Personen mit Diabetes mellitus haben bei akuten schweren Erkrankungen eine besonders schlechte Prognose. Erhöhte Blutzuckerwerte in
Verbindung mit ausgeprägter Insulinresistenz sollen dabei ursächlich sein: Der Mangel an intrazellulärer Glukose führt zu einem steigenden
Verbrauch von Fettsäuren als Energieträger. Dieser sauerstoffabhängige Prozess kann jedoch zu einer Mangelsituation z.B. im Herzmuskel bei einem
Infarkt führen.
Der Nutzen einer strikten Blutzuckereinstellung mit Insulin bei akuten schweren Erkrankungen wurde erstmals in der DIGAMI*-Studie an 620 Diabetikern mit
Herzinfarkt untersucht.1 Glukose-Insulin-Infusionen mit Einstellung der Blutzuckerwerte zwischen 126 mg/dl und 180 mg/dl und fortgeführte
intensivierte Insulintherapie über mindestens drei Monate verringern demnach die Mortalität nach durchschnittlich 3,4 Jahren von 44% auf 33%. Allerdings
kann der Effekt in der nachfolgenden dreiarmigen DIGAMI-2-Studie nicht reproduziert werden.2 In ihr wird untersucht, ob die akuten Glukose-Insulin-
Infusionen oder die nachstationäre strenge Stoffwechselführung für den Nutzen verantwortlich sind. 1.200 Diabetiker mit Herzinfarkt erhalten in
DIGAMI-2 entweder Glukose-Insulin-Infusionen und nachfolgend eine langfristige intensivierte Insulinbehandlung, lediglich Glukose-Insulin-Infusionen oder eine
"konventionelle" Behandlung ohne strikte Stoffwechselkontrolle. Die Mortalität nach zwei Jahren unterscheidet sich in den drei Gruppen nicht signifikant
(intensivierte Behandlung: 23,4%, nur Insulin-Infusionen: 20,6%, konventionelle Therapie: 19,3%). Allerdings gelingt es nicht, die vorgegebenen Stoffwechselziele
einzuhalten. Blutzucker- und HbA1c-Werte unterscheiden sich im Verlauf zwischen den drei Gruppen kaum. Erhöhte Blutzuckerwerte sind auch in dieser Studie
ein Risikomarker für die Mortalität.
* DIGAMI = Diabetes mellitus insulin-glucose infusion in acute myocardial infarction
Da Hyperglykämie und Insulinresistenz auch bei Nichtdiabetikern mit schweren Erkrankungen auftreten und mit einer Zunahme von
Komplikationen einhergehen, wird eine postoperative intensivierte Insulinbehandlung bei mehr als 1.500 vorwiegend am Herzen operierten
Patienten in einer randomisierten offenen Einzentrumsstudie geprüft.3 87% der Teilnehmer sind Nichtdiabetiker. Die Mortalität sinkt während
des Aufenthalts auf der Intensivstation (primärer Endpunkt) unter intensivierter Therapie (Glukosezielwerte 80 bis 110 mg/dl) im Vergleich zu konventioneller
Behandlung (Insulingabe nur bei Blutzuckerwerten über 215 mg/dl) von 8,0% auf 4,6%. Es treten seltener Septikämien auf. Mehrere Schwächen der
Studie schränken jedoch die Übertragbarkeit ein: offenes Design, Durchführung in lediglich einem Zentrum und Verwendung eines umfangreichen,
nicht generell üblichen Infusionsregimes. Die Studie wird zudem nach einer Zwischenauswertung vorzeitig abgebrochen. In frühzeitig beendeten Studien
können positive Therapieeffekte jedoch deutlich überschätzt werden (a-t 2005; 36: 107-
8). Dennoch ist die Empfehlung zur strikten Stoffwechselkontrolle bei kritisch Kranken in Therapieempfehlungen eingeflossen4 und hat breiten Eingang
in die Praxis gefunden.5 Auch im a-t empfahlen wir die intensivierte Insulin-Behandlung zumindest bei herzchirurgischen Patienten (a-t 2001; 32: 115-6).
