Anfang November 1989 berichtete ein klinisch tätiger internistischer Kollege aus Regensburg dem NETZWERK DER GEGENSEITIGEN
INFORMATION über ein rätselhaftes Eosinophilie-Pneumonie-Syndrom, das möglicherweise mit der Einnahme von Ademetionin (GUMBARAL),
einer "körpereigenen Substanz zur Therapie der aktivierten Arthrose" im Zusammenhang stehen könnte. Da keine weiteren Hinweise auf eine
Belastung von Ademetionin mit derartigen Störwirkungen vorlagen, dokumentierten wir den Bericht ohne endgültige Beurteilung der
Zusammenhangsfrage.
In der letzen Novemberwoche wurden die Öffentlichkeit und das Berliner Bundesgesundheitsamt durch die Nachricht der US-amerikanischen
Gesundheitsbehörde alarmiert, daß in den USA binnen kurzer Frist 386 Fälle eines sogenannten Eosinophilie-Myalgie-Syndroms (EMS) in Verbindung
mit der Einnahme von L-Tryptophan-haltigen Erzeugnissen bekanntgeworden waren. Für die in den USA als Diätetika vermarkteten
"natürlichen" Heilmittel veranlaßte dort die Überwachungsbehörde einen sofortigen Vertriebsstopp (vgl. a-t 12 [1989], 116). In der
Bundesrepublik Deutschland ging der Verkauf der als Schlafmittel und Antidepressiva in der Wirksamkeit umstrittenen L-Tryptophan-Präparate weiter.
Erkrankungen, die durch eine Eosinophilie sowie durch Zeichen einer chronischen Entzündung der Muskulatur, der Faszien und Sehnen (eosinophile Fasciitis),
der peripheren Nerven (idiopathisches Hypereosinophilie-Syndrom) und der Lungen (eosinophile Pneumonitis) auffielen, sind sowohl in der
Veterinärmedizin1,2 wie auch in der Humanmedizin3,4,5 mehrfach beschrieben worden, ohne daß die Pathogenese erklärbar war.
Eine Zuordnung der Erkrankung zu dem rheumatischen Formenkreis wurde diskutiert, jedoch wies die Symptomatik mit initialen oder auch persistierenden hohen
Temperaturen, grippeähnlichen Beschwerden und schwerem Krankheitsgefühl auf eine immunallergische Genese hin, wobei bei den individuellen
Verlaufsformen häufig eine Myositis, Fasciitis, Polyneuritis, Alveolitis, Arthritis und - als potentiell lebensbedrohliche Verlaufsfrom - generalisierte Vaskulitis im
Vordergrund standen. Kortikoidgabe führte meist zu einer raschen Rückbildung der Eosinophilie. Die Myositis zeigte aber häufig nur eine schlechte
Rückbildungstendenz.6
Die Ähnlichkeit mit dem CHURG-STRAUSS-Syndrom, einer Vaskulitis mit chronischen Entzündungen vornehmlich im Bereich der Nebenhöhlen und
der Lungen und Eosinophilie, hätte auffallen müssen, insbesondere nachdem das Bundesgesundheitsamt und die Hoechst AG von uns auf eine Kasuistik
im NETZWERK hingewiesen wurden, bei der sich anhand des Krankheitsverlaufs der Verdacht auf einen Zusammenhang mit der Einnahme von Ofloxacin
(TARIVID) und Ciprofloxacin (CIPROBAY) abzeichnete (vgl. a-t 6 [1989], 58). Auch beim CHURG-STRAUSS-Syndrom werden nicht nur in der Lunge, sondern auch
an anderen Organen eosinophile Infiltrate und Granulome beobachtet, z.B. auch in der Haut.
Bei Redaktionsschluß für die Dezemberausgabe am 11. Dez. 89 galt folgender Sachstand:
- Der Kollege aus Regensburg ergänzt seinen NETZWERK-Bericht um den Hinweis: Die 63jährige Patientin hatte über mehrere Monate auf
fachärztlichen Rat das rezeptfreie "natürliche" Antidepressivum L-Tryptophan in einer Dosis von 1000 mg/Tag eingenommen. Unter dieser Behandlung,
aber auch nach Absetzen hatte das EMS trotz Behandlung persistiert.*
- Bei Meldung des Falles an das Bundesgesundheitsamt wird mitgeteilt, daß das Amt Kenntnis über fünf weitere Verdachtsfälle habe.
Datenaustausch lehnt die Behörde jedoch ab.
- Im Gegensatz zur deutschen Behörde ist die Datenkommunikation mit dem britischen Department of Health problemlos. Die Besonderheiten eines britischen
EMS-Falles bei einem Bodybuilder (1000 mg Tryptophan täglich) hinsichtlich der Bedrohlichkeit und Irreversibilität des Verlaufs werden diskutiert. Die
englische Behörde wird auch darüber informiert, daß dem Bundesgesundheitsamt weitere Berichte vorliegen. Obwohl das BGA zu diesem Zeitpunkt
gegenüber dem Rundfunk erklärt, daß es die Situation weiter beobachte, sind anscheinend eigenständige Recherchen bei anderen nationalen
Zentren noch nicht erfolgt, denn wir vermitteln den Kontakt zwischen der englischen und der deutschen Gesundheitsbehörde.
- Seitens der Industrie werden folgende Informationen zur Verfügung gestellt: Dr. WEIDLER von der Fresenius AG teilt mit, daß in Anbetracht des
Risikoverdachts die Firma ihr L-Tryptophan-Präparat KALMA mit sofortiger Wirkung vom Markt nimmt. Der Stufenplanbeauftragte der Firma Degussa/Asta
bestätigt Gleiches für das Präparat ATRIMON.
