* Bewertung der Meningokokkenimpfung folgt. Seit Juli empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) die
Impfung gegen Pneumokokken mit dem Konjugatimpfstoff PREVENAR (a-t 2001; 32: 38-9) für
alle Kinder unter zwei Jahren. Die bisherige Strategie, die Empfehlung der Immunisierung für Säuglinge und Kleinkinder mit erhöhtem
Erkrankungsrisiko, habe weder zu einem allgemeinen Rückgang der Erkrankungen noch, mit Ausnahme der Frühgeborenen, zu einer Senkung der
Erkrankungshäufigkeit in den Risikogruppen geführt.1 Aufgrund der Erfahrungen in den USA, wo die Impfung seit 2000 generell empfohlen
wird,2 erhofft sich die STIKO von der Aufnahme der Immunisierung in das Standardimpfprogramm für Kinder eine beträchtliche Minderung
schwerer Erkrankungsverläufe mit bleibenden Gesundheitsschäden und von Todesfällen.1 Mehrere andere europäische Länder
wie Großbritannien oder die Niederlande empfehlen die generelle Impfung von Kindern mit PREVENAR jetzt ebenfalls.3,4
Nach dem deutlichen Rückgang invasiver Haemophilus-influenzae-Typ-b (Hib)-Erkrankungen seit Einführung des Hib-Konjugatimpfstoffs (in PENTAVAC
u.a.) ist Streptococcus pneumoniae heute einer der häufigsten Erreger invasiver bakterieller Erkrankungen einschließlich bakterieller
Hirnhautentzündungen bei Kindern.1,5 Von den 90 bekannten Pneumokokken-Serotypen, die anhand antigener Merkmale auf der Bakterienkapsel
unterschieden werden, verursachen 20 etwa 90% der Infektionen bei Menschen.1,6 Invasive Pneumokokkenerkrankungen betreffen vorwiegend Kinder
unter zwei Jahren. Einen weiteren Erkrankungsgipfel gibt es bei älteren Menschen. In allen Altersgruppen sind Pneumokokken die häufigsten bakteriellen
Erreger lokaler Infektionen wie Otitis media oder Pneumonie.1 Invasive Erkrankungen reichen von milden vorübergehenden Bakteriämien bis zu
Meningitis und Sepsis. 1997 bis 2000 wurden in Deutschland 1.743 stationär behandelte invasive Pneumokokkenerkrankungen einschließlich 741
Hirnhautentzündungen bei Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren erfasst. Soweit die Folgen bekannt sind, verlaufen 8% der Meningitiden und 2% der
übrigen Infektionen tödlich. Etwa 15% der Überlebenden tragen bleibende Schäden davon, in erster Linie Hörstörungen, aber auch
Anfallsleiden oder Lähmungen.6,7
NUTZENDOKUMENTATION: PREVENAR ist auf US-amerikanische epidemiologische Verhältnisse zugeschnitten. Der Impfstoff umfasst die
sieben Serotypen, die dort für etwa 80% der invasiven Pneumokokkenerkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern verantwortlich sind.8 Die
entscheidende Zulassungsstudie mit knapp 38.000 gesunden Säuglingen wurde in Kalifornien durchgeführt. Die Wirksamkeit der Impfung gegen invasive
Erkrankungen mit den im Impfstoff enthaltenen Serotypen beträgt bei Intention-to-treat-Analyse 93,9% (95% Vertrauensbereich [CI] 79,6%-98,5%; 3
erkrankte Kinder nach Pneumokokkenimpfung versus 49 in der Kontrollgruppe). Insgesamt (alle Serotypen) werden innerhalb von durchschnittlich etwa zwei
Jahren in der Interventionsgruppe 6 invasive Pneumokokkenerkrankungen erfasst, in der Kontrollgruppe 55. Daraus errechnet sich eine jährliche Inzidenz pro
100.000 von 16 bzw. 145 und eine Effektivität von 89,1% (95% CI 73,7%-95,8%; Number needed to treat [NNT] = 386). Von den betroffenen Kindern in der
Kontrollgruppe erkranken sechs an einer Meningitis, von denen eine tödlich verläuft, ein Kind verstirbt an einer Pneumokokkenpneumonie. Die
Abdeckung der Serotypen durch den Impfstoff ist in dieser Studie besonders hoch: 89% der invasiven Erkrankungen in der Kontrollgruppe werden durch die
Impfstoff-Serotypen verursacht.8,9 In einer zweiten kleineren und unter anderem durch vorzeitigen Abbruch unterpowerten amerikanischen Studie in
Indianerreservaten, in denen die Abdeckung durch die Serotypen im Impfstoff bei Kindern unter zwei Jahren nur etwa 50% beträgt, liegt auch die
Effektivität des Impfstoffes gegen die Gesamtzahl der invasiven Pneumokokkenerkrankungen nur bei 52,1% (95% CI -6,6% bis 78,5%).10
Randomisierte kontrollierte Studien zur Vorbeugung invasiver Pneumokokkenerkrankungen mit PREVENAR aus Europa, wo ein anderes Erregerspektrum als in den
USA vorherrscht, gibt es nicht.
