"Neue Präzision gegen Depression" soll der im August 1992 eingeführte "hochselektive" Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer Paroxetin (SEROXAT, TAGONIS) bringen: ..."stimmungsaufhellend, verträglich und anwendungsfreundlich".1
Nachdem Zimelidin (NORMUD) 1983 bereits 18 Monate nach der Markteinführung wegen neurologischer Komplikationen wie GUILLAIN-BARRE-
Erkrankungen vom Markt genommen werden mußte (vgl. a-t 2 [1985], 15), gibt es zwei weitere Antidepressiva dieses Wirktyps: Fluvoxamin (FEVARIN) und
Fluoxetin (FLUCTIN). Im Prinzip sind Serotonin-Wiederaufnahmehemmer jedoch nichts Neues. Auch das trizyklische Antidepressivum Clomipramin (ANAFRANIL)
besitzt diese Eigenschaft.
EIGENSCHAFTEN: Paroxetin wird als der "selektivste Serotonin-Wiederaufnahmehemmer" bezeichnet.2 Ob solche aus in-vitro-Studien
abgeleiteten Eigenschaften für klinische Wirksamkeit oder unerwünschte Wirkungen bedeutsam sind, bleibt ungeprüft. Die pharmakokinetischen
Eigenschaften von Paroxetin lassen keine "neue Präzision" erkennen, sondern unterliegen starken interindividuellen Variationen. So werden
maximale Plasmaspiegel 0,5 bis 11 Stunden nach der Einnahme erreicht. Eine Verbindung zwischen Plasmaspiegeln und klinischer Wirksamkeit und
Verträglichkeit scheint zu fehlen.3
Die Eliminationshalbwertszeit von durchschnittlich 24 Stunden soll die 1 x tägliche Einnahme ermöglichen, doch liegt die Schwankungsbreite zwischen
3 und 65 Stunden.7 Paroxetin wird bereits während der ersten Leberpassage (First-pass-Effekt) zur Hälfte zu unwirksamen Abbauprodukten
verstoffwechselt. Durch Sättigung dieses Effektes steigt die Bioverfügbarkeit nach mehrfacher Einnahme. Multiple-Dose-Studien bei Patienten mit
Niereninsuffizienz scheinen nicht veröffentlicht zu sein.
KLINIK: Paroxetin ist zur Behandlung "depressiver Erkrankungen" zugelassen. Von elf Studien, in denen Paroxetin mit Plazebo verglichen
wurde, belegen sieben die Überlegenheit gegen Plazebo.4 Die Wirkung entspricht in Ansprechzeit und Intensität im wesentlichen der von
trizyklischen Antidepressiva. In einer Studie wirkt Paroxetin besser als Imipramin (TOFRANIL).4
Da Paroxetin sich in der chemischen Struktur deutlich von anderen 5-HT-Wiederaufnahmehemmern unterscheidet, wird postuliert, daß zwischen diesen
Verbindungen signifikante klinische Unterschiede bestehen.5 Vergleichsstudien mit Fluoxetin oder Fluvoxamin fehlen jedoch.
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: SmithKline Beecham bewirbt Paroxetin in einem Werbe-"Steckbrief"6 mit einem Minus an
Störeffekten: "Als Nebenwirkungen wurden Übelkeit, Kopfschmerz und Schläfrigkeit beobachtet." Nach Auswertung weltweiter Studien
werden am häufigsten berichtet: Übelkeit (27%), Schläfrigkeit (21%), Kopfschmerzen (19%), Mundtrockenheit (18%), Asthenie (15%), Schlaflosigkeit
(14%), Verstopfung (13%), Durchfall (11%), Tremor (10%), Nervosität (8%) und Appetitlosigkeit (4%).5 Krampfanfall, Priapismus, orthostatische
Hypotonie, Sehstörungen und Transaminasenanstieg kommen vor. Insbesondere bei Behandlungsbeginn wird über das "serotoninerge
Syndrom" mit Agitation, Schlafstörungen, getriebener Unruhe, Angst und psychotischen Reaktionen berichtet. Absetzen kann zu Verwirrtheit, emotionaler
Starre, beinträchtigtem Realitätsempfinden und Schwindel führen.8
Laut SEROXAT-Werbung soll das Mittel nicht "die psychomotorische Leistungsfähigkeit" (Reaktionszeit, Konzentration, Fahrtauglichkeit)
beeinträchtigen, während wir im Kleingedruckten des Werbekartons den Hinweis finden: "Dieses Arzneimittel kann auch bei
bestimmungsgemäßem Gebrauch das Reaktionsvermögen soweit verändern, daß die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am
Straßenverkehr oder zum Bedienen von Maschinen beeinträchtigt wird ...".6 Ein Apotheker aus Westerburg kommentiert die Botschaft:
"Beides auf einer Seite grenzt ja wohl schon an Unverschämtheit!"
DOSIS UND KOSTEN: Geworben wird mit einer Dosierung 1 x täglich morgens 1 Tablette (20 mg). Im Kleingedruckten werden Dosissteigerungen in
10-mg-Schritten bis auf maximal 50 mg eingeräumt. Die bereits für die 20-mg-Dosis erheblichen Kosten von monatlich 137,40 DM (siehe Kasten) steigen
dann bis auf 340 DM.
FAZIT: Der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Paroxetin (SEROXAT, TAGONIS) wirkt etwa gleich gut antidepressiv wie bewährte trizyklische
Antidepressiva. Vergleiche mit den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern Fluoxetin (FLUCTIN) und Fluvoxamin (FEVARIN) fehlen. Es mangelt an Kriterien, für
welche Patienten die bis zu zehnfach teurere Neuerung den Trizyklika vorzuziehen ist.
Von Person zu Person bis um den Faktor 20 abweichende pharmakokinetische Eigenschaften wie Halbwertszeit und Dauer bis zum Erreichen maximaler
Plasmaspiegel sowie fehlende Beziehungen zwischen Plasmaspiegeln und erwünschten sowie unerwünschten Wirkungen erschweren die
Behandlung.
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