In Anfragen an die Redaktion wird immer wieder die Frage gestellt, ob in Anbetracht der möglichen BSE-Gefährdung durch niedermolekulare
oder konventionelle Heparine die "low-dose"-Thromboseprophylaxe noch vertretbar sei. Anders als das Bundesgesundheitsamt, das im Fall BSE keinen
Handlungsbedarf sieht, sorgen sich viele Ärzte, daß sie ihre Patienten durch routinemäßige Heparinisierung mit boviner spongioformer
Enzephalopathie (BSE) infizieren könnten.
Heparine werden aus Rinderlunge und intestinaler Mukosa vom Schwein gewonnen. In diesen Organen vermehrt sich das infektiöse Agens der BSE lange
Zeit, bevor es das Gehirn des Tieres befällt und die Erkrankung zum Ausbruch kommen läßt.
BSE wurde in England zur Seuche, weil tiermehlhaltiges Kraftfutter zur Mast verwendet wurde, das seit 1978 nach einem geänderten Verfahren hergestellt wird
(vgl. a-t 8 [1990], 69). 1985 traten erste Erkrankungen bei Rindern auf. Heute sind fast 1% des Viehbestandes
befallen. Es existieren keine Belege dafür, daß infiziertes Tiermehl oder Kraftfutter nicht auch in andere europäische Länder exportiert wurde,
lange bevor die Verwendung 1989 in England unterbunden wurde. Der freie Warenverkehr in der EG kennt keine Meldepflicht für solche Exporte. Die von
einigen Herstellern und vom Bundesgesundheitsamt geäußerte Ansicht, in der Bundesrepublik werde kein tiermehlhaltiges Kraftfutter für die
Schweine- und Rindermast verwendet, trifft nicht zu. Nicht nur in der Schweiz (vgl. a-t 12 [1990], 108), sondern auch
in Deutschland konnten Viehbestände möglicherweise durch solches Kraftfutter infiziert werden.
Angaben über den Ursprungsort des tierischen Rohmaterials für die Heparinherstellung ist nicht zu trauen. Mit der Ausweitung der Indikationsstellung
für die routinemäßige Heparinisierung zur Thromboembolieprophylaxe wuchs der Verbrauch so stark, daß in Industrieländern der Bedarf an
Ausgangsmaterial nur noch durch Importe abzudecken ist. Zwischenhändler beziehen das Rohmaterial weltweit aus Schlachthöfen, deklarieren aber mit
Hilfe ihrer Handelsorganisationen üblicherweise Ursprungsort oder Ursprungsland um, um die Rohstoffquelle zu verschleiern und so einen Direktbezug durch die
Hersteller zu verhindern.
Die Situation für heparinhaltige Arzneimittel entspricht derzeit der Anfang der 80er Jahre, als erste Vermutungen über ein AIDS-Risiko von Blutprodukten
aufkamen, die aus Spenderblut gewonnen werden. Ob tatsächlich ein Risiko besteht, ist offen. Zur Begrenzung der möglichen Gefährdung sind
folgende Strategien denkbar:
Langfristig dürften gentechnisch hergestellte Heparine oder Heparinoide aus anderen risikofreien Ausgangsmaterialien die Alternative sein. Mittelfristig ist das
BSE-Risiko von Heparinen nur durch strikte Überwachung der Rohstoffgewinnung (geschlossene, BSE-freie Viehbestände) kontrollierbar. Da aber die
zuständige Bundesoberbehörde keinen Handlungsbedarf sieht, zeichnet sich keine derartige Maßnahme zum Schutz der Patienten ab. Kurzfristig gibt
es keine sicheren Lösungen, außer auf die Exposition von Patienten zu verzichten.
Dies erfordert eine Nutzen-Risiko-Abwägung, bei der ein mögliches, jedoch potentiell letales Infektionsrisiko gegen das konkrete, ebenfalls potentiell letale
Thromboembolierisiko abgewogen werden muß. Derzeit fällt dabei dem zahlenmäßig faßbaren Thromboembolierisiko ein höheres
Gewicht zu als dem zwar plausiblen, aber nicht erwiesenen Infektionsrisiko. Deshalb empfehlen sich folgende Regeln für die Heparinisierung:
- Die "low-dose"-Thromboembolieprophylaxe mit Heparin senkt in einer großen Studie die Inzidenz letaler postoperativer Lungenembolien von 0,8%
auf 0,1%.1 Es ist also davon auszugehen, daß die Zahl der durch Lungenembolien bedingten Todesfälle im Schnitt um 60% bis 70% vermindert
werden kann. Deshalb spricht der konkrete Nutzen derzeit prinzipiell für die Thromboembolieprophylaxe mit Heparin.
- Die positive Nutzen-Risiko-Abwägung gilt uneingeschränkt für ein hohes Thromboembolierisiko wie urologische Operationen,
Hüftchirurgie, Kniegelenksersatz, Notfallchirurgie hüftnaher Frakturen, ausgedehnte Tumoroperationen, Myokardinfarkt, Thrombosen oder
Lungenembolien in der Anamnese, da hier die Häufigkeit letaler Lungenembolien bei 1% bis 10% liegt.
2
- Die positive Nutzen-Risiko-Abwägung gilt auch für ein mittleres Thromboembolierisiko bei allgemein-chirurgischen, neurochirurgischen und
gynäkologischen Eingriffen, die länger als 30 Minuten dauern, sowie bei Patienten mit Risikofaktoren wie Alter über 40 Jahre, Tumorerkrankungen,
Adipositas, Gravidität und Wochenbett, Behandlung mit Estrogenen oder Kortikoiden, körperlicher Immobilisation oder Traumatisierung des
Bewegungsapparates, da hier die Inzidenz letaler Lungenembolien bei 0,1% bis 1,0% liegt.
2
- Fraglich positiv ist die Nutzen-Risiko-Abwägung bei niedrigem Thromboembolierisiko (Inzidenz letaler Lungenembolien unter 0,1%), etwa bei
Patienten unter 40 Jahren ohne Risikofaktoren oder bei unkomplizierten Eingriffen in der Allgemeinchirurgie, Gynäkologie, Kieferchirurgie, HNO, Kinderchirurgie
oder in der kosmetischen Chirurgie. Hier wird die Heparinisierung oft mehr aus forensischen Gründen propagiert. Ein anhand von Studien nachvollziehbarer und
belegter Nutzen fehlt. Im Sinne des vorbeugenden Patientenschutzes erscheint hier ein Verzicht auf die Heparinisierung erwägenswert.
Sollte sich das Infektionsrisiko durch Heparine konkretisieren, ist eine neue Nutzen-Risiko-Abschätzung erforderlich. Es wäre aber
wünschenswert, wenn die Experten für Blutgerinnung schon heute eine Neubewertung der routinemäßigen Thromboembolieprophylaxe mit
Heparin vornähmen. Dabei sollten auch alternative Verfahren wie Dextrane in die Diskussion einbezogen werden, die sich zum Schutz vor tödlichen
Lungenembolien als wirksam erwiesen haben,3 aber wegen der vermeintlich einfacheren und risikoärmeren Heparinisierung in Vergessenheit geraten
sind.
1 | KAKKAR, V. V. et al.: Lancet 2 (1975), 45 |
2 | HYERS, T. M. et al.: Chest 89, Suppl. 2 (1986), 26 |
3 | GRUBER, U. F.: Haemostaseol. 1 (1981), 154 |
|