Die Mutter eines Fünfjährigen mit Enuresis nocturna fragt nach dem Sinn einer Desmopressin (MINIRIN)-Behandlung. Im
Kindergarten sind mehrere Kinder so medikamentiert. Ich finde keine Bewertung im a-t. Wie beurteilen Sie Nutzen und Risiken?
Dr. med. D. von DRIGALSKI (Fachärztin für Kinderheilk., Akup., Neuralth.)
D-22083 Hamburg
Interessenkonflikt: keiner
Enuresis nocturna, der unwillkürliche nächtliche Abgang von Harn ohne organische Ursache, betrifft 15% bis 20% der 5-jährigen, 5% der 10-
jährigen und 2% bis 3% der 12- bis 14-jährigen Kinder. Bei etwa 1% soll die Symptomatik auch nach dem 15. Lebensjahr bestehen bleiben.1
Unabhängig vom Alter wird jährlich jedes 6. bis 7. betroffene Kind trocken. Psychische Probleme werden eher als Folge denn als Ursache des
nächtlichen Einnässens beschrieben. Sie stehen jedoch bei sekundärer Enuresis nocturna - nächtlichem Einnässen, nachdem das Kind
bereits trocken war - im Vordergrund. Die Prävalenz ist bei Heimkindern besonders hoch.2
Ab welchem Alter eine Behandlung sinnvoll ist, wurde nicht in kontrollierten Studien untersucht. Vor dem 7. Lebensjahr erscheint jedoch Aufklärung und
Beruhigung angebracht.1 Therapeutisch werden neben Weckgeräten (Klingelhosen, Klingelmatratzen), abendlicher Einschränkung der
Flüssigkeitszufuhr und Belohnungssystemen auch Arzneimittel wie Antidepressiva verordnet. Insbesondere das synthetische Vasopressin-Analogon
Desmopressin (MINIRIN u.a.) wird offenbar häufig in dieser Indikation verschrieben und in Empfehlungen als Arzneimittel der ersten Wahl
genannt.2,3
Desmopressin hat im Gegensatz zum körpereigenen Vasopressin kaum Auswirkungen auf die Gefäßweite, jedoch eine stärkere antidiuretische
Wirkung und bewirkt daher eine deutlichere Wasserrückresorption aus dem Primärharn. Dies führt zu reduzierten Urinmengen, was therapeutisch bei
zentralem Diabetes insipidus und Enuresis nocturna ausgenutzt wird. Desmopressin ist in Deutschland sowohl intranasal als auch per os zur Behandlung der Enuresis
nocturna "im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes" oder bei "Indikation für eine medikamentöse Therapie" zugelassen.4
Zur Wirksamkeit von Desmopressin liegt eine ausführliche und ausgewogene Metaanalyse der Cochrane Collaboration vor, in die die Ergebnisse von
42 randomisierten kontrollierten Studien eingehen, darunter 16 Cross-over-Vergleiche.5 Die meisten Arbeiten wurden mit intranasaler Verabreichung
durchgeführt. Im Vergleich zu Plazebo reduzieren nach Auswertung von 25 Vergleichen 10 µg bis 60 µg Desmopressin intranasal die
Häufigkeit von nächtlichem Einnässen um durchschnittlich ein bis zwei Ereignisse - von vier bis fünf auf ungefähr drei Ereignisse - pro
Woche. Eine eindeutige Dosis-Wirkungsbeziehung ist nicht zu erkennen.
In 15 Studien wird zwei Wochen anhaltendes Trockenbleiben als Erfolgskriterium definiert. Desmopressin ist hieran gemessen statistisch grenzwertig besser als
Plazebo, steigert die relative Erfolgsrate insgesamt jedoch nur um 16% (relatives Risiko 0,84; 95% Konfidenzintervall 0,71-1,0; p = 0,05). Im Vergleich mit
Alarmsystemen (Klingelmatratze) scheint sich eine Besserung zwar früher einzustellen, langfristig bringt jedoch die Klingelmatratze bessere Resultate. Der
therapeutische Nutzen von Desmopressin ist ohnehin auf den Einnahmezeitraum beschränkt: Nach Absetzen gleicht sich die Zahl der nächtlichen
Episoden mit Einnässen unter Plazebo und Desmopressin an.5 Andere Langzeitstudien sind ohne Kontrollen durchgeführt worden und daher
ohne Aussagekraft.6 Ob das vom Hersteller empfohlene "Ausschleichen" des Mittels zu besseren Ergebnissen führt als rasches Absetzen, ist lediglich
in einer offenen unkontrollierten Anwendungsbeobachtung untersucht und daher nicht belegt.7,8
Eine deutliche Einschränkung der in der Metaanalyse berichteten Ergebnisse ist die von den Autoren monierte schlechte Qualität der überwiegend
kleinen, in der Regel weniger als 100 Patienten umfassenden Studien.
Eine zwar seltene, aber bedrohliche Schadwirkung von Desmopressin ist die Wasserintoxikation mit Hyponatriämie, die mit schweren Kopfschmerzen,
Übelkeit, Krampfanfällen und Bewusstseinsverlust einhergehen kann. In einer zusammenfassenden Darstellung werden 106 Kasuistiken mit
symptomatischer Wasserintoxikation und Hyponatriämie ausgewertet.9 Von 71 Betroffenen liegen genauere Daten vor: Ein Großteil der
Störwirkungen tritt zu Beginn der Behandlung auf, jüngere Kinder sind häufiger betroffen als ältere. Frühsymptome sind bei mehr als der
Hälfte der Betroffenen Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen. Dies erschwert die Steuerung der Behandlung, da Kopfschmerzen auch ohne
Wasserintoxikation häufig auftreten.4,5 Teilweise sollen große abendliche Trinkmengen mitverantwortlich für die Wasserintoxikation
gewesen sein. Bei jedem Vierten war die Flüssigkeitsaufnahme jedoch normal.9 Während der Einnahme von Desmopressin wird daher eine
drastische Beschränkung der abendlichen Trinkmenge auf 250 ml gefordert.2 Ein weiteres Risiko sind bewusste Überdosierungen in der
Hoffnung auf schnellere Linderung.10 Die Gefahr einer unkontrollierten Anwendung von Desmopressin ist nach Ansicht eines Experten "deutlich höher
als landläufig erwartet."11
Auch ohne klinische Symptomatik sind häufig laborchemische Veränderungen fassbar: Asymptomatische milde Hyponatriämie soll bei 1% bis 10% der
Behandelten auftreten.12
- Das synthetische Vasopressin-Analogon Desmopressin (MINIRIN u.a.) verringert nach Daten aus einer Metaanalyse nächtliches Einnässen
durchschnittlich von vier bis fünf auf etwa drei Ereignisse pro Woche. Die Analyse basiert jedoch auf überwiegend qualitativ schlechten Studien. Die
Therapie ist rein symptomatisch, der Nutzen auf den Einnahmezeitraum begrenzt.
- Eine seltene, aber potenziell lebensbedrohliche Störwirkung ist die Wasserintoxikation mit Hyponatriämie und Krampfanfällen.
- Auf Grund der unbefriedigenden Studienlage und der bedrohlichen Schadwirkung erachten wir - bei entsprechendem Leidensdruck - einen Therapieversuch mit
Desmopressin allenfalls als Option, wenn andere therapeutische Möglichkeiten ausgeschöpft wurden und ohne Erfolg bleiben, wie zum Beispiel
Alarmsysteme mit Klingelmatratzen. Kinder und Eltern müssen in die Therapieentscheidung einbezogen und über die Risiken ausführlich
aufgeklärt werden.
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