch nach der Boosterdosis insbesondere für zwei der vier Antigenkomponenten rasch ab, weniger ausgeprägt auch für eine dritte. Entsprechende Daten für Jugendliche jenseits von sechs Monaten stehen aus.12
Die Immunantworten von Erwachsenen nach zwei Impfungen sollen ähnlich ausfallen wie die von Jugendlichen.5 Vollständig veröffentlichte Daten dazu sind allerdings spärlich.13 Für über 50-Jährige, Patienten mit chronischen Erkrankungen oder Immunschwäche liegen gar keine Daten vor.5,12
Nachvollziehbare Daten zum Einfluss der Impfung auf das Trägertum von B-Meningokokken fehlen bisher. Nach vorläufigen Ergebnissen aus einer Studie mit britischen Studenten scheint der Effekt mit Reduktion um 17% gering. Bevölkerungsweit hat bei Konjugatimpfstoffen gegen C-Meningokokken die deutliche Minderung des Trägertums entscheidend zum Rückgang der Erkrankungshäufigkeit beigetragen.3 Nach Modellrechnungen der Universität Bristol in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut wäre in den günstigsten Impfszenarien zu BEXSERO bei Annahme einer 30%igen Reduktion des Trägertums eine Minderung der Erkrankungsrate um 45% zu erwarten.1
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Im Vordergrund der unerwünschten Effekte bei Säuglingen stehen Fieber, Reizbarkeit und Lokalreaktionen. Bei gleichzeitiger Verabreichung mit Routineimpfungen werden in der Phase-III-Studie bei 65% der Impflinge innerhalb von sechs Stunden rektale Temperaturen von mindestens 38,5 °C gemessen, 1% entwickelt Fieber von 40 °C und höher. Die Raten sind deutlich höher als unter den Routineimpfstoffen allein (32% bzw. 0,2%). Reizbarkeit (93% vs. 83%), Schläfrigkeit (87% vs. 72%) und ungewöhnliches Weinen (85% vs. 64%) nehmen ebenfalls deutlich zu. Ähnlich steigt die Rate der Lokalreaktionen: So kommt es bei 87% zu Druckschmerzhaftigkeit, die bei 29% schwer verläuft.9
In einer Phase-IIb-Studie tritt vor allem Fieber bei Immunisierung im Intervall zwischen den Routineimpfungen nur mäßig häufiger auf als unter Routineimpfung allein.9 Nach vorläufigen Daten soll auch prophylaktisch eingenommenes Parazetamol (BEN-U-RON, Generika) die Fieberhäufigkeit mindern (39% vs. 69%), die Immunogenität von BEXSERO oder Standardimpfstoffen aber nicht beeinträchtigen.12 Nach anderen Studiendaten kann prophylaktisches Parazetamol die Immunogenität verschiedener Routineimpfstoffe aber abschwächen.13
Bei Jugendlichen sind Schmerzen im Injektionsbereich (bezogen auf Injektionen: 86% vs. 60% unter Plazebo), Krankheitsgefühl (51% vs. 30%) und Kopfschmerzen (42% vs. 27%) die häufigsten Störwirkungen. Sehr häufig wird auch über Arthralgien berichtet (etwa 20% vs. 10%).11
Als schwerwiegende unerwünschte Effekte bei Säuglingen werden vor allem Krampfanfälle mit oder ohne Fieber (0,25% vs. 0,14%**) und Verdacht auf KAWASAKI-Syndrom (0,12% vs. 0,07%**) beobachtet, die in den beiden Phase-IIb- und -III-Studien unter BEXSERO insgesamt numerisch häufiger vorkommen als in den Kontrollgruppen. Anfälle im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung (0,12%) werden nur unter BEXSERO berichtet. Bei den KAWASAKI-Erkrankungen soll der zeitliche Zusammenhang laut europäischem Beurteilungsbericht (EPAR) nicht für eine ursächliche Beziehung sprechen. Konkrete Daten fehlen allerdings. Weitere Klärung für beide Komplikationen soll nach Markteinführung eine gezielte Beobachtungsstudie bringen.12
OFFENE FRAGEN UND IMPFEMPFEHLUNG: Der klinische Nutzen des Impfstoffs kann letztlich nur durch breite Anwendung geklärt werden. Selbst wenn sich die derzeitigen Schätzungen zur Stammabdeckung als zutreffend erweisen sollten, bleibt offen, inwieweit der Selektionsdruck durch die Impfung die Ausbildung unempfindlicher Varianten fördert (Replacement).2 Neben der offenen Frage zum Einfluss auf das Trägertum von B-Meningokokken ist zudem ungeklärt, wie sich der Impfstoff auf die Besiedlung mit der normalen Flora auswirkt, etwa mit Neisseria lactamica, ein nicht pathogenes potenziell kreuzreagierendes Bakterium, dessen Vorkommen möglicherweise vor der Besiedlung mit Meningokokken schützt.12
Die britische Impfkommission JCVI hat sich Mitte 2013 vorläufig gegen die Aufnahme von BEXSERO in das Standardimpfprogramm ausgesprochen.14 In Spanien soll der Impfstoff beim derzeitigen Kenntnisstand ebenfalls nur zur Abriegelung bei lokalen Ausbrüchen verwendet werden.15 Auch die Ständige Impfkommission beim Robert Koch-Institut (STIKO) gibt derzeit keine positive Empfehlung ab. Für eine abschließende Bewertung fehlen der STIKO hinreichende Daten zur altersspezifischen Stammabdeckung, insbesondere bei Säuglingen, zur Dauer des Impfschutzes, zum Trägertum, zur Sicherheit, z.B. im Hinblick auf das KAWASAKI-Syndrom, und nicht zuletzt zum Problem der Integration eines weiteren Impfstoffs in den schon sehr vollen Impfkalender im ersten Lebensjahr.1
KOSTEN: Der Impfstoff ist sehr teuer: Eine Dosis zu 0,5 ml kostet 96,96 €.