- Durch die vielfältigen Gespräche mit anderen Gesundheitsbehörden und Firmenvertretern wird klar, daß offensichtlich auch geringe Mengen
von L-Tryptophan (100-200 mg/Tag) ausreichen, um eine EMS-Erkrankung auszulösen, daß bis zum 10. Dez. 89 in den USA mehr als 800 Fallberichte
vorliegen und daß fünf Erkrankungen tödlich verliefen.
* Bis Redaktionsschluß dieser Ausgabe gingen dem NETZWERK fünf Meldungen über EMS-Erkrankungen in Verbindung mit L-
Tryptophan zu.
Am 12. Dez. 89 ergibt sich aus dem BGA-Pressedienst, die Behörde habe sich nicht zum notwendigen Verbot der L-Tryptophan-haltigen Arzneimittel
entschlossen, sondern nur zu einer Reduktion der Dosisempfehlung auf 1000 mg/Tag bei der Anwendung als Schlafmittel. Der behördlich ausgesprochene
Verzicht auf die Indikation "depressive Erkrankung" erscheint rein deklamatorisch. Für dieses Anwendungsgebiet bestand keine Zulassung - entgegen dem
Indikationsanspruch der Anbieter.
Da mit den behördlichen Empfehlungen ein wirksamer Schutz der Verbraucher nicht erreichbar erscheint - L-Tryptophan ist rezeptfrei, und seine Anwendung
unterliegt nicht der ärztlichen Kontrolle -, unterrichten wir die Presse in einem blitz-arznei-telegramm. Zahlreiche Organe der Medien (z.B. WDR-Hörfunk,
Spiegel, Tageszeitungen) greifen die Warnung auf, während andere nur offizielle Verlautbarungen übernehmen wollen. So lehnt die Deutsche
Presseagentur ab, die vom BGA nicht autorisierte Meldung des a-t zu übernehmen, und warnt erst zwei Wochen später, als sich das
Bundesgesundheitsamt endlich am 28. Dez. 89 zum Verbot der L-Tryptophan-haltigen Arzneimittel entschlossen hat - ein bemerkenswertes Beispiel für
üblich gewordenen "Verlautbarungsjournalismus".
Unser blitz-arznei-telegramm über L-Tryptophan hat einen unvorhergesehenen Nebeneffekt: Ein Schweizer Journalist übermittelt die Botschaft der
Interkantonalen Kontrollstelle für Arzneimittel (IKS) in Bern. Der zuständige IKS-Sachbearbeiter nimmt unmittelbar nach Erhalt der Hinweise Kontakt mit uns
auf und veranlaßt einen sofortigen Vertriebsstopp in der Schweiz, 10 Tage vor der deutschen Behörde.
Besorgniserregend ist im Falle der L-Tryptophan-haltigen Arzneimittel das Fehlen eines Beitrages der Arzneimittelkommissionen der Deutschen Ärzteschaft und
der Deutschen Apotheker zur sach- und zeitgerechten Information der Fachkreise über das Risiko. Bis zur Ausgabe 51/52 des Deutschen Ärzteblatts
(Eingang 2. Januar 1990) waren dem Standesorgan keine Informationen zu entnehmen. Die von Ärzten an die Kommission gemeldeten Fälle sind bis
heute den Kollegen nicht zugänglich, und in dem Hinweis in Heft 51/52 fand sich nur der Abdruck der Verlautbarung des BGA vom 12. Dez. 1989 mit
Dosisbeschränkung auf 1000 mg L-Tryptophan pro Tag, eine Angabe, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung durch das Verbot der Arzneimittel vom 28.
Dez. 1989 längst überholt war. Erst eine Woche später wurde dann das Ruhen der Zulassung für L-Tryptophan-haltige Arzneimittel mitgeteilt
(Dtsch. Ärztebl. 1 [1990], C-2). Es stimmt bedenklich, daß Ärzte für zeitgerechte Informationen über Arzneimittelrisiken auf Laienmedien
angewiesen bleiben, weil die dazu zuständigen Einrichtungen der Selbstverwaltung nicht zu funktionieren scheinen. Die negativen Gefühle eines Arztes
sind nachvollziehbar, wenn er bei der Verordnung eines L-Tryptophan-haltigen Arzneimittels vom Patienten darauf hingewiesen wird, daß das Arzneimittel
inzwischen verboten ist.
FAZIT: Der geschilderte Sachverhalt und der Zeitablauf zeigen Problempunkte und Faktoren auf, die eine schnelle und sachgerechte Information der Fachkreise
und der Verbraucher bei plötzlich bekanntwerdenden Arzneimittelrisiken behindern. Zögerliches Handeln der Bundesoberbehörde ist dabei nur ein
Faktor, der überdies aus dem unverständlichen Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin in Sachen ARTEPARON ableitbar erscheint (vgl. a-t 12 [1989], 113).
Erfreulich ist, daß einige Hersteller eigenverantwortlich handelten und ihre Produkte vor dem Entscheid der Behörde aus dem Markt nahmen. Trotzdem, die
Zeitverzögerung zwischen dem Handeln der US-amerikanischen Behörde Ende November und dem der deutschen Behörde Ende Dezember
dürfte hierzulande zur Neuerkrankung einiger Menschen geführt haben.
Daß mit dem Vertriebsstopp von L-Tryptophan ein als "biologisches Schlafmittel" angebotenes Präparat vom Markt verschwindet, schmerzt besonders die
Kollegen und Kolleginnen, die vernünftigerweise wegen des Risikos der Low-Dose-Abhängigkeit eine Alternative zu Benzodiazepinen suchen. Ihnen bleibt
jetzt nur die Verordnung pflanzlicher Präparate aus Hopfen oder Baldrian.
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