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Therapiekritik

PARAZETAMOL-VERGIFTUNG - THERAPIE MIT AZETYLZYSTEIN IM WANDEL

Parazetamol (BEN-U-RON, Generika) ist einer der wichtigsten rezeptfrei erhältlichen schmerzlindernden Wirkstoffe. Mit knapp 18 Millionen in deutschen Apotheken abgegebenen Packungen steht das Präparat PARACETAMOL-RATIOPHARM 2013 auf Rang 2 der meistverkauften Arzneimittel.

Parazetamol ist relativ gut verträglich, sofern die empfohlenen Maximaldosierungen eingehalten werden. Bei Überdosierungen droht Gefahr für die Leber: Eine Einzeldosis ab 7,5 g Parazetamol per os (150 mg/kg Körpergewicht [KG]) gilt als Dosis, ab der für Erwachsene Hepatotoxizität zu befürchten ist.1 Solche Hochdosierungen können - insbesondere durch Erschöpfung des Glutathionvorrats - die körpereigene Entgiftungskapazität überfordern, die normalerweise den bei der Verstoffwechselung von Parazetamol entstehenden leberschädigenden Metaboliten problemlos entgiftet.

Seit 1982 ist parenterales Azetylzystein (FLUIMUCIL) als Antidot bei Parazetamol-Intoxikation im Handel. Es liefert Zystein, das eine rasche Neusynthese des fehlenden Glutathions ermöglicht und Leberschäden verhindern hilft. Das empfohlene Therapieschema mit einer Gesamtdosis von 300 mg/kg KG als abgestufte Dauerinfusion wurde seinerzeit empirisch ermittelt und ist über die Jahrzehnte nahezu unverändert geblieben. Einzige Ausnahme: Die Initialdosis von 150 mg/kg KG wird seit 2011 innerhalb von 60 Minuten infundiert statt wie zuvor innerhalb von 15 Minuten, die Gesamtinfusionsdauer dadurch auf 21 Stunden verlängert.2,3 Die geringere Wirkstoffanflutung in der Initialphase trägt dazu bei, das Risiko anaphylaktoider Reaktionen und anderer unerwünschter Wirkungen zu verringern.1 Inzwischen wird versucht, das Anwendungsregime weiter zu verbessern: Bei gleicher Gesamtdosis schneidet in einem aktuellen randomisierten Doppelblindvergleich eine auf insgesamt 12 Stunden verkürzte Dauerinfusion von Azetylzystein, deren Initialdosis auf zwei Stunden verlängert ist, in Bezug auf Häufigkeit von anaphylaktoiden Reaktionen, Erbrechen und Therapieunterbrechungen besser ab als das mehr als 20-stündige Standardschema, bei dem die initiale Dosis jedoch wie früher noch innerhalb von 15 Minuten infundiert wurde. Ein Vergleich des Nutzens ist nicht möglich, da die Studie nicht genügend Power hat, um Nichtunterlegenheit zu belegen.5

Auch die Interventionsgrenze steht zur Disposition. International unterscheiden sich die Strategien: Die deutsche Fachinformation empfiehlt den Behandlungsbeginn, wenn die Parazetamol-Serumspiegel vier Stunden nach Einnahme 200 µg/ ml überschreiten.2 In den USA4 werden 150 µg/ml und in Großbritannien1 100 µg/ml genannt. Das Antidot beugt zuverlässig Leberschäden vor, wenn die Therapie bei Vierstundenspiegeln von 100 µg Parazetamol/ml und mehr innerhalb von acht Stunden nach Einnahme der Hochdosis begonnen wird. Werden die Infusionen später als zehn Stunden danach begonnen, nimmt die Wirksamkeit deutlich ab. Nach 15 Stunden kann die Behandlung nur noch wenig zur Linderung eines Leberschadens beitragen.1

Die britischen Behörden haben die vorhandenen Daten ausgewertet und vor zwei Jahren die Therapiehinweise konkretisiert und vereinfacht,6,7 auch um das Risiko von Fehleinschätzungen bei der Entscheidung, ob eine Therapie mit dem Antidot erforderlich ist, zu verringern. Mit Azetylzystein soll nach britischem Regime - unabhängig von Risikofaktoren für Hepatotoxizität - behandelt werden, wenn der zeitdefinierte Parazetamol-Serumspiegel auf oder über der Linie eines Nomogramms8 liegt, die die Werte von 100 µg/ml bei vier Stunden nach Einnahme und 15 µg/ml bei 15 Stunden verbindet. Wurde die Parazetamol-Überdosis in Teilmengen über einen Zeitraum von einer Stunde oder länger eingenommen, soll die Behandlung unabhängig von den Parazetamol-Serumwerten begonnen werden. Dies gilt auch für den Fall, dass Zweifel über den Zeitpunkt der Parazetamol-Intoxikation bestehen. Spezifische Kontraindikationen gegen Azetylzystein sind nicht mehr vorgesehen. Dies gilt insbesondere für bekannte Überempfindlichkeit gegen Azetylzystein, da auch hier der Nutzen die Risiken überwiege.1,6,7

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sieht inzwischen Handlungsbedarf, die hiesigen Grenzwerte für den Einsatz von Azetylzystein zu überprüfen.9 Der Anbieter Pierre Fabre teilt auf Anfrage wenig konkret mit, dass der Lizenzgeber des Produktes die neuen Empfehlungen zur Kenntnis genommen habe und in die Produktinformationen einarbeiten werde.10 Konkretisierung und Verbesserung des hierzulande empfohlenen Antidotregimes lassen also noch auf sich warten, -Red.

  (R = randomisierte Studie)
1 Commission on Human Medicines, Paracetamol Expert Group: Benefit Risk Profile of Acetylcysteine in the Management of Paracetamol Overdose, Sept. 2012; http://www.a-turl.de/?k=alge
2 Pierre Fabre Pharma: Fachinform. FLUIMUCIL Antidot, Stand Mai 2011
3 Inpharzam: FLUIMUCIL Antidot, Broschüre, Stand Juni 1988
4 Cumberland Pharmac.: US-amerikanische Produktinformation ACETADOTE,
Stand Juni 2013 http://www.a-turl.de/?k=chod
R  5 BATEMAN, D.N. et al.: Lancet 2014; 383: 697-704
6 MHRA: Drug Safety Advice, Sept. 2012; 6: A1 (2 Seiten) http://www.a-turl.de/?k=ochb
7 MHRA: Paracetamol overdose: Simplification of the use of intravenous acetylcysteine,
Sept. 2012; http://www.a-turl.de/?k=elsi
8 MHRA: Acetylcysteine Core Summary of Product Characteristics,
Sect. 4, Sept. 2012; http://www.a-turl.de/?k=amsw
9 BfArM: Schreiben vom 6. März 2014
10 Pierre Fabre Pharma: Schreiben vom 6. März 2014

© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 14. März 2014

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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