Seit Ende 2013 ist in Deutschland mit BEXSERO erstmals ein Impfstoff gegen Meningokokken der Serogruppe B im Handel.
Wegen der geringen Immunogenität der Polysaccharidkapsel von B-Meningokokken werden in dem Impfstoff subkapsuläre Proteine als Antigene genutzt.
In Zulassungsstudien werden bei der Mehrzahl der geimpften Säuglinge bzw. Jugendlichen zumindest kurzzeitig als schützend geltende Antikörpertiter erzeugt. Gegen wie viele der zirkulierenden B-Meningokokkenstämme ein Impfling tatsächlich geschützt ist, darüber sagen diese Titer jedoch nichts aus. Dies kann wegen der Variabilität der in BEXSERO verwendeten subkapsulären Antigene derzeit nur mit Hilfe eines weiteren Surrogatparameters geschätzt werden.
Für chronisch Kranke, Patienten mit Immunschwäche und über 50-Jährige gibt es keine Daten.
Daten zur klinischen Effektivität, zur Dauer des Impfschutzes, zum Einfluss auf das Trägertum sowie zur Auswirkung auf die normale Schleimhautflora fehlen. Unklar ist auch, inwieweit eine breite Verwendung die Ausbildung von Varianten fördert, die von dem Impfstoff nicht mehr abgedeckt werden.
Die Impfung wird schlecht vertragen mit sehr häufigen Fieber- und Lokalreaktionen im Säuglingsalter insbesondere bei gleichzeitigen Routineimpfungen. Zu den schwerwiegenden unerwünschten Effekten gehören Krampfanfälle und möglicherweise KAWASAKI-Syndrom.
Die pro Dosis 97 € teure Impfung wird derzeit nicht als Routine- oder Indikationsimpfung empfohlen.
Wir sehen eine Indikation für BEXSERO beim derzeitigen Kenntnisstand nur im Einzelfall, zum Beispiel bei einem Erkrankungsausbruch.
(R = randomisierte Studie) | |
1 | RKI: Epid. Bull. 2013; Nr. 49: 495-8; http://www.a-turl.de/?k=urna |
2 | GILL, C.J.: Lancet Infect. Dis. 2013; 13: 381-2 |
3 | MARTIN, N.G., SNAPE, M.D.: Expert Rev. Vaccines 2013; 12: 837-58 |
4 | SNAPE, M.D., POLLARD, A.J.: Lancet 2013; 381: 785-7 |
5 | Novartis: Fachinformation BEXSERO, Stand Jan. 2013 |
6 | BORROW, R. et al.: Vaccine 2005; 23: 2222-7 |
7 | VOGEL, U. et al.: Lancet Infect. Dis. 2013; 13: 416-25 |
8 | DONNELLY, J. et al.: PNAS 2010; 107: 19490-5 |
R 9 | VESIKARI, T. et al.: Lancet 2013; 381: 825-35 |
R 10 | GOSSGER, N. et al.: JAMA 2012; 307: 573-82 |
R 11 | SANTOLAYA, M.E. et al.: Lancet 2012; 379: 617-24 |
12 | EMA: Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) BEXSERO, Stand Jan. 2013 http://www.a-turl.de/?k=rten |
R 13 | PRYMULA, R. et al.: Lancet 2009; 374: 1339-50 |
14 | JCVI: JCVI interim position statement on use of Bexsero meningococcal B vaccine in the UK, Juli 2013; http://www.a-turl.de/?k=ausw |
15 | MARTINON-TORRES, F.: Lancet 2013; 382: 1552-3 |
* | Hierbei wird in einem Enzyme-linked Immunosorbent Assay (ELISA) die Bindung von B-Meningokokkenstämmen an polyklonale Antikörper, die gegen die Impfantigene gerichtet sind, gemessen und mit derjenigen der für den Impfstoff spezifischen Referenzstämme verglichen. Nach einer kleinen Untersuchung an 57 Stämmen korreliert eine bestimmte Bindungsstärke im MATS mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Abtötung im SBA.8 |
** | Berechnung der Prozentangaben durch die a-t-Redaktion auf der Basis der absoluten Zahlen im EPAR. |
© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 17. Januar 2014
Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten
Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.