Mit identischem Design wiederholen nun dieselben Autoren die Studie bei 1.200 Patienten mit schweren internistischen Erkrankungen und einer
vermuteten Aufenthaltsdauer von mindestens drei Tagen auf der Intensivstation.6 Der primäre Endpunkt, die Sterblichkeit im Krankenhaus, wird jedoch
in der Gesamtgruppe durch straffe Blutzuckerkontrolle nicht signifikant beeinflusst (37,3% versus 40% bei den Kontrollen, p = 0,33). Zwar sinkt in der
prädefinierten Subgruppe der Patienten mit mindestens dreitägigem Aufenthalt auf der Intensivstation die Mortalität von 52,5% auf 43,0% (relatives
Risiko [RR] 0,84; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,73-0,97). Dieser von den Autoren hervorgehobene Nutzen kann jedoch durch die Art der Auswertung
vorgetäuscht sein ("Survivor effect"), denn umgekehrt steigt die frühe Mortalität innerhalb der ersten zwei Tage unter intensivierter Behandlung
numerisch von 19% auf 27% an. In die Berechnung der Daten ab dem dritten Tag gehen diese Todesfälle nicht ein.
Auch andere Ergebnisse lassen an einem allgemein gültigen Konzept der aggressiven Blutzuckersenkung bei kritisch Kranken zweifeln: Eine multizentrische
deutsche Studie mit 600 septischen Patienten vergleicht eine intensivierte Therapie (Blutzucker 80-110 mg/dl) mit konventioneller
Insulinbehandlung (Blutzucker 180-200 mg/dl).7 Ein Einfluss auf die Mortalität ist weder nach 28 Tagen (21,6% unter intensivierter Behandlung vs.
21,9% unter konventioneller Behandlung; p = 1,0) noch nach 90 Tagen (32,8% vs. 29,5%, p = 0,43) zu erkennen. Die Studie wird abgebrochen, da unter
intensivierter Behandlung Hypoglykämien, definiert als Blutzuckerwerte unter 40 mg/dl, deutlich zunehmen (12,1% vs. 2,1%). Unterzuckerungen sind in allen
Studien, sofern berichtet, unter intensivierter Behandlung häufiger und können insbesondere auf Intensivstationen mit weniger engmaschigem Glukose-
Monitoring schwere Folgeschäden verursachen.
Auch die Gabe von Glukose-Insulin-Kalium-Infusionen (GIK) ohne festgelegte Blutzuckerzielwerte scheint keinen Nutzen zu bringen: In der größten hierzu
durchgeführten Studie mit 20.200 Patienten mit ST-Hebungsinfarkt liegt die Mortalität nach 30 Tagen (primärer Endpunkt) in der Kontrollgruppe bei
9,7%, in der mit GIK behandelten Gruppe bei 10,0% (RR 1,03; 95% CI 0,95-1,13; a-t 2005; 36:
18).8 Diese Daten widersprechen Berechnungen aus einer älteren Metaanalyse9 mit kleinen methodisch schlechteren Studien.
- Hyperglykämie und Insulinresistenz gelten als Risikofaktoren für kritisch kranke Patienten mit und ohne Diabetes.
- Studiendaten zum Nutzen von Glukose-Insulin-Infusionen mit Kontrolle der Blutzuckerwerte bei kritisch Kranken sind widersprüchlich und erlauben derzeit
keine Empfehlung.
- Für Diabetiker mit Herzinfarkt wurde bisher nur in einer Studie mit Glukose-Insulin-Infusionen und vorsichtiger Blutzuckersenkung (Zielwerte 126 mg/dl bis
180 mg/dl) die Langzeitmortalität verringert. Eine Bestätigung steht aus.
- Die in einem einzelnen Studienzentrum erzielte Senkung der Mortalität bei chirurgischen Intensivpatienten lässt sich in weiteren Studien bei internistisch
schwer Erkrankten nicht reproduzieren.
- Die Patienten sind durch häufigere schwere Hypoglykämien gefährdet.
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