Als "brittle"* wird ein schwer einstellbarer Typ-1-Diabetes-mellitus bezeichnet, mit unbeherrschbaren Blutzukkerschwankungen zwischen
Hypo- und Hyperglykämie. Überdurchschnittlich häufig findet sich der "brittle diabetes" in der Adoleszenz, verursacht durch
Manipulationen der Insulintherapie durch den Patienten.1,2
* brittle (engl.) = zerbrechlich, labil
Nachfolgend der ungewöhnliche Fall eines 70jährigen Patienten mit seit dem 29. Lebensjahr bestehendem Typ-1-Diabetes, der unter DEPOT CR mit
40 Einheiten morgens und 20 Einheiten abends bei traditioneller Diabetesdiät mit 12 BE bisher stabil eingestellt war und keine klinisch faßbaren
Spätschäden aufwies (NETZWERK-Fall 5206).
Nach 40jähriger unauffälliger Diabetesbehandlung kam es plötzlich zu schweren Hypoglykämien mit zerebralen Krampfanfällen, weswegen
der Patient in kurzer Folge dreimal stationär behandelt werden mußte. Eine antikonvulsive Therapie wurde erwogen. Dann kam der Patient mehrfach mit
hyperglykämischen Entgleisungen bis hin zum diabetischen Präkoma in die Klinik. Eine adjuvante Behandlung mit Acarbose (GLUCOBAY) blieb erfolglos
(vgl. Seite 6). Die Abklärung in einer Spezialambulanz ergab, daß die Instabilität des Diabetes nach der Umstellung von dem Rinderinsulin DEPOT CR
auf das Humaninsulin DEPOT H aufgetreten war.
Dem Zuckerkranken blieb eine entscheidende Veränderung der Umstellung verborgen: Das Rinderinsulin DEPOT CR ist eine klare saure Flüssigkeit, in
der das Insulin und sein Verzögerungshilfsstoff Surfen gelöst sind. Erst nach Injektion in das (neutrale) Subkutangewebe fällt die Insulin-Surfen-
Verbindung aus und verzögert so die Insulinabsorption. Beim neutralen Humaninsulin muß aus galenischen Gründen auf Protamin, eine nicht ganz
unproblematische Substanz (Antigen-Antikörperreaktion3,4), als Verzögerungshilfsstoff zurückgegriffen werden. In der Insulinampulle sind
Insulin/Protamin-Komplexe nicht gelöst, sondern suspendiert. Die "Kristalle" müssen durch Bewegen der Ampulle vor jeder Injektion erst
gleichmäßig mit dem Trägermedium durchmischt werden ("trübes Insulin").
Dem Patienten war die Notwendigkeit, die trübe Insulinsuspension vor jeder Injektion zu schütteln, nicht bewußt. Entsprechenden
Erläuterungen widersetzte er sich mit dem Wunsch nach seinem "alten Insulin". Das Umsetzen auf DEPOT CR stellte die stabile gute
Blutzukkereinstellung wieder her mit Werten zwischen 100 und 150 mg/dl.
FAZIT: Bisher wurden unklare Blutzuckerschwankungen den verschiedenen Insulinspezies (tierisches versus humanes Insulin) zugeschrieben.5 Unterschiede in
der Zubereitung (gelöstes versus suspendiertes Insulin) und deren Konsequenzen für die Applikationstechnik kommen möglicherweise auch als
Ursachen für Um- oder Einstellungsprobleme in Betracht. Man fragt sich, weshalb Hoechst das patientenfreundliche klare Surfen-Verzögerungsinsulin
nicht länger produzieren will, sobald die gentechnische Human-Insulinproduktion angelaufen ist.6 Werden Diabetiker, die klares Insulin dem
"trüben" vorziehen, dann auf kleinere Insulinproduzenten angewiesen sein wie die Berlin-Chemie AG, sofern sich diese am Markt halten
können?
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