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Im Blickpunkt

NERVENGASVERGIFTUNGEN – MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN VON VORBEUGUNG UND THERAPIE

Durch die hohen Reichweiten heutiger Waffen werden zunehmend Zivilisten getroffen. Deren zuverlässiger Schutz vor chemischen, biologischen oder atomaren Waffen ist ebenso wenig möglich wie eine Behandlung einer größeren Zahl Schwerverletzter.

Die Nerven"gase" Tabun (GA), Sarin (GB), Soman (GD) und das ölige VX sind den handelsüblichen Pestiziden verwandte Organophosphate, jedoch wirkstärker. Bei normalen Temperaturen sind sie flüssig. Bei höheren Temperaturen oder wenn sie bei einer Explosion verdampft werden, entsteht die gefährliche Gasform. Nervengas wird auch durch die Haut absorbiert.

Die Kampfgase hemmen das Enzym Azetylcholinesterase am cholinergen Rezeptor irreversibel. Dadurch kumuliert der Neurotransmitter Azetylcholin und bewirkt Hyperaktivität am Muskarin- und Nikotin-Rezeptor.1

Klinische Folgen sind starke Sekretion der Nasen-, Augen-, Mund-, Lungen- und Darmschleimhäute sowie Muskelzuckungen und gastrointestinale Krämpfe mit Erbrechen und Einkoten. Hautkontakt mit flüssigem Giftgas verursacht innerhalb von 1 - 30 Minuten Bewußtlosigkeit, Krampfanfälle, schlaffe Lähmung und Apnoe.

Die Inhalation geringer Mengen Dampf oder Aerosol führt innerhalb von Sekunden zu Miosis, Rhinorrhoe, Augenschmerzen, Konjunktivitis und Sehstörungen. Lungensymptome mit Bronchokonstriktion und erhöhter bronchialer Sekretion reichen bis zum Ersticken. Bei höheren Konzentrationen können bereits ein oder zwei Atemzüge innerhalb von Sekunden Bewußtlosigkeit verursachen, dann Krampfanfälle und innerhalb von Minuten schlaffe Lähmung und Apnoe.1 Der Tod tritt meist infolge von Atemstillstand und zentraler Atemdepression ein in Verbindung mit bronchialer Hypersekretion und Lähmung der Atemmuskulatur.2

Helfer stehen vor dem kaum lösbaren Problem, sich selbst vor dem Giftgas zu schützen, während sie versuchen, die Betroffenen zu dekontaminieren oder zu behandeln.2

Der Nutzen von Gasmasken hängt ab von der Konzentration des Kampfmittels, der Windgeschwindigkeit, dem Abstand zur Quelle der Exposition und dem Zustand der Maske. Sie muß das gesamte Gesicht dicht abschließen. Bleiben die Augen frei, wird das Kampfgas durch die Bindehaut absorbiert. Bärte, Brillen und andere Faktoren beeinträchtigen den dichten Abschluß der Masken. Durch Stoßschäden und Lagerung unter Einfluß von Feuchtigkeit können die Filter ihre Schutzwirkung einbüßen.1

Einen gewissen Schutz vor Hautkontakt bieten gasundurchlässige Overalls mit eingearbeiteter Aktivkohle. Diese schränken jedoch die Bewegungsfähigkeit ein und können in heißem Klima zum Hitzschlag führen.1 Zudem wurden Penetranzien entwickelt, die den Schutzeffekt solcher Kleidung abschwächen.3

Die Wirkungen der Organophosphatkampfstoffe auf die Azetylcholinesterase können durch sogenannte Reaktivatoren beeinflußt werden. Diese verdrängen den Giftstoff vom Enzym, sofern sie rechtzeitig nach Exposition gegeben werden und das Enzym noch nicht irreversibel geschädigt ist. Dies tritt bei Sarin mit einer Halbwertszeit von 5 Stunden, bei Soman aber innerhalb von 2 Minuten ein. Bis der Betreffende die Nervengasintoxikation erkennt und sich ein Antidot verabreicht, kann bereits eine letale Dosis absorbiert sein, die auf 1 mg geschätzt wird.2 Auch kann der erreichte Schutz durch höhere Giftgaskonzentrationen zunichte gemacht werden.

Der meistverwendete Reaktivator Pralidoxim ist gegen Soman praktisch wirkungslos.3 Pralidoxim muß über 20 - 30 Minuten i.v. und ggf. wiederholt injiziert werden. Automatikinjektoren zur i.m.-Gabe gehören zur Notfallausrüstung von Soldaten.1

Die Muskarin-Wirkungen von Azetylcholin lassen sich durch Atropin (ATROPINSULFAT z. Inj. u.a.) lindern. Jedoch erfordern starke Beschwerden innerhalb von drei Stunden nach Exposition enorme Dosen bis 50 mg i.m. oder i.v. und mehr.4 Atropin unterdrückt Schwitzen, so daß Hyperthermie die Beschwerden komplizieren kann.

Bei akuter Giftgasbedrohung wird die prophylaktische Einnahme von Pyridostigmin (MESTINON) empfohlen. Der reversible Cholinesterasehemmer blockiert die aktiven Stellen von Azetylcholin und dadurch die Angriffspunkte des Nervengases. Nach Tierversuchen scheinen additive Effekte praktisch kein Problem zu bedeuten. Im Gegensatz zu Nervengas dringt das quaternäre Amin Pyridostigmin kaum in das ZNS, so daß eine Beeinträchtigung der Reaktionsfähigkeit unter der Prophylaxe nicht erwartet wird. Das Mittel erhöht die Wirksamkeit von Atropin und Pralidoxim gegen Soman-Exposition, ist jedoch ohne diese Antidote nutzlos. Zur Behandlung von Konvulsionen wird Diazepam (VALIUM u.a.) empfohlen.

FAZIT: Nervengase hemmen die Azetylcholinesterase und verursachen über die Kumulation des Neurotransmitters Azetylcholin eine Überaktivität von Muskarin- und Nikotin-Rezeptoren. Mäßige Exposition verursacht starke Sekretion fast aller Schleimhäute, stärkerer Kontakt oder Inhalation Bewußtseinsverlust, Krämpfe und Apnoe. Schutzkleidung, Gasmasken, Vorbehandlung mit Pyridostigmin und Behandlung mit Atropin, Pralidoxim und Diazepam können Leben retten. Jedoch erscheint diese komplexe Technologie allenfalls für das Militär nutzbar. Prävention und Behandlung von Zivilisten ist in nennenswertem Umfang nicht möglich.

1

Med. Letter 32 (1990), 103

2

DUNN, M. A., F. R. SIDELL: J. Am. Med. Ass. 262 (1989), 649

3

FERNER, R. E., M. D. RAWLINS: Brit. Med. J. 298 (1989), 767

4

HEYNDRICKX, A., B. HEYNDRICKX: Lancet 336 (1990), 1248


© 1991 arznei-telegramm

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