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Desinformation und Überdosierungen bei Nahrungsergänzungen für Kinder

Jedes zehnte Kind soll Nahrungsergänzungsmittel oder mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Lebensmittel erhalten und fast jeder zweite Erwachsene zu Nahrungsergänzungsmitteln greifen.1,2 Der Umsatz dieser Produkte erreichte 2022 allein in Apotheken 2,9 Milliarden Euro.2 Der Hang zu Nahrungsergänzungen erscheint jedoch irrational (a-t 2013; 44: 22): Hierzulande gibt es aus ernährungsphysiologischer Sicht keine allgemeine Unterversorgung mit Nährstoffen. Die Produkte sind somit für die meisten Menschen ohne Nutzen.2 Der Gebrauch wird jedoch nicht nur bei Kindern beispielsweise dadurch gefördert, dass in Produktbeschreibungen der Eindruck erweckt wird, Nahrungsergänzungen könnten Abwehrkräfte stärken und die Konzentration erhöhen.3 Auf Grundlage eines aktualisierten Marktchecks, in dem 33 für die Zielgruppe Kinder vertriebene Nahrungsergänzungsmittel hinsichtlich Zusammensetzung und Werbeaussagen bewertet werden, warnen jetzt die Verbraucherzentralen vor den Folgen von Regelungslücken für diese Produktgruppe.4 Denn seit 20 Jahren steht eine rechtsverbindliche Höchstmengenregelung für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungen aus (vgl. e a-t 1/2018), obwohl diese in der Nahrungsergänzungs-Richtlinie der EU vorgesehen war.2 Solche Regelungslücken gehen mit der Gefahr von Überdosierungen einher: Bei 23 (70%) der bewerteten Produkte werden die Referenzwerte der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für Vitamine und Mineralstoffe für Kinder von vier bis sieben Jahren überschritten, so etwa bei B-Vitaminen, Vitamin A, Zink, Selen u.a. Bei 13 (39%) werden sogar die erst für Personen ab 15 Jahre geltenden Höchstmengenempfehlungen des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) erreicht oder überschritten. Vitamin A, das überhaupt nicht in Nahrungsergänzungsmitteln für Kinder von vier bis zehn Jahren enthalten sein sollte, ist in 14 (42%) der für Kinder vorgesehenen Produkte zu finden.4 Vitamin D, für das schwere Intoxikationen durch Nahrungsergänzungsmittel beschrieben sind (a-t 2004; 35: 51 und 2020; 51: 55-6), ist in 20 (61%) der Produkte enthalten, obwohl es für Kinder ab zwei Jahren nicht generell empfohlen wird.5 Die höchste von den Verbraucherzentralen erfasste Tagesdosis von 20 µg (800 I.E.; in LIFEPLUS Yummies) kommt der Dosis nahe, die in Arzneimitteln verschreibungspflichtig ist (oberhalb 1.000 I.E./Tag). Doch gilt die Verschreibungspflicht, die der Arzneimitteltherapiesicherheit dient, generell nicht für Nahrungsergänzungsmittel. Diese dürfen ohne die für Arzneimittel vorgeschriebene behördliche Prüfung von Sicherheit und Wirksamkeit in den Handel gebracht werden. Beanstandet wird auch, dass 22 (66%) der bewerteten Produkte in süßigkeitsähnlichen Darreichungsformen wie Lutsch-„Bonbons“ oder Gummibärchen angeboten werden. Diese können durchaus mit Süßigkeiten verwechselt werden4 – mit dem Risiko erheblicher Überdosierungen. Die Gesamtbewertung der Auswertung ist für Nahrungsergänzungsmittel vernichtend: Sie „sind meist zu hoch dosiert, schlichtweg überflüssig und häufig zu teuer“.3 Die Verbraucherzentralen fordern daher unter anderem die behördliche Prüfung und Zulassung von Nahrungsergänzungsmitteln, verbindliche, nach Alter differenzierte Höchstmengen für Nährstoffe, eine verbindliche Positivliste für pflanzliche und sonstige Bestandteile, eine Meldestelle für die systematische Erfassung unerwünschter Wirkungen sowie eine effektive Überwachung durch die zuständigen Landesbehörden, um unzulässige Angaben zu ahnden.4

1Verbraucherzentrale Bundesverband, Forsa: Nahrungsergänzungsmittel: Repräsentative Bevölkerungsbefragung 30. März 2022; https://a-turl.de/226i
2Verbraucherzentrale: Nahrungsergänzungsmittel sicher regulieren, 10. Aug. 2023; https://a-turl.de/ms2i
3Verbraucherzentrale: Pressemitteilung vom 10. August 2023; https://a-turl.de/dy4n
4Verbraucherzentrale NRW: Nahrungsergänzungen für Kinder, Juni 2023; https://a-turl.de/fmbu
5REINEHR, T. et al.: Monatsschr. Kinderheilk. 2018; https://a-turl.de/vth2

© 2023 arznei-telegramm, publiziert am 25. August 2023

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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