Die Firma Essex ließ das nichtsteroidale Antiandrogen Flutamid (FUGEREL) außerhalb der vom Bundesgesundheitsamt zugelassenen
Indikation "Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms" bei gutartiger Prostatahyperplasie untersuchen. In einer Dosisfindungsstudie in der
Urologischen Poliklinik des Klinikums Rechts der Isar der TU München entwickelte sich bei einem 68jährigen Patienten unter der verwendeten
Höchstdosis von 3 x täglich 500 mg Flutamid eine beidseitige Gynäkomastie. Auch nach einem Jahr blieb diese irreversibel und belastet den
Betroffenen stark.
Der als Probanden-Versicherung haftende Gerling-Konzern bietet dem Geschädigten "nach den Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes Ersatz des
Körperschadens (d.h. Teilbehandlungskosten) und des daraus resultierenden Vermögensschadens (z.B. etwaiger Verdienstausfall)" an. "Einen
Anspruch auf Schmerzensgeld sieht das Gesetz allerdings nicht vor." Der Versicherer rät dem Patienten mit Schreiben vom 28. Jan. 1993: "Wir
empfehlen Ihnen, einen Urologen aufzusuchen und sich von ihm beraten zu lassen. Soweit die Krankenkasse diese Kosten nicht übernehmen sollte, werden
wir Ihnen diese erstatten."
Der Patient beklagt, er sei vor Versuchsbeginn nicht darüber aufgeklärt worden, "daß sich meine beiden Brüste nach Art einer weiblichen
Brust vergrößerten" (NETZWERK-Bericht 6303). Vor Versuchsbeginn war er schriftlich über Risiken von Flutamid in Form von
"Sensationen im Bereich der Brustwarzen" aufgeklärt worden, nicht jedoch darüber, daß Gynäkomastien schon seit Jahren als
häufige Anwendungsfolge (bis 9%) bekannt sind.1,2 Für die Wiedergutmachung in Form von Schmerzensgeld haftet deshalb mit hoher
Wahrscheinlichkeit der Prüfarzt, wenn der Patient wegen Behandlungsfehlers und unterlassener Risikoaufklärung klagt. Essex beendete die internationale
multizentrische Studie vorzeitig. Eine Zulassung für die Indikation benigne Prostatahyperplasie wird dem Vernehmen nach nicht angestrebt (siehe auch Seite
74).
Patienten werden zur Teilnahme an klinischen Studien oft mit dem Hinweis auf Probandenschutzpolicen gewonnen, die der Prüfarzt ausgibt. Dort heißt es:
"Mir ist bekannt, daß zu meinen Gunsten im gesetzlich vorgeschriebenen Umfang eine Schadensversicherung bei der Gerling AG, die für mich
kostenlos ist, abgeschlossen ist." Nach § 40 des Arzneimittelgesetzes (AMG) über den Schutz des Menschen bei der klinischen Prüfung
muß der Umfang der Versicherung "in einem angemessenen Verhältnis zu den mit der klinischen Prüfung verbundenen Risiken stehen, und
für den Fall des Todes oder der dauernden Erwerbsunfähigkeit mindestens 500.000 DM betragen". Ein Rentner hat nach diesen
Versicherungsbedingungen jedoch nur Anspruch auf Heilbehandlungskosten bzw. auf Erstattung der Beerdigungskosten, nicht aber auf immateriellen
Schadenersatz wie etwa Schmerzensgeld. Die Frage des Patienten, ob nicht ein Schmerzensgeldanspruch gegeben ist, da die Brustvergrößerung beim
Baden in öffentlichen Schwimmbädern eine erhebliche psychische Belastung bedeutet, kann demnach nur verneint werden. Schmerzlich für den
Betroffenen ist, daß nach Auskunft mehrerer Urologen eine Wiederherstellung nur durch operative Brustverkleinerung möglich ist. Wegen der damit
verbundenen Risiken lehnt der Flutamid-Geschädigte den Eingriff ab.
Die versäumte Aufklärung des Probanden und die rechtlichen Folgen der Behandlung mit Flutamid außerhalb der zugelassenen Krankheitsanzeige
gehen voll zu Lasten des Prüfarztes bzw. der Prüfklinik. Im Streitfall wird der Patient argumentieren können, daß er sich per
Einwilligungserklärung mit "Sensationen im Bereich der Brustwarzen" abgefunden habe, nicht aber mit der Verstümmelung seines Körpers.
Die Einwilligung in den Versuch ist in einem solchen Falle rechtlich nicht wirksam.
Daß solche Überlegungen erst nach Eintritt des Medikamentenschadens auftauchen, macht die Sache für alle Betroffenen schwierig. Prüfarzt
und Proband sollten die Leerformeln nach § 40 AMG und in der Probandenschutzversicherung kennen, d.h. über den Versicherungsumfang
aufgeklärt sein, bevor sie in die Durchführung oder Teilnahme an einer Studie einwilligen. Hersteller sollten künftig bei Abschluß von
Probandenversicherungen darauf achten, daß auch immaterieller Schadenersatz wie Schmerzensgeld im Versicherungsumfang enthalten ist. Das
Arzneimittelgesetz bedarf in dieser Hinsicht der Novellierung.
Wir bitten unsere Leser, Zwischenfälle mit ähnlichem Ausgang an das NETZWERK zu berichten.
1 | transparenz-telegramm 1990/91, Seite 868 |
2 | "Facts and Comparisons", J. B. Lippincott (St. Louis/USA), Okt. 1990, Seite
663b |
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