UNERWÜNSCHTE EFFEKTE: Zu den häufigsten unerwünschten Wirkungen der Impfung gehören Lokalreaktionen, Fieber,
Appetitlosigkeit, Erbrechen und Durchfall.11 In der Spontanberichterfassung nach Markteinführung in den USA fallen außerdem allergische
Reaktionen einschließlich Urtikaria sowie Dyspnoe und als mögliche seltene schwerwiegende unerwünschte Effekte anaphylaktische Reaktionen,
Thrombozytopenie, Serumkrankheit und Krampfanfälle auf.12 Die Beurteilung wird dadurch erschwert, dass der Impfstoff meist mit anderen Vakzinen
zusammen verabreicht wird.
ERKRANKUNGSHÄUFIGKEIT NACH EINFÜHRUNG DES IMPFSTOFFES IN DEN USA: Der im randomisierten Vergleich dokumentierte Nutzen
des Konjugatimpfstoffs wird durch epidemiologische Daten gestützt. In verschiedenen US-amerikanischen Erhebungen wird nach Einführung der
Massenimpfung konsistent eine spezifische Senkung invasiver Pneumokokkenerkrankungen mit den im Impfstoff enthaltenen Serotypen beschrieben.2,13-
18 Dies lässt eine ursächliche Rolle des Impfstoffs vermuten. Da die Studien jedoch lediglich zeitliche Verläufe korrelieren (Impfung/Infektionen),
sind die Daten entsprechend vorsichtig zu interpretieren. Im Rahmen eines Surveillance-Programms in Regionen verschiedener US-amerikanischer Bundesstaaten
mit insgesamt 16 Millionen Einwohnern wird 2003 im Vergleich zu 1998/99 bei unter 5-Jährigen ein Rückgang invasiver Pneumokokkenerkrankungen mit
im Impfstoff enthaltenen Serotypen um 94% (95% CI 92%-96%) von 80 auf 4,6 pro 100.000 pro Jahr festgestellt. Bezogen auf alle Serotypen sinken die Erkrankungen
demnach um 75% (95% CI 72%-78%) von 97 auf 24 pro 100.000. Auch bei Älteren, also nicht Geimpften, ist ein Rückgang der Erkrankungsrate zu
verzeichnen, und zwar bezogen auf die im Impfstoff enthaltenen Serotypen um 62% (95% CI 59%-66%), bezogen auf alle Serotypen um 29% (95% CI 25%-33%),
wobei die größte absolute Minderung bei den über 65-Jährigen besteht. Für diesen Rückgang werden indirekte Effekte vermutet, die
auf die verminderte Besiedelung der Nasen-Rachen-Schleimhaut mit im Impfstoff enthaltenen Serotypen bei geimpften Kindern und dadurch verringerter
Übertragungswahrscheinlichkeit zurückgeführt werden.13 Dieser so genannte Herdeneffekt scheint aber bei den besonders
gefährdeten Gruppen, zum Beispiel HIV-infizierten Patienten, geringer zu sein als bei gesunden Älteren. Ihr Anteil an den Erkrankten hat entsprechend
zugenommen.14 Invasive Erkrankungen mit Penizillin- oder multiresistenten Stämmen haben nach Daten aus dem Surveillance-Programm 2004 im
Vergleich zu 1999 in allen Altersgruppen zusammen ebenfalls um jeweils mehr als 50% abgenommen.15 Auch die Sterblichkeit aufgrund invasiver
Pneumokokkenerkrankungen soll nach Einführung der Massenimpfung zurückgegangen sein.14,19
Eine sichere Prognose, dass durch die Impfung die Krankheitslast dauerhaft gesenkt wird, lässt sich jedoch nicht abgeben.20,21 Befürchtet
wurde und wird, dass durch den Selektionsdruck bei einer generellen Impfung invasive Erkrankungen mit nicht im Impfstoff enthaltenen Serotypen zunehmen
("replacement"). Eine solche Zunahme ist nach den Beobachtungsstudien in den USA auch zu verzeichnen. Bei bislang insgesamt deutlich positiver Bilanz geben
verschiedene Befunde zu Bedenken Anlass: Es wird sowohl ein Anstieg der Rate invasiver Erkrankungen mit nicht im Impfstoff enthaltenen Serotypen beobachtet,
als auch mit potenziell kreuzreagierenden Serotypen, die mit denen im Impfstoff eine Serogruppe teilen, insbesondere der zunehmend Penizillin-resistente
Serotyp 19A (im Impfstoff enthalten: 19F).13-18,21-24 Die Infektionen gehen mit relevanter Morbidität und Mortalität einher: So wird eine
Zunahme komplizierter Pneumonien mit parapneumonischen Empyemen beschrieben, zu deren häufigsten Erregern der nicht im Impfstoff enthaltene Serotyp 1
zählt.18,23 Bei Älteren scheint es einen Anstieg von Hirnhautentzündungen mit Pneumokokken zu geben, die der Impfstoff nicht
abdeckt.14 Auch bei der asymptomatischen Schleimhautbesiedelung von Kindern mit Pneumokokken ist das "Replacement" durch nicht im Impfstoff
enthaltene oder potenziell kreuzreagierende Serotypen zu beobachten.25,26 Es gibt zudem Bedenken, dass die Massenimpfung die Besiedelung und
Erkrankungsrate mit Staphylococcus aureus begünstigen könnte.27,28 In einer Studie zur Wirksamkeit von PREVENAR gegen Otitis media
nehmen bei geimpften Kindern Mittelohrentzündungen mit Staphylococcus aureus in der Kultur zu.29 Einhellig wird in der Literatur betont, dass die durch eine
Massenimpfung ausgelösten epidemiologischen Veränderungen sorgfältig überwacht werden müssen.
ÜBERTRAGBARKEIT AUF DEUTSCHLAND? Epidemiologische Daten zu Pneumokokkenerkrankungen in Deutschland sind sehr lückenhaft.
Die STIKO stützt ihre Empfehlungen hauptsächlich auf eine im Rahmen der ESPED** zwischen 1997 und Mitte 2003 durchgeführte Erhebung
stationär behandelter invasiver Pneumokokkeninfektionen bei Kindern und Jugendlichen. Nach den veröffentlichten Ergebnissen der ersten zwei bzw.
vier Jahre dieser Erhebung wird die jährliche Inzidenz bei unter Zweijährigen auf 16 pro 100.000 geschätzt. In Deutschland werden demnach
deutlich weniger Erkrankungen durch die sieben Serotypen des Impfstoffs verursacht als in den USA. Zu den drei häufigsten Erregern gehört der nicht im
Impfstoff enthaltene Serotyp 1, zu den zehn häufigsten der Serotyp 19A.6,7 Dass auch die Inzidenz insgesamt geringer ist, scheint zumindest zum Teil
durch unterschiedliche diagnostische Routinen mit häufigeren Blutkulturen in den USA bedingt zu sein.30
** ESPED = Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland; http://www.esped.uni-duesseldorf.de
Die neueren Ergebnisse der Erhebung sind überwiegend nicht öffentlich zugänglich und somit nicht beurteilbar. In ihrer
Empfehlungsbegründung1 geht die STIKO offensichtlich von einer zu hohen Abdeckung der Serotypen durch den Impfstoff in der Zielgruppe der
Impfempfehlung, den unter Zweijährigen, aus. Sie beträgt nach einer uns auf Nachfrage überlassenen Tabelle,31 in der alle im
Studienzeitraum erfassten invasiven Pneumokokkeninfektionen aufgeführt sind, 65% und nicht, wie von der STIKO angegeben, 72%. Die Kommission
lässt zudem unerwähnt, dass der Serotyp nur bei weniger als der Hälfte der erfassten Erkrankungen überhaupt bestimmt wurde.6,7,31
Wie repräsentativ dieser Anteil ist, wie zuverlässig sich somit die Serogruppenverteilung bei invasiven Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in
Deutschland einschätzen lässt, bleibt offen. Jenseits des Kindes- und Jugendalters gibt es gar keine entsprechenden Daten.1
Die STIKO rechnet bei Einführung der Massenimpfung und Durchimpfungsrate von 80% mit einer Senkung invasiver Pneumokokkenerkrankungen bei
unter Zweijährigen um 53%.1 Eine konkrete Prognose zur Rate schwerer und tödlicher Verläufe gibt die Kommission nicht. Nimmt man an, dass auch
diese halbiert würde, hieße das, dass auf der Basis der Häufigkeitsangaben der STIKO*** jährlich sieben Pneumokokken-bedingte
Todesfälle und 15 bleibende Folgeschäden bei unter 2-Jährigen verhindert würden. Wie realistisch die Vorhersage der STIKO ist, lässt
sich jedoch aufgrund der Mängel und Intransparenz der zugrundeliegenden epidemiologischen Daten nicht hinreichend beurteilen.
*** Die Häufigkeitsangaben - pro Jahr bei unter Zweijährigen 14 Todesfälle und 29 Folgeschäden - stellen wahrscheinlich
Schätzungen einschließlich einer Dunkelziffer wegen Untererfassung dar.
Ein relevantes Serotypen-"Replacement" durch den Selektionsdruck bei Massenimpfung mit dem 7-fach-Impfstoff wird besonders für Regionen
befürchtet, in denen schon zuvor in hohem Prozentsatz Nicht-Impfstoff-Serotypen zirkulieren.18,32 Es ist auch aus diesem Grund unklar, welchen
Vorhersagewert die US-amerikanischen epidemiologischen Daten für die hiesige Entwicklung haben. In Deutschland fehlt derzeit zudem ein adäquates
Surveillance-System zur Überwachung der neuen Impfstrategie.
KOSTEN: Zehn Fertigspritzen mit dem Pneumokokken-Konjugatimpfstoff PREVENAR kosten 629,97 €, eine vollständige Immunisierung mit vier
Dosierungen 252 €. Die bisherigen Impfkosten pro Kind von rund 250 € steigen durch PREVENAR auf das Doppelte, wenn man eine vollständige
Immunisierung mit Fünffach- (gegen DTPHiB-Polio) plus Dreifach- (gegen MMR) Impfstoff und Packungen mit jeweils 10 Spritzen zugrunde legt. Bei erweiterter
Immunisierung mit Sechs- und Vierfachimpfstoffen, die zusätzlich Hepatitis-B- und Varizellen-Komponenten enthalten, steigen die Impfkosten von bisher 422
€ um 60% auf 674 €. Bei Durchimpfung eines Jahrgangs mit 700.000 Kindern betragen die Impfstoffkosten für PREVENAR 176 Mio. €.
- Wie auch andere europäische Behörden empfiehlt die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut (STIKO)
jetzt die generelle Impfung aller Säuglinge mit dem Pneumokokken-Konjugatimpfstoff PREVENAR.
- Der Impfstoff wirkt in einem randomisierten kontrollierten Vergleich in den USA zuverlässig gegen invasive Erkrankungen mit den in der Vakzine enthaltenen
sieben Serotypen. Die Serotypenabdeckung in der Studienpopulation ist hoch. Entsprechende Nutzenbelege aus Europa, wo die im Impfstoff enthaltenen Serotypen
weniger häufig vorkommen, fehlen.
- Epidemiologische Daten aus den USA weisen bisher auf eine deutliche Senkung invasiver Pneumokokkenerkrankungen infolge der dortigen Einführung der
Massenimmunisierung von Kindern mit dem Impfstoff hin, die auch ältere nicht geimpfte Menschen betrifft.
- Bei bislang positiver Bilanz wird in den USA jedoch auch ein Anstieg von Infektionen mit nicht im Impfstoff enthaltenen Serotypen bzw. potenziell
kreuzreagierenden Serotypen beobachtet.
- Die STIKO rechnet bei einer Durchimpfungsrate von 80% mit einer Senkung invasiver Pneumokokkenerkrankungen bei unter Zweijährigen um 53%. Sollte
sich dies auch auf schwere und tödliche Verläufe beziehen, würden bei Impfstoffkosten von mindestens 140 Mio. € im günstigsten Fall pro
Jahr sieben Todesfälle und 15 Folgeschäden in dieser Altersgruppe verhindert.
- Publizierte Daten zur epidemiologischen Situation von Pneumokokkenerkrankungen in Deutschland sind unzureichend. Soweit beurteilbar, ist auch die bisherige
Erfassung lückenhaft. Ob die von der STIKO erwartete Reduktion der Erkrankungsrate realistisch ist, lässt sich daher nicht beurteilen.
- Auch eventuelle negative Folgen der neuen Impfstrategie können in Deutschland derzeit nicht adäquat überwacht werden. Wieso die letzten
Jahre nicht genutzt wurden, ein geeignetes Surveillance-System einzurichten bzw. das bestehende zu optimieren, um sowohl die Basis für eine Entscheidung
pro oder contra Impfstoff verbessern als auch die auf eine Massenimpfung folgenden Entwicklungen kontrollieren zu können, ist nicht nachvollziehbar.
- Auf der Basis der lückenhaften publizierten epidemiologischen Daten, der ungeklärten langfristigen Folgen und der immensen Kosten halten wir die
Empfehlung einer generellen Impfung aller Säuglinge mit PREVENAR derzeit für unzureichend abgesichert.
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