Der so genannte NMDA-Rezeptorantagonist Memantin (AXURA, EBIXA) soll seit August 2002 der Behandlung von Patienten mit mittelschwerer bis
schwerer ALZHEIMER-Krankheit dienen. Zuvor wurde er unter der Bezeichnung AKATINOL für den Einsatz bei spastischen Leiden, hirnorganischem
Psychosyndrom, PARKINSON-Krankheit bzw. leichten und mittelschweren Hirnleistungsstörungen vermarktet.
Die mit der Umbenennung verbundene drastische Preiserhöhung ist auf Unverständnis gestoßen (a-t 2002;
33: 86), ebenso die aufwändige Werbung: Im Juli ließ die Merz GmbH Ärzten rote Rosen per Zustellservice zukommen, aus dem - wie es im
Begleitschreiben1 heißt - "erfreulichen Anlass" der Umwidmung des Altproduktes.
EIGENSCHAFTEN: Memantin soll neuronale Funktionsstörungen bei der ALZHEIMER-Krankheit durch Blockade von zentralen N-
Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptoren, einer Untergruppe von Glutamat-bindenden Rezeptoren, günstig beeinflussen.
Memantin steht dem Amantadin (PK-MERZ u.a.) chemisch nahe, das NMDA-antagonistisch und vornehmlich als Dopamin-Agonist zentral erregend wirkt und bei
PARKINSON-Krankheit verwendet wird.
WIRKSAMKEIT: Die europäische Zulassung beruht im Wesentlichen auf zwei randomisierten, doppelblinden Phase-III-Studien.2 Die
wichtigste ist bisher nur als Abstract veröffentlicht.3 252 mindestens 50 Jahre alte Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Demenz wahrscheinlich
vom ALZHEIMER-Typ nehmen nach Randomisierung zweimal täglich 10 mg Memantin oder Plazebo ein. Die 28-wöchige Behandlungsphase vollenden
nur 181 Personen (72%). Die Aussagefähigkeit der Studie wird dadurch eingeschränkt. Von den 71 fehlenden Patienten geht aus dem Europäischen
Beurteilungsbericht lediglich hervor, dass etwa die Hälfte wegen unerwünschter Ereignisse ausgeschieden ist.2 Primäre
Wirksamkeitsparameter sind die Beurteilung des globalen klinischen Zustands durch behandelnde Ärzte (CIBIC*-plus) und die Einschätzung von
Alltagsfähigkeiten durch Pflegekräfte (modified ADCS-ADL* css inventory).
Bei Intention-to-treat-Analyse ergibt sich nach 28 Wochen in der Beurteilung durch die Ärzte kein signifikanter Unterschied. Nur wenn die vorzeitig
ausgeschiedenen Patienten unberücksichtigt bleiben, lässt sich eine signifikante Differenz von 0,36 Punkten3 zugunsten von Memantin auf einer
Ordinalskala von 7 Punkten (von 1 "ausgeprägte Verbesserung" bis 7 "ausgeprägte Verschlechterung") berechnen. Ausmaß
oder klinische Relevanz der unter Verum angeblich signifikant verbesserten Alltagsfähigkeit lassen sich anhand der vorliegenden Daten nicht beurteilen. Am
Ende haben sich Memantin- und Plazebogruppe in beiden primären Zielkriterien verschlechtert.
Die Werbeaussage "weniger Pflegeaufwand"1 lässt sich mit der Studie nicht begründen: Zwar wird in einem sekundären
Endpunkt die pro Patient aufzuwendende Pflegezeit untersucht. Ausgewertet werden aber nur diejenigen Patienten, die das Studienprotokoll bis zuletzt erfüllen
(Per-Protokoll-Analyse). Da somit 32% der ursprünglich randomisierten Patienten unberücksichtigt bleiben, beruht die Angabe von monatlich eingesparten
42 Stunden auf selektierten Daten ohne allgemeingültige Aussagekraft.
Die zweite Studie4 kann nicht für die Beurteilung herangezogen werden: Sie umfasst sowohl Patienten mit vaskulär bedingter Demenz als auch
ALZHEIMER-Kranke in jeweils geringer Zahl (87 bzw. 79 Patienten). Es wurde zudem nur mit der Hälfte der empfohlenen Dosis (10 mg statt 20 mg pro Tag) und
nur zwölf Wochen lang behandelt, ein für eine chronische Erkrankung zu kurzer Zeitraum. Die EMEA fordert für die Dauer von Phase-III-Studien bei
M. ALZHEIMER mindestens sechs Monate.5 Die vom Hersteller beigebrachten Daten zu Memantin bei vaskulärer Demenz - darunter zwei
sechsmonatige Phase-III-Studien - erachtet die Behörde insgesamt als "unzureichend".2
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Schwindel, Kopfschmerz, Halluzinationen (jeweils 5%), Erbrechen (3,7%) und Appetitlosigkeit (3,3%) kommen
häufig vor. Verwirrtheit und Müdigkeit werden bei etwa 1% der Demenz-Kranken dem Arzneimittel zugeschrieben.2
Zwei PARKINSON-Patienten, die Memantin und Amantadin einnehmen, entwickeln psychotische Symptome.6 Memantin soll daher nicht mit anderen
NMDA-Antagonisten kombiniert werden.2
In tierexperimentellen Studien werden Vakuolenbildung in Nervengewebe und Lunge sowie Augenveränderungen beobachtet.2 Die Unbedenklichkeit
dieser Befunde ist nicht belegt.
KOSTEN: Bei einer Tagesdosis von zweimal täglich 10 mg sind für Memantin (AXURA, EBIXA) monatlich 142 € aufzuwenden - etwa 8%
weniger als für den Cholinesterasehemmer Donepezil (ARICEPT; 10 mg pro Tag; monatlich 154 €), der für leichte bis mittelschwere ALZHEIMER-
Demenz zugelassen ist. Bis Juli 2002 war Memantin als AKATINOL mehr als 40% billiger (monatliche Kosten: 81 €).
Der NMDA-Antagonist Memantin (AXURA, EBIXA) wird zur Behandlung der
mittelschweren bis schweren Demenz vom ALZHEIMER-Typ angeboten. Ein auch nur geringfügig verzögernder Effekt auf die Progredienz der Demenz
wird durch die vorliegenden Daten nicht hinreichend belegt.
Langzeitstudien über mehrere Jahre und Vergleiche mit Cholinesterasehemmern
fehlen.
Die angebliche Minderung des Pflegeaufwandes erachten wir als Spekulation